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POLITIK UND LIEBE
Eine »Austrian Coronation« war angekündigt. Nicht als monarchischer Akt, sondern als republikanisches Ereignis. Gefeiert werden sollte der im Mai 1955 abgeschlossene »Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreichs«. So der offizielle Titel jenes Dokuments, das zehn Jahre nach Kriegsende dem Land die Freiheit bestätigte, also auch den Abzug der Besatzungsmächte verkündete.
Die Eröffnung der wieder aufgebauten Wiener Staatsoper im November 1955 sollte dieses politische Ereignis »krönen«, meinte damals Bundestheaterchef Ernst Marboe, auch in Erwartung der ausländischen Diplomatie. Als Eröffnungsvorstellung war Mozarts Don Giovanni zur Diskussion gestanden, denn mit diesem Stück hatte man 1869 die neu erbaute Hofoper eingeweiht. Aber Staatsoperndirektor Karl Böhm hatte für Beethovens Fidelio plädiert und das erwies sich zu dem Zeitpunkt angesichts der aktuellen Ereignisse als richtige Wahl.
Denn Fidelio ist auch ein politisches Stück. Darin wollte Beethoven die Idee von Freiheit und Brüderlichkeit verkünden, nicht nur das Ideal der Gattenliebe. Dieser politische Aspekt ist bis heute aktuell. (So findet sich beispielsweise im Entwurf des Koalitionsvertrags von CDU und SPD nach den deutschen Wahlen 2013 ein Passus, dass der 2020 bevorstehende 250. Geburtstag Beethovens eine »nationale Aufgabe« sei.)
In Wien war im November 1955 noch ein medialer Effekt hinzugekommen: Die Wiedereröffnung der Staatsoper war als erste große Livesendung des erst seit August versuchsweise aktivierten Österreichischen Fernsehens vorgesehen. Man holte dafür den österreichischen Journalisten Heinz Fischer-Karwin, der zuvor seine Erfahrungen in London und Paris gesammelt hatte und als Radio- und Wochenschau-Moderator der Staatsvertragsunterzeichnung schon damals in der Öffentlichkeit zum »Starreporter« avanciert war. Jetzt kommentierte er also mit markanter Stimme die Operneröffnung. Es gab zwar nur wenige Fernsehapparate, aber Interessierte und Neugierige wussten, welche öffentlichen Lokale sich den Luxus dieser Anschaffung bereits geleistet hatten. Als 25-jähriger Kulturjournalist war ich bei dieser »Austrian Coronation« dabei. Frack, Smoking, Abendkleid schienen eine Selbstverständlichkeit. Der Auftritt der politischen und kulturellen Prominenz des In- und Auslandes war ein gesellschaftliches Ereignis, gab den zahlreichen Zaungästen das Gefühl, nahe der »großen Welt« zu sein, und schürte maximale Erwartungen, die naturgemäß nicht eingelöst werden konnten. Denn die Spannung im Zuschauerraum und in den Nebenräumen der Oper, die wieder zugänglich gewordenen Kunstwerke an Wänden und in Nischen, die Pracht der Feststiege – all das imponierte mehr als eine insgesamt schöne Fidelio-Vorstellung.
Warum mich ein anderer Fidelio zehn Jahre zuvor stärker beeindruckt hatte? Weil die »Festvorstellung zur Eröffnung des Hauses« im Theater an der Wien am 6. Oktober 1945, also fünf Monate nach Kriegsende, für uns ein Signal war, dass wir die Nazi-Zeit, die Vernichtung von Menschen, wirklich überstanden hatten. Es gab bei dieser Aufführung keine Abendkleider, eher russische Uniformen im Zuschauerraum, wir alle hatten Hunger und wussten, dass wir nachher durch eine Trümmerlandschaft würden heimgehen müssen. Aber wir erlebten das Fidelio-Finale so intensiv wie kaum jemals in späteren Jahrzehnten. Dieses Finale war für uns damals kein politisches, sondern ein menschliches Manifest, und ich denke, Beethoven wäre mit dieser Wirkung mehr als zufrieden gewesen. Er wurde ab diesem Oktobertag des Jahres 1945 in Wien endlich nicht mehr missbraucht. Wie etwa sieben Jahre zuvor.
Am 9. Februar 1938 hatte die letzte Fidelio-Aufführung an der Staatsoper stattgefunden vor dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich. Auf dem Theaterzettel war korrekt vermerkt: Inszenierung, Regie und Spielleitung Lothar Wallerstein. Die nächste Aufführung von Beethovens Werk am 27. März 1938 war eine »Festvorstellung aus Anlass der Anwesenheit des Ministerpräsidenten Generalfeldmarschall Hermann Göring«, wie der Theaterzettel kundtat. Der Jude Wallerstein war auf diesem nicht mehr genannt, sondern als Spielleiter ein Herr Stefan Beinl.
Fidelio frei zum Missbrauch für jede politische Ideologie. Diese mögliche Verfälschung seiner humanistischen Idee ist Beethoven nicht erspart geblieben.