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PIZARRO IST KEIN BARON SCARPIA

Niemand ist vollkommen, selbst Bösewichte nicht. Hätte beispielsweise der eine oder andere dieser weltmachthungrigen Erzverbrecher nicht so lange zugewartet und den gefangenen James Bond augenblicklich – nach dem Motto sicher ist sicher – ein für alle Mal den Garaus gemacht, nun, die Welt sähe heute vermutlich anders aus. Aber wir, die Zuschauer, wissen mit beruhigender Gewissheit: Die besagten Bösewichte folgen wie Lemminge stets dem gleichen dramaturgischen Muster und zögern die Ermordung der Titelfigur so lange hinaus, bis dieser freikommt und sie selbst dran glauben müssen. Und das, obwohl sie anhand der vielen vorangegangenen ähnlichen Situationen längst hätten erkennen müssen, wie empfehlenswert es doch wäre, die Gelegenheit beim Schopf zu packen.

Schon Jahrhunderte vor James Bond hat sich etwa Don Pizarro durch eine ähnlich scheinbar unbedachte Art und Weise zumindest eine – folgt man der ersten Fassung von Fidelio – lebenslange Kerkerstrafe, wenn nicht gar die Todesstrafe erzögert. Über zwei Jahre hätte er Zeit gehabt, seine Rache zu kühlen, über zwei Jahre dem Widersacher Florestan sein »Triumph, Triumph der Sieg ist mein« entgegenzuschleudern. Aber nein: Erst der bewusste Brief des unbekannten Komplizen mit dem, allen Opernfreunden hinlänglich bekannten, Hinweis »der Minister reist morgen ab, um Sie mit einer Untersuchung zu überraschen«, stachelt Pizarro auf, das hinausgeschobene Mordvorhaben tatsächlich anzugehen. Letztlich, da viel zu spät, vergeblich, wie man weiß. Ganz klar ist übrigens auch nicht, warum er Rocco und den vermeintlichen Fidelio in die Sache hineinzieht, warum er »es ohne Roccos Hilfe nicht ausführen kann«. Fürchtet Pizarro, der Minister würde die unverscharrte Leiche finden? Doch was wäre mit den Leichen des Grab schaufelnden Kerkermeisters und seines Gehilfen geschehen –denn Pizarros (gelegentlich gestrichener) beiseite gesprochener Satz »Die muss ich mir heute noch beide vom Hals schaffen, damit alles auf immer im Dunkeln bleibt« ist unmissverständlich genug. Kaum anzunehmen, dass Marzelline gegenüber dem Minister im Falle des Auftauchens der Leiche (oder des physischen Verschwindens) ihres Vaters ruhig geblieben wäre. Es bleiben aber auch andere Fragen: Warum soll Florestan »vom Stein losgeschlossen werden«, an dem er mit seiner Kette festgemacht war, ehe Pizarro darangeht, ihn zu erstechen? Wohlgemerkt: Die lange Kette um den Leib des Gefangenen soll auf Anweisung Pizarros hingegen nicht abgenommen werden. Was ändern denn bitteschön solche Details am geplanten Mord? Florestan hätte sich, geschwächt wie er war, ohnehin weder am Stein angeschlossen noch »losgeschlossen« zur Wehr setzen können. Seltsam mutet außerdem die Tatsache an, dass Pizarro sein verhasstes Opfer über zwei Jahre im Unklaren darüber ließ, in wessen Hand, in wessen Gefängnis dieser sich überhaupt befindet. (Dass Pizarro die Ursache von Florestans Leiden ist, steht für Letzteren sowieso fest – wie aus dem Satz »Wahrheit wagt ich kühn zu sagen, und die Ketten sind mein Lohn« hervorgeht.) Ein waschechter Sadist wäre wohl jeden Tag mindestens zweimal in den Kerker hinunterspaziert, um seinen unterlegenen Feind in irgendeiner Form zu demütigen, zu ängstigen. Pizarro hingegen dreht zwar offenbar regelmäßig an der Daumenschraube, indem er Florestans Essensrationen ständig verkleinert, aber seine greifbare Präsenz als Gefängnisgouverneur wird dem Minister-Freund nicht preisgegeben oder erst im allerletzten Moment. Am liebsten wäre es Pizarro ja gewesen, wenn Rocco die Sache selbst für ihn erledigt – auf die dienstfertige Frage des Schließers, was dieser denn für die angekündigte und nicht unbedeutende Gehaltsaufbesserung zu tun hätte, lautete ja die kurze Antwort bekanntlich – »morden!«. Erst Roccos diesbezügliche Weigerung zwingt Pizarro dazu, »vermummt in den Kerker zu schleichen.« Ein Schreibtischtäter also, der sich die Hände nicht schmutzig machen möchte? Freut ihn bereits die bloße Tatsache, seinen Widersacher möglichst lange quälen zu können? Sein im Duett mit Rocco textlich oft nicht klar verständlicher Hinweis »zu kurz war seine Pein« deutet zumindest darauf hin, dass Pizarro gerne noch ein wenig zugewartet hätte mit dem »ein Stoß, und er verstummt«. Ohne die Ankündigung der ministerlichen Inspektion hätte Pizarro im Grunde sogar sein siegreiches Überlegenheitsgehabe Florestan gegenüber aufs Spiel gesetzt – um den Zustand seines Gegners stand es laut Roccos früher getätigtem Hinweis schon recht bedenklich –, nur um die Dauer der Qual des Inhaftierten zu verlängern. Sein mit aufgesetztem Sinn für theatrale Dramatik gewürztes »Sieh her... Pizarro, den du fürchten solltest, steht nun als Rächer hier« bei gleichzeitiger Selbstdemaskierung (Pizarro entblößt sein bis dahin verdeckt gehaltenes Gesicht, indem er den Mantel aufschlägt) soll offenbar die ungewollte Peinverkürzung aufwiegen. (Anders wäre der Umstand der oben erwähnten Vermummung gar nicht zu erklären.) Wahrscheinlich aber empfindet Pizarro gar keine Freude am immer unmenschlicheren Dahinvegetieren Florestans, sondern bloße Rachedurstbefriedigung, Vergeltungssucht für ein vermeintlich ihm gegenüber begangenes Unrecht. Beethovens Bösewicht mangelt die diabolisch-dämonische Facette eines puccinischen Scarpia oder des shakespeare-verdischen Jago, aber auch der meisten James-Bond-Bösewichten. In Pizarros Gefühlsrepertoire ist kein Platz für eine maliziöse Delektion am Katz-und-Maus-Spiel. Er ist einfach ein Verbrecher, der denjenigen, der seine kriminellen Machenschaften aufdeckt, beseitigt – und zwar, nach seinem Verständnis, strafend beseitigt. Wahrscheinlich ist Pizarro nicht einmal besonders klug, schon gar nicht handelt er strategisch. Auf jeden Fall stellt er als antithetische Figur zum Idealpaar Florestan-Leonore beziehungsweise zum Minister eher ein Prinzip dar als das Abbild eines real möglichen Bösewichts. Insofern unterscheidet sich sein »Scheitern« von jenem der Bond-Bösewichte nicht im Ergebnis, aber ursächlich. Folglich kommt es auch zu keinem showdownhaften Zweikampf zwischen ihm und Florestan, sondern zwischen ihm und dem »Engel« Leonore.

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