7 minute read

FIDELIO UND DIE POLITIK

Wie nur sehr wenige andere Musiktheaterwerke ist Beethovens Fidelio heute nicht nur von der Aura des Politischen umgeben, sondern auch von ihr radikal gezeichnet. Dies in einem weitaus stärkeren Maße, als zur Zeit der Uraufführung 1805, einer Epoche, die immerhin von größten politisch- und gesellschaftlich-tektonischen Bewegungen bestimmt war: Damals schien das Politische in dieser Oper nur sehr nachgereiht aufgefallen zu sein. –Nun mag zwar einer einwenden, dass ein Eingriff durch die Zensur vor der Uraufführung durchaus auf einen wahrgenommenen politischen Gehalt des Werks rückschließen lasse – doch war die Zensur so allgegenwärtig, dass es gar keines besonderen politisch-brenzligen Grundes bedurfte, um sie auf den Plan zu rufen. Abgesehen davon waren die Eingriffe (wenn überhaupt vorhanden) von geringem Ausmaß, eine umfassende Umschreibung einzelner Teile war offenbar nicht von Nöten.

Diese entsprechende Aufladung der Oper bringt, nicht zwangsläufig, aber naheliegenderweise, die Frage nach dem Politischen des Autors auf. Hier muss man freilich, 250 Jahre nach dessen Geburt, behutsam sein. Denn viele Be- und Überschreibungen der Persönlichkeit Beethovens haben zu einer verstärkt-plakativen Verbildlichung seines Charakters geführt, Begriffe wie »einsam«, »Titan«, »Revolutionär«, aber auch »erster freier Musiker« etc. wurden und werden in den Raum gestellt, ohne diese auf ihre tatsächliche Relevanz zu überprüfen. Vom Komponisten selbst sind freilich keine umfangreichen weltanschaulichen oder gesellschaftspolitischen Schriften überliefert, und in Verbindung mit seinen nicht immer eindeutigen Haltungen und wechselhaften Sympathiebekundungen führt dies zu einer mitunter spekulativen Einschätzung von Beethovens Ansichten.

Sozialisiert wurde der im katholischen Umfeld Geborene jedenfalls in einem aufgeklärten Milieu: Das Wirken der Kurfürsten seiner Bonner Zeit, Maximilian Friedrich und Maximilian Franz, zeichnete sich durch tiefgreifende soziale und politische Reformen aus; dazu kam, dass der große philosophische Geistesraum, den Immanuel Kant evozierte, für einen Komponisten wie Beethoven über viele Wege zu erfahren war – und erfahren wurde. Auch eine direkte Parteinahme für Schiller und dessen Werk ist einfach nachweisbar, ebenso konnte Beethoven sich, wie viele Intellektuelle seiner Zeit, dem umstürzlerischen Charme der Französischen Revolution nicht entziehen. Weniger dominierend ist seine Anbindung an Geheimbünde wie die Illuminati oder Freimaurer, deren Mitglied er niemals wurde. Seine große Vertrautheit mit Kreisen der (Wiener) Aristokratie strapazierte er mitunter durch berühmt-harsche Einwürfe, die jedoch mehr dem autonomen Künstlertum geschuldet waren als einem generellen gesellschaftlichen Egalitätsdenken. In gleichem Maße bespielte Beethoven die Klaviatur der lukrativen Widmungen an hohe Persönlichkeiten, die – letztlich – das wirtschaftliche und gesellschaftliche Auskommen des Komponisten sicherten. Es war also eine ausbalancierte und wechselseitige Inanspruchnahme des gegenseitigen Entgegenkommens, das das Beziehungsgefüge auszeichnete. So oder so: Zahlreiche Briefe und persönliche Anmerkungen Beethovens verweisen auf einen, die Freiheit intensiv propagierenden, Künstler, und gerade im Fidelio von 1805 vertonte er in der Gold-Arie des Rocco einen geradezu revolutionären, kapitalismuskritischen Text, der in der Fassung 1814 so nicht mehr vorkommt.

Über Beethovens wechselnde Sympathie für Napoleon ist schon vieles geschrieben worden, und alleine die Tatsache, diesem im Jahr 1803 in Österreich eine Symphonie widmen zu wollen, deutet zumindest auf eine gewisse Portion Mut hin; gleichzeitig war Beethoven ein Komponist, der sich zu patriotischen Hauruck-Werken und Kriegslärm hinreißen ließ – das Kriegslied der Österreicher mit dem Textbeginn »Ein großes deutsches Volk sind wir / Sind mächtig und gerecht. / Ihr Franken das bezweifelt ihr? / Ihr Franken kennt uns schlecht!« widerspricht dem geistig hehren Humanisten. Auch das profane Schlachtengemälde Wellingtons Sieg mag das an Schiller geschulte, dem Erhabenen und der Freiheit verpflichtete Freidenkerbild ebenso trüben wie die bekannten Verachtungsausrufe Beethovens in Bezug auf die Gleichheit und Brüderlichkeit, wenn es um Personen eines von ihm so empfundenen »niedrigeren« Standes ging.

