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Beethovens Fidelio

als Mythos und Provokation

Woher rührt die ungebrochene Faszination von Ludwig van Beethovens einziger Oper? Unsere Zeit, so möchte man glauben, müsste doch längst über dieses Rühr- und Schauerstück, über diese nur wenig glaubwürdige Verkleidungs- und Befreiungsgeschichte einigermaßen hinaus sein. Der Stoff, aus dem Beethovens Fidelio gewebt ist, stammt ja weniger aus dem Fundus der großen emotionalen Konflikte und Ekstasen, als vielmehr aus den Versatzstücken der Kolportage: Unschuldig im Kerker, durch die Liebe einer selbstlosen Frau gerettet, durch die Gnade eines humanen Fürsten befreit. Alle Versuche, diese etwas unglaubwürdige und plakative Geschichte durch den Verweis auf Beethovens Musik zu retten, sind dann auch nicht wirklich überzeugend. Sie vermögen die Aura nicht ganz zu erklären, die diese Oper bis heute umgibt. Diese gründet schon auch in einer Geschichte, deren Ambivalenz gleichermaßen rührt wie irritiert: eine Freiheitsoper, in der Wahrheitsliebe und Gattenliebe triumphieren können, weil ein gütiges Fürstenauge im entscheidenden Moment nach dem Rechten sieht.

Vor aller Dramatik zeichnet das Libretto die Brüchigkeit einer bürgerlichen Idylle am Rande des Abgrunds. Immerhin befinden wir uns im Hof eines Staatsgefängnisses, nur wenige Schritte von einem unterirdischen, dunklen Verlies entfernt. Das Liebesgeplänkel zwischen Marzelline und Jaquino evoziert vorerst nicht mehr als einen naiv werbenden jungen Mann und ein zurückhaltendes Mädchen. Was dem Rollenklischee zu entsprechen scheint, erweist sich allerdings schon bald als Variante jener tragikomischen Konstellation, die Heinrich Heine unnachahmlich auf den Punkt bringen wird: »Ein Jüngling liebt ein Mädchen,/Die hat einen Andern erwählt.« Der Andere, das ist Fidelio, die als Mann verkleidete Leonore. Mit ihr bricht ein Prinzip in diese Welt, das alles infrage stellt, was dort gilt: Gehorsam, das kleine Glück und das Geld. Nein, Fidelio, der neue junge Gehilfe des Kerkermeisters Rocco, arbeitet nicht nur um des materiellen Lohnes willen, und Rocco, der meint, in sein Herz blicken zu können, wittert dort ein ganz anderes Begehren, und liegt damit so falsch wie auch richtig: Aber nicht Roccos Tochter gilt das Begehren des Gehilfen, sondern dem verschollenen Gatten; auf jeden Fall aber strebt Fidelio nicht nach jenem Gold, das der Vater sofort als die entscheidende Bedingung besingt, ohne die es auch kein bürgerliches Liebesglück geben kann: »Das Glück dient wie ein Knecht für Sold,/Es ist ein mächtig Ding, das Gold.«

Die verkleidete Leonore stellt die auf ökomischen Nutzen und auf rationales Kalkül basierende bürgerliche Lebensform radikal infrage. Die Liebe rangiert für sie höher als das Geld und sie fordert von Rocco, auf dessen Angebot sie vordergründig eingeht, vor allem eines: Vertrauen. Allerdings, um es – aus der Perspektive Roccos – zu missbrauchen. Mit wenigen Sätzen werden hier die rationalen Grundsätze einer bürgerlichen Misstrauensgesellschaft, die alles einem unbarmherzigen Effizienzdenken unterwirft, außer Kraft gesetzt. Rocco ist zu gutmütig, als dass er dem Werben Fidelios um Vertrauen widerstreben könnte. Auch an ihm vollzieht sich die täglich zu beobachtende kleine Tragödie des bürgerlichen Subjekts: Vertrauensseligkeit im falschen Moment, geboren aus der Sehnsucht nach Anerkennung. Niemand hält es auf Dauer aus, nur als homo oeconomicus zu existieren. Über allem aber spannt sich das Missverständnis als eine Kraft, die eine falsche Harmonie suggeriert: Alle singen die gleichen Worte, aber jeder versteht darunter etwas anderes.

