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MUTMASSUNGEN ÜBER FLORESTAN
»Wahrheit wagt’ ich kühn zu sagen, und die Ketten sind mein Lohn« : In einem Verlies, in das der Sonne Licht nicht dringt, ein Eisenband um den Leib, angeschmiedet an einen Stein, so schmachtet Florestan schon über zwei Jahre.
Welche »Wahrheit« brachte Florestan in den Kerker? Wo hat er was vor wessen Ohren geäußert? Das Libretto gibt über die Vorgeschichte des Fidelio nur vage Auskunft. Pizarro, der Florestan als eines von »mehreren Opfern willkürlicher Gewalt in Ketten liegen hat«, spricht von einem Versuch seines Gefangenen, ihn »vor dem Minister zu enthüllen und seiner Gunst zu entziehen«; aber was dieser Streiter für die Wahrheit enthüllen wollte, verschweigt der Gouverneur bei seinem Selbstgespräch im Gefängnishof. Im tiefen Gewölbe löst Rachevorfreude seine Zunge: »Noch einmal ruf ich Dir, was Du getan, zurück...« – aber da wirft sich Leonore zwischen Florestan und den gezückten Dolch, und wir verharren in Ungewissheit, was der nun Gerettete an Verhängnisvollem getan hat.
Weitschweifiger als die endgültige Form von 1814 sind im Musikalischen wie im Dialog die Fidelio-Fassungen von 1805/1806; da lüftet sich auch der Schleier über die Vorgeschichte um ein paar weitere Zentimeter. Nachdem Rocco dem Drängen Florestans nachgegeben und den Namen des Gouverneurs genannt hat, erkennt der Gepeinigte die Zusammenhänge: »O, nun erstaun’ ich nicht mehr, dass ich diese Marter zu leiden verdammt bin. Er ist’s, dessen Verbrechen, dessen Missbrauch der Gewalt ich zu entdecken wagte.« In diesen Erstfassungen des Fidelio hielt sich Joseph Sonnleithner enger als später Georg Friedrich Treitschke, 1814, an die französische Vorlage, an das Libretto Léonore ou L’Amour conjugal, das Jean-Nicolas Bouilly für den Komponisten Pierre Gaveaux 1798 verfasst hatte. Auch dort spricht Florestan von »L’abus d’autorité«, ohne Details aufzuführen, wie Pizarro seine Macht missbrauchte. Man darf mutmaßen, dass es sich nicht um eine Unterschla- gung von fünf Sous aus der Gefängnisverproviantierungskasse gehandelt haben wird; eine Bagatelle hätte Pizarro wohl kaum zu einem Mordversuch an Florestan getrieben. Gewalt ist zu allen Zeiten missbraucht worden. Aber um 1798 war ein französisches Publikum besonders sensibel, mit »L’abus d’autorité« assoziierte es Schreckensexzesse der jüngsten Vergangenheit. Die vorrevolutionäre Strafrechtsordnung Frankreichs stellte der herrschenden Schicht einen Freibrief für – nach heutigem Rechtsempfinden geradezu aberwitzige – Willkür aus; die verschiedenen Gerichtskompetenzen waren chaotisch, der Richterstand korrupt, das Strafmaß drakonisch. Nach der Erstürmung der Bastille sah die Nationalversammlung eine ihrer vornehmsten Aufgaben in einer Strafrechtsreform. Im August 1789 verabschiedete sie die Menschen- und Bürgerrechtserklärung, schon vier Wochen später legte das »Comité de legislative criminelle« einen Entwurf für den Strafprozess vor, binnen zweier Jahre entstand der »Code penal«. Dem Ancien Régime war der Gedanke »L’abus d’autorité« fremd, es hätte sich ja selbst infrage gestellt. Vor diesem Krebsübel jedes Gemeinwesens versuchte der »Code penal« die Bürger zu bewahren. Der im Falle Florestan relevante Tatbestand der Freiheitsberaubung und Inhaftierung ohne vorangegangenes Urteil findet sich im Abschnitt »Crimes contre la sûreté interieure de l’Etat«: Die Freiheit des Individuums wurde als integraler Bestandteil der Verfassung betrachtet. Wer ohne gesetzliche Ermächtigung Verhaftungsbefehle erteilte, hatte sechs Jahre Stockhaus (»la gêne«) zu erwarten, ebenso der Gefängniswärter, der eine illegal festgenommene Person eingesperrt hielt. Ob Rocco »Befehlsnotstand« erfolgreich geltend machen könnte? Die deutsche Nachkriegsrechtssprechung ist mit den Handlangern der Naziverbrecher äußerst glimpflich verfahren.
Als Schauplatz des Fidelio gibt das Libretto ein »Spanisches Staatsgefängnis, einige Meilen von Sevilla entfernt« an, als Zeit das 18. Jahrhundert. Natürlich hat der »Code penal« im fernen Andalusien keine Wirksamkeit entfaltet; aber wir wissen ja aus den Memoiren des Librettisten Jean-Nicolas Bouilly, dass Fidelio auf eine wahre Begebenheit während der letzten Revolutionsmonate 1793/1794 zurückgeht und Bouilly nur aus Rücksicht auf die noch lebenden Beteiligten die Handlung nach Spanien verlegte. Fragen bleiben offen: Wie war es möglich, dass ein Beamter – Pizarro ist es als Gouverneur des Gefängnisses – einen Bürger aus der sozialen Gemeinschaft entführen und in einer öffentlichen Strafanstalt verwahren lassen konnte? Auch das Strafvollzugsverfahren war nach 1798 reformiert und den Gefangenen mancher Schutz eingeräumt worden. So erfahren wir von Rocco, dass Pizarro allmonatlich in Sevilla Rapport über alles erstatten muss, »was hier in dem Staatsgefängnis vorfällt«. Auch wird in Sevilla eine Liste mit den Namen der Inhaftierten geführt, wahrscheinlich hat sie der persönliche Referent dem Herrn Minister für seine Überraschungsvisite mitgegeben. In der Erstfassung des Fidelio wird die Ingewahrsamnahme Florestans sogar juristisch »abgesichert«: Der in Ketten Liegende vertraut Rocco in seiner Not an »Pizarro ist’s, der einen höheren Befehl zu erschleichen wusste, um mich in diese Wohnung des Todes zu stürzen...« – falls diese Behauptung Florestans stimmt, wäre das sonst so dickfellig-opportunistische Verhalten Roccos entschuldigt; die Nachprüfung eines Verhaftungsbefehls wird man von ihm nicht verlangen können. Pizarro hat eine beachtliche kriminelle Energie eingesetzt, um Florestan unschädlich zu machen. Der Schutz der persönlichen Freiheit (»Liberté individuelle«) war eine der wesentlichen Errungenschaften der Revolution nach einer Epoche, in der sich der Monarch das »Droit de glaive«, die absolute, richterlich nicht überprüfbare Macht über Leben und Tod, angemaßt hatte. Mit einem Haftbefehl, den berüchtigten »Lettres de cachet«, konnte er jede missliebige Person ins Gefängnis werfen lassen. Die Verfassung von 1791 normierte den Grundsatz, dass eine Verhaftung nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen und Formen stattfinden dürfe; freilich wurde diese Freiheit schmählich verletzt in der Herrschaft des Convents, zumal Artikel 46 der Verfassung von 1793 den »Wohlfahrtsausschuss« ermächtigt hatte, bei Verschwörungen gegen den Staat Verdächtige verhaften zu lassen. Unschwer mag sich Pizarro im Zenit der Tyrannei solch ein Papier verschafft haben, indem er Florestan als »Feind des Vaterlandes« verdächtigte, darauf spielt er ja auch gegenüber dem zögernden Rocco an: »Dem Staate liegt daran, den bösen Untertan schnell aus dem Weg zu räumen.«
Wir neigen dazu, in der Oper einerseits Geschehnisse als seltsam, unglaubwürdig anzusehen, nur weil sie uns heutzutage als Realität nicht mehr vorstellbar sind; andererseits nehmen wir Unverständliches in Kauf, nur weil es sich in der Oper ereignet. Dass Leonore nicht den der Familie befreundeten Minister aufsuchte, um an allerhöchstem Orte eine Vermisstenanzeige aufzugeben, scheint uns nur unter Opernaspekten begreiflich. Die Oper hätte vielleicht gar nicht stattgefunden. Auch nehmen wir es als Opernfatum hin, dass nicht einmal Marzelline das weibliche Herz erkennt, welches unter dem Lederwams Fidelios schlägt.
Aber das Schicksal Florestans ist so unglaubwürdig nicht. 1794/95 herrschte mit uneingeschränkter Machtvollkommenheit der Wohlfahrtsausschuss; in Paris wurden unter den Girondisten ohne Verfahren wahre Massaker veranstaltet, gegen Aufständische in den südlichen Departements wüteten die Sansculotten, in die Vendée fiel Carrier wie ein reißender Wolf ein – und gerade in dieser heimgesuchten Landschaft finden wir die Urbilder von Florestan und Leonore. Bei dieser Welle von Gewalt, die 1793/94 das Land überrollte, mag manch einer wie Pizarro versucht haben, seine Privatrache auszutoben. Um nicht im Spiel der Mächtigen unter die Räder zu kommen, haben sich zu allen Zeiten Mitläufer wie Rocco gefunden, die das Schreckensregime einiger weniger erst ermöglichten. Auch in unserer Zeit können wir uns nicht gefeit dünken gegen die Willkür des Staates und seiner »Staatsdiener«. Florestans Schicksal hat sich millionenfach wiederholt in unserer Zeit. Die Leonoren sind selten wie eh und je.
Andreas Láng