Davon unberührt freilich Fidelio als die große Revolutions- und Freiheitsoper: Bekannt ist, dass die Rezensionen der Uraufführungs-Zeit recht unfreundlich klangen. Interessant ist, dass es dabei um das Musikalische und die textliche Qualität, nicht aber um den Inhalt ging. Wobei man anmerken muss, dass die dargebrachte Befreiungshandlung der Oper an sich allgemein recht bekannt war und immer wieder, in unterschiedlichen Variationen, in den Spielplänen auftauchte: So erklang fast zeitgleich im Theater an der Wien eine Oper in sehr ähnlicher Bauart (Die Festung an der Elbe von Anton Fischer) – nur dass es diesmal nicht die Ehefrau, sondern die Tochter war, die rettend eingriff.

1904, als Gustav Mahler mit dem Ausstatter Alfred Roller Fidelio als eine seiner zentralen Reforminszenierungen herausbrachte, war ein Wendepunkt der Inszenierungsgeschichte erreicht. Doch abgesehen von der genau ausdifferenzierten Regie fand – im Bereich der Rezeption zeitgleich eine weltanschauliche Zuschreibung statt. Max Kalbeck, einer der zentralen und prominenten Musikschriftsteller seiner Zeit, skizziert den Anspruch dieser Oper als gesellschaftspolitisches Schlüsselwerk – auch religiöser Prägung: »Mit Beethoven tritt Gott nur darum [als deus ex machina] aus der Wolke hervor, weil er von Anfang an dahinterstand. Er ist allgegenwärtig und wir fühlen seine Nähe, wenn sein Sendbote in Gestalt Leonorens unter die kleinen Menschen tritt, um sie aus ihrer armseligen Dumpfheit zu erwecken, die dunkle Erdenmacht ihrer Gefängnisse mit seinem Glanze zu erhellen, die Macht der frechen Gewalthaber, die in seinem Namen freveln, zu zerschmettern, die Unschuld zu retten und die im Elende der Sklaverei schmachtenden Völker zur Freiheit emporzuführen.«

Als nächste wichtige Etappe das Jahr 1927, die Hundertjahrfeier von Beethovens Geburtstag: Im Wiener Musikverein erklang, vor zahlreichen europäischen Politikern unterschiedlichster Ausrichtung, ein Festkonzert, die Wiener Staatsoper brachte eine Neuproduktion des Fidelio, die Franz Schalk dirigierte und Lothar Wallerstein inszenierte, heraus. Die vielfach aufgesplitterte politische Landschaft wird auch in den Kommentaren zum Jubiläum greifbar: In der Neuen Freien Presse schreibt der französische Justizminister Louis Barthou unter dem Titel Völkerversöhnung als Gedenkfeier für Beethoven über ihn als »Gott der Musik«, in dessen Werk man »jeden Ausdruck einer neuen Menschlichkeit« finden könne. In der Zeitung Arbeiterwille wird das Bild eines atheistischen Sozialrevolutionärs, der in die adeligen Salons tritt »wie ein Löwe in den Schafstall« gezeichnet, in Die rote Fahne liest man: »Man hat oft den Fidelio als Hohelied der Gattenliebe genannt. Mit einer solchen Bezeichnung trifft man jedoch nur eine Seite des Inhalts. Die andere zeigt uns den Kampf gegen Tyrannei und Despotenwillkür und das ist der eigentliche Inhalt dieser einzigen Oper Beethovens«. Die christlichsoziale Reichspost hingegen: »Was für Beethoven eben die Grundvoraussetzung alles musikalischen Schaffens war, das war einzig und ausschließlich das religiöse und sittliche Ethos, das sittliche Erleben und Besserwerden durch das Arbeiten an dem Werke, und deshalb musste für ihn auch schon der gewählte Stoff als solcher selbst ein sittlich und religiös durchaus erhabener sein. Im Fidelio, dem hohen Liede auf die hingebungsvolle, keusche, reine, von der Religion geheiligte und gebilligte Gattenliebe war dies der Fall«. Die politischen Trennlinien waren, bei aller verbindenden Feierlichkeit, auch in puncto Rezeption scharf gezogen.