Rocco verkörpert wie kein zweiter in dieser Oper das bürgerliche Lebensprinzip. Er denkt an sein Geld, ist stets auf seinen Vorteil bedacht, aber nicht wirklich böse. Auch wenn es ihn reich machen würde: Morden will er nicht. Aber er würde den Mord geschehen lassen, fungiert als Helfer, tröstet sich mit jenen Worten, mit denen Mitläufer aller Art sich immer trösten: »Verhungernd in den Ketten Ertrug er lange Pein, / Ihn töten, heißt ihn retten, / Der Dolch wird ihn befrein.«

Rocco leistet keinen Widerstand, auch wenn er das Unrechtmäßige der von Pizarro geplanten Tat spürt. Aber er versichert sich der Unterstützung seines Gehilfen Fidelio, möchte die Verantwortung teilen, gräbt mit ihm das Grab für Florestan, und beide synchronisieren sich mit einem Vers, der wiederum von jedem ganz anders verstanden wird: »So säumen wir nun länger nicht,/ Wir folgen unsrer strengen Pflicht«. Als sich das Blatt wendet, wechselt Rocco dann auch sofort die Seiten.

Mit dem Pflichtbegriff eröffnet sich allerdings die bis heute vielleicht spannendste Dimension von Beethovens Oper, die Frage nach dem, was es heißt, aus moralischer Integrität zu handeln. Der Begriff der Pflicht bekommt eine nahezu leitmotivische Funktion. Rocco glaubt, dass es seine »strenge« Pflicht sei, seinem Vorgesetzten Pizarro bei dessen finsteren Plänen zumindest nicht im Wege zu stehen; Leonore ist überzeugt davon, dass es ihre Pflicht sei, alles zu tun und auf sich zu nehmen, um zu jenem Gefangenen vorzudringen, in dem sie ihren Gatten vermutet; Florestan wiederum wurde eingekerkert, weil er es wagte, aufrichtig die Wahrheit zu sagen; dass er damit seine Pflicht als Bürger erfüllt hat, ist ihm in der Verlassenheit, Stille und Dunkelheit des Kerkers dann auch sein einziger Trost: »Wahrheit wagt ich kühn zu sagen,/Und die Ketten sind mein Lohn./Willig duld’ ich alle Schmerzen,/Ende schmählich meine Bahn;/Süßer Trost in meinem Herzen:/ Meine Pflicht hab’ ich getan!«

Seit Immanuel Kant im Jahre 1785 seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten veröffentlicht hatte, galt Handeln aus Pflicht als Inbegriff des Guten und der Sittlichkeit. Kant meinte allerdings mit Pflicht nicht die Orientierung an äußerlichen Vorgaben – so sahen es Rocco und mit ihm viele, die »nur« ihre Pflicht getan haben wollten –, sondern die Selbstverpflichtung des Menschen auf die Gebote der Vernunft. Florestan, wir dürfen es vermuten, ist Kantianer gewesen, zumal das Gebot, die Wahrheit zu sagen – genauer: stets wahrhaftig zu sein – auch für Kant das prominenteste Beispiel für ein Han- deln aus Pflicht darstellte. Allerdings: Das Handeln aus Pflicht, aus Achtung vor dem Sittengesetz, steht bei Kant in strenger Opposition zu einem Handeln aus Neigung, zu einer Tat, die von einem Gefühl, einer Leidenschaft motiviert wird. Kants Zeitgenossen, wie etwa Friedrich Schiller, haben sich dann auch an dieser Strenge gestoßen, die Handlungen, die »nur« aus Liebe und nicht nach den Prinzipien der praktischen Vernunft geschehen, für moralisch bedeutungslos erklärt. Schiller und andere – vielleicht auch Beethoven und seine Librettisten? – suchten nach Möglichkeiten, Pflicht und Neigung, Gefühl und Vernunft zu vereinen. Leonore stellt dann auch eine Verkörperung dieser Einheit von Emotion und Moral dar. Sie ist bestimmt von Liebe, einem inneren Impuls, einer Neigung, und fasst diese doch als Pflicht und Verpflichtung auf: »Ich folg’ dem innern Triebe,/Ich wanke nicht,/Mich stärkt die Pflicht/ Der treuen Gattenliebe!« Sie weiß – und dies fasziniert und irritiert an dieser Figur bis heute –, dass das Gefühl allein, und sei es das reinste und edelste, den Belastungen von Krisensituationen nicht gewachsen ist. Das Gemüt ist immer schwankend. Um in solchen Situationen fest zu bleiben, bedarf es der Stützung, der Stärkung durch einen Impuls, der es erlaubt, die Liebe selbst gleichsam in die Pflicht zu nehmen.

Wie weit aber darf solch ein Impuls gehen? Wann stößt die individuelle Leidenschaft an die Grenze einer allgemeinen Moral? Leonores Liebe und der Wille, den Geliebten aufzuspüren, zu sehen, wenn möglich zu befreien, lässt sie ein durchaus frivoles Spiel treiben. Leonore ist eine Frau, die sich als Mann verkleidet und als Mann von einer anderen Frau geliebt wird und diese Liebe in Kauf nimmt, um ihr Ziel zu verfolgen. In dieser Situation ist sie nicht wahrhaftig, sondern bereit, den falschen Schein, die Unaufrichtigkeit bis fast in die letzte Konsequenz fortzusetzen. Heiligt der Zweck hier die Mittel? Dass Marzelline in der Regel als emotional eher flaches Gemüt aufgefasst wird, das keine Probleme damit hat, von Jaquino zu Fidelio und nach dessen Enttarnung wieder zurück zu Jaquino zu wechseln, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Leonore gezwungen ist, mit den Gefühlen anderer Menschen zu spielen, um ihren eigenen Gefühlen treu bleiben zu können – und sie weiß dies auch: »Ich gab die Hand zum süßen Band,/Es kostet bittre Tränen.« Das Oszillieren zwischen den Geschlechtern, das lange als unglaubwürdig und schwierig zu inszenieren galt, liest sich überdies anders in einer Zeit, in der Geschlechterrollen ihre scharfen Konturen und klaren Zuschreibungen verlieren. Leonore/Fidelio kann der Gegenwart als durchaus plausible sexuelle Doppelidentität erscheinen, allerdings mit den damit verbundenen Verstrickungen und Verwirrungen der Gefühle. Es gehört dann auch zu den zumindest nur vordergründig als befreiend empfundenen Momenten dieser Oper, dass diese Doppelidentität aufgelöst und in die Eindeutigkeit der zu jedem Opfer bereiten liebenden Frau überführt wird: »Töt’ erst sein Weib!«

Fidelio galt und gilt als Apotheose nicht nur der Liebe, sondern auch, vielleicht vor allem, der Freiheit. Die politischen Konnotationen von Auffüh- rungen des Fidelio waren im Laufe der Geschichte dann auch stets unübersehbar. Florestan im Kerker – das ist das Bild des politischen Gefangenen, das Bild von Unfreiheit schlechthin: »Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!/Öd’ ist es um mich her. Nichts lebet außer mir.« Was genau zu dieser Gefangenschaft geführt hat, bleibt zwar unscharf – möglich, dass Florestan Ungerechtigkeiten und Machtmissbrauch angeprangert hatte, vielleicht plante er auch einen Umsturz, gar die Ermordung Pizarros? Immerhin will sich dieser an Florestan rächen und gibt im Vorgefühl dieser Rache vielleicht auch ein Geheimnis preis: »Nun ist es mir geworden,/Den Mörder selbst zu morden.« War Florestan gar ein – Attentäter, ein Terrorist? Die verwickelte Entstehungsgeschichte des Librettos, die sich bis auf ein historisches Vorbild aus den Zeiten der Schreckensherrschaft der Französischen Revolution zurückverfolgen lässt, macht das Freiheitspathos der Oper noch einmal komplizierter: Eine adelige Dame, die als Bäuerin verkleidet, ihren Mann, einen konterrevolutionären Grafen, vor dem Anschlag eines in Ungnade gefallenen radikalen Jakobiners mit Hilfe eines Abgesandten Robespierres retten kann – ist das der Stoff, aus dem die Freiheitsträume sind? Auch wenn die Umdeutung und Verlagerung dieses Stoffes in ein royales Spanien dem Stück einiges an Schärfe nehmen konnten – eine Konstellation, die bis heute das Pathos dieser Oper grundiert, ist geblieben: dass die Erlösung von oben kommt. Aber darauf verlassen sollte man sich nie.

Im Grunde schien ja alles schon verloren. Pizarro will zuerst Florestan ermorden, dann seine Mitwisser Rocco und Fidelio zum Schweigen bringen. Dass sich Fidelio zu erkennen gibt und als Leonore schützend vor ihren Gatten stellt, hätte den Gouverneur nicht bremsen müssen. Er dringt dann auch weiter auf seinen Gefangenen ein und wird einzig durch die Pistole gestoppt, die ihm Leonore plötzlich entgegenhält: »Noch einen Laut – und du bist tot!« Erst jetzt ertönen die erlösenden Fanfaren vom Turm. Der Minister erscheint, und nun schlägt für Leonore und Florestan die Stunde der Freiheit, der Liebe und – der Rache: »Es schlägt der Rache Stunde!/Du sollst gerettet sein.« Noch einmal finden sich hier ein archaisches Gefühl und ein modernes Vernunftprinzip, unmittelbare Leidenschaft und abstrakte Moralität in einem Atemzug genannt – Rache und Gerechtigkeit: »Bestrafet sei der Bösewicht,/Der Unschuld unterdrückt./Gerechtigkeit hält zum Gericht/Der Rache Schwert gezückt.« Und vielleicht gehört auch das zum Sehnsuchtsbild, das Beethovens Fidelio bis heute evoziert: dass die staatliche Gerechtigkeit auch die privaten Rachegelüste befriedigen möge.

Trotz Leonores Mut wird die Freiheit in letzter Instanz von oben gewährt. Sie ist kein Recht, sondern eine Gnade. Don Fernando lässt daran keinen Zweifel: »Des besten Königs Wink und Wille/Führt mich zu euch, ihr Armen, her... Tyrannenstrenge sei mir fern./Es sucht der Bruder seine Brüder,/Und kann er helfen, hilft er gern.« Daraus spricht nicht der Geist revolutionärer Freiheit und sozialer Brüderlichkeit, sondern ein paternalistischer Gestus, der es den Gefangenen freundlich gestattet, sich zu erheben und nicht länger mehr »sklavisch« auf den Knien zu liegen. Nicht die selbst erkämpfte, nur die von oben gewährte Freiheit könnte so als ein Motiv dieser Oper genannt werden. Wohl muss für diese Freiheit etwas, im Ernstfall das Leben, gewagt werden – aber der Freiheitswille allein kann die Freiheit nicht durchsetzen. Dass Beethovens Oper letztlich dann doch als Verklärung der Gattenliebe endet, als Hohelied, das alles übertönt, hat so seine Folgerichtigkeit. Und vielleicht liegt auch darin ein besonderer Reiz des Mythos Fidelio. Die Oper befriedigt zwei gleichermaßen unstillbare wie unerfüllbare Sehnsüchte des modernen Menschen – die nach Erlösung und nach Liebe. Es sind dies aber Sehnsüchte, die über eine bürgerliche Welt, in der auch Emotionen wie Kapital behandelt und gewinnträchtig investiert werden sollen und Freiheit fast nur noch als Handelsfreiheit verstanden wird, weit hinausweisen.

Der Reiz, vielleicht aber auch die Provokation von Beethovens Fidelio bestehen bis heute in solcher Ambivalenz. Ja, es ist die große Oper der Freiheit und der Brüderlichkeit, der Gattenliebe, der Treue, der Opferbereitschaft und der rächenden und strafenden Gerechtigkeit. Aber diese Demonstration der bürgerlichen Tugenden wird allemal getrübt durch die Umstände: dass es ohne Täuschung und Härten nicht geht in dieser Welt und dass wir wider alle Vernunft immer auf jene erlösenden Trompeten warten, deren Fanfaren Ordnung und Glück für eine Welt verkünden, die soeben noch aus den Fugen zu geraten schien. Ob Freiheit und Liebe am Ende tatsächlich triumphieren, oder ob diese Oper einen unstillbare Traum des Menschen in einen über-irdischen Jubel- und Freudenschrei transzendiert, der nicht für diese Welt gedacht sein kann – diese Frage macht bis heute Fidelio zu einem Mythos im Wortsinn: zu einer tönenden Erzählung von dem, was es heißen könnte, als Mensch menschlich, über alle Abgründe hinweg, zu leben.

Im 21. Kapitel seines Romans I Promessi Sposi erzählt Alessandro Manzoni von einer eigenartigen Begegnung. Ein adeliger Verbrecher, er wird im Buch immer nur der Namenlose genannt, so unfassbar ist diese Gestalt, die ihre Geschäfte mit erbarmungsloser Rücksichtslosigkeit betreibt – dieser Namenlose hat Lucia auf sein Schloss entführen lassen. Lucia ist die Braut von Renzo. Diese beiden sind jene Verlobten, die dem Roman den Namen geben. Der Namenlose kommt in den Raum, in welchem Lucia festgehalten wird. Sie geht gar nicht auf den mächtigen Herren ein, sondern fleht ihn um Barmherzigkeit an. In ihrer reinen Fassungslosigkeit und Not sagt sie zu dem Skrupellosen: »Um einer Tat der Barmherzigkeit willen vergibt Gott so vieles.« Die Reinheit und Klarheit dieser Frau und ihrer aus der äußersten Not stammenden Worte bewirken im Namenlosen etwas Unfassbares. Er ändert sein Leben. Aus dem Übeltäter wird ein Wohltäter. Die durch die Not zu äußerster Intensität gesteigerte Lauterkeit der hilflosen Frau war mächtiger als all das, worauf der Namenlose bisher seine Macht gestützt hatte.

Was Alessandro Manzoni in seinem herrlichen Roman erzählt, lässt sich immer wieder beobachten. Es gibt Menschen, die bestimmte Bereiche des menschlichen Lebens in äußerster Intensität verkörpern. Was andere auch tun, worum sich andere auch bemühen, was andere auch ersehnen, betreiben diese Einzelnen im Extrem. Reinhold Schneider hat dafür im Winter in Wien ein schönes Bild gefunden. Er vergleicht diese Menschen mit Wirkstoffen im Körper, die nur in äußerst geringen Mengen vorhanden sind, ohne die aber Leben nicht möglich wäre. Und er setzt fort: »Sollte es sich mit den Völkern anders verhalten? Kranken sie am Ausbleiben, am Versagen der Wirkstoffe, der Spurenelemente? Und was wäre zu tun? Zwei, drei Existenzen sind nichts in einem aus achtzig Millionen (oder dem Vielfachen) aufgebauten Volkskörper. Vielleicht aber können sie durch äußerste Intensivierung zu Wirkstoffen werden: zu jenen seltenen, kaum oder gar nicht bekannten personalen Leistungen, die in den Blutstrom eingehen, die inneren Prozesse ermöglichen, beschleunigen, hemmen, ohne sich selbst zu verändern. Existenzen also wie Metalle. Ein einziger, der die Wahrhaftigkeit bis zum Äußersten intensiviert, oder das Tragische an sich, die Kunst, den Glauben, die Liebe, kurz, extreme Existenzen tun not.«

Die Einzelne, der Einzelne gilt heute nicht viel. Eine Figur wie jene der Leonore wirkt heute merkwürdig veraltet, romantisch, wirklichkeitsfremd. Wenn heute die Freiheit eines zu Unrecht Gefangenen erwirkt werden soll, dann kreisen Unterschriftenlisten, werden Petitionen verschickt, Komitees gegründet, Organisationen mobilisiert. Die Methode der Leonore wirkt im Vergleich zu all dem, was heute als professionelle Hilfe gilt, völlig unbeholfen. Professionalität ist das neue Zauberwort. Aber was heißt Professionalität in der Liebe, in der Kunst, im Glauben? Je intensiver all das gelebt wird, desto weniger entspricht es dem, was unter Professionalität verstanden wird.

Heute gibt es eine mächtige Tendenz zum Mittelmaß, um das ungestörte Funktionieren einer konsumierenden Gesellschaft nicht zu stören. Auch dort, wo von Extremleistungen die Rede ist, geht es darum, den Konsum zu fördern. Keines dieser Extreme, im Sport oder in der Kultur, ist eine kritische Anfrage an unsere Art zu leben. In der Wirtschaft, in der Politik, in der Kultur und in der Kirche wird das Funktionieren des Getriebes durch eine Fülle von Fortbildungskursen, Seminaren aller Art, Hilfs- und Begleitprogrammen sichergestellt. Doch je intensiver jemand die Gerechtigkeit, die Wahrhaftigkeit, die Liebe, den Glauben in all diesen Systemen lebt, desto mehr wird er oder sie das Funktionieren des Getriebes infrage stellen. Und zwar nicht durch kritisches Hinterfragen, theoretische Erwägungen, sondern vor allem und zuerst durch sein oder ihr Leben.

Die Frage ist: Geht vom Leben dieser Einzelnen eine Wirkung aus? Und: Gibt es diese Einzelnen? Vielleicht werden sie uns bloß auf der Bühne vor Augen geführt. Ein kleiner Lichtblick in einer fremden Welt. Kurz danach versinkt alles wieder im Meer des Mittelmaßes. Reinhold Schneider merkt kurz nach dem oben zitierten Text an: »Unsere wesentliche Armut ist die an Radikalität, an Menschen, die chemisch reine Elemente sind.« Das hat er 1958 geschrieben. Seither wurden mit Radikalität üble Erfahrungen gemacht. Terroristen waren radikal, bis zum Morden. Was hatte eine konsumorientierte Gesellschaft dem entgegenzusetzen? Nur die Macht des Staatsapparates? Ich erinnere mich an mehr als zwanzig Jahre zurückliegende Begegnungen mit dem Jesuitenpater Adolfo Bachelet. Sein Bruder war als oberster Richter Italiens von Mitgliedern der Brigate Rosse erschossen worden. Beim Trauer - gottesdienst hat die Familie den Mördern öffentlich verziehen. Jahre