Am 12. September 1933 wurde unter Clemens Krauss eine »Festvorstellung anlässlich der 250-jährigen Türkenbefreiungsfeier« gegeben – mit Beethovens Fidelio. Etwa fünf Jahre später, unmittelbar nach dem sogenannten »Anschluss«, wurden auch in Österreich Beethoven zum »deutschen« Künstler und Fidelio zur nationalsozialistischen Oper missbraucht, und das – ebenso zynisch – im Verbund mit dem Freiheitsdenken Schillers: »Und dann der Tell, dieses eigentliche Nationalschauspiel unseres Volkes, dem im Bereiche der Oper, was völkisches Ethos anlangt, der Fidelio von Beethoven und die Meistersinger von Wagner entsprechen. Und wenn in der Schlussszene des Tell – wie in der Schlussszene des Fidelio – die Freiheit auf der Bühne ihre Banner entfaltet, so ist Schiller in diesem Taumel der ewige Dichter seines Volkes«, so das nationalsozialistische Neue Wiener Tagblatt wenige Tage nach dem sogenannten »Anschluss«. Augenblicklich wird die Freiheitsoper im Sinne der bestehenden NS-Ideologie umgedeutet, gleichzeitig lässt man den Regisseur Lothar Wallerstein vom Abendzettel verschwinden. Zum Besuch Görings am 27. März 1938 in der Staatsoper spielt man Fidelio, und im redaktionellen Gleichschritt wird die Oper in den Zeitungen als nationalsozialistisches Befreiungswerk missbraucht. »Fidelio, das Hohelied der Gattenliebe, Treue und des heldenhaften, siegreichen Kampfes gegen Unrecht, Vergewaltigung und Unterdrückung war in weiser Voraussicht gewählt worden, um der beglückenden Tatsache der Befreiung Österreichs das künstlerische Symbol gegenüberzustellen«, so das NS-Organ Völkischer Beobachter . Und mit Pizarro assoziiert der Rezensent Kurt Schuschnigg. Nach der Premiere am 9. Februar 1939 wird in Berichten die »absolute Treue zum Geiste Beethovens« beschworen: unausgesprochen aber präsent hier die Kritik an Gustav Mahlers freier musikalischer Interpretation – und Regisseur Erich von Wymetal nahm diesmal auch die durch Mahler/Roller eingeführte Trennung des 1. Bildes in zwei Schauplätze – ein Zimmer und den Gefängnishof – zurück. Die Bedeutung des Fidelio für das NS-Regime zeigt sich auch daran, dass schon drei Jahre darauf wieder eine Premiere stattfand, diesmal unter Wilhelm Furtwängler. In Summe erklang Fidelio in den Jahren des NS-Regimes häufiger als in den Jahren zuvor.

Nach der Befreiung Österreichs spielte man am 6. Oktober 1945, zur Wiederöffnung des Theaters an der Wien (als Spielstätte der Wiener Staatsoper) erneut Fidelio: »Die Festvorstellung fünf Monate nach Kriegsende war für uns ein Signal, dass wir die Nazi-Zeit, die Vernichtung von Menschen, wirklich überstanden hatten. Es gab bei dieser Aufführung keine Abendkleider, eher russische Uniformen im Zuschauerraum, wir alle hatten Hunger und wussten, dass wir nachher durch eine Trümmerlandschaft würden heimgehen müssen. Aber wir erlebten das Fidelio-Finale so intensiv wie kaum jemals in späteren Jahrzehnten. Dieses Finale war für uns damals kein politisches, sondern ein menschliches Manifest, und ich denke, Beethoven wäre mit dieser Wirkung mehr als zufrieden gewesen«, schrieb der

Zeitzeuge Karl Löbl. Die Freiheitsoper hatte ihre tatsächliche Bedeutung wiedererhalten – was auch in den Zeitungen thematisiert wurde: »Heute können wir sagen: Jawohl, diese Freiheitsklänge, sie haben ewige Bedeutung und ewige Geltung und gelten auch für den heutigen Tag. Wir scheuen uns nicht, dieses edelste Manifest der Freiheitsgesinnung in Beziehung zu bringen mit dem Zeitgeschehen. Beethoven hat den Sang der Freiheit auch für uns gesungen, die wir aus dem Joch der schmählichsten Versklavung endlich an die Pforte einer neuen Zeit gelangten, und wir empfinden es als stolze und erhebende Beglückung, dass wir in den Freiheitschor heute als freies Volk mit einstimmen dürfen«, schrieb das Neue Österreich. Und im Neuen Kurier erinnerte man sich zurück: »Als der Fidelio vor drei Jahren in der Staatsoper neuinszeniert erschien – in einer sehr guten Aufführung –, da hätte man trotz aller Kunst am liebsten sein Antlitz vor Scham verhüllt, denn dieses Verdikt für einen des Denkens Verdächtigen: ›Ein Stoß – und er verstummt‹ gab es nicht in der Oper allein, sondern in der Wirklichkeit des Dritten Reiches, und diese Gefangenen waren nicht Phantasien, sondern lebten, waren Fleisch und Blut. Und indem man zuhörte und zuschaute, fühlte man sich fast mitschuldig an der Verlogenheit, die eine Fidelio-Aufführung in Hitler-Europa bedeutete.«

Schatten der Vergangenheit blieben: Den Fidelio zur Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper am 5. November 1955 dirigierte Karl Böhm, der letzte Staatsoperndirektor in der Nazi-Zeit und absurderweise der erste der wiedereröffneten Staatsoper, ein Dirigent, der mehr als nur ein Mitläufer gewesen war; Hans Tietjen, der Regisseur der Galapremiere, war politisch ebenso stark belastet. Dass man gerade diesen Künstlern das Freiheitswerk, dessen Aufführung 1955 als Symbol für das wiedererstandene Österreich gesehen wurde, in die Hand gab, ist mehr als nur Unachtsamkeit. Es zeigt, auf wie viele Arten die musikgewordene Idee der Freiheit missbraucht werden kann: durch Tun, aber auch Schweigen – und Verschweigen.

Karl Löbl

This article is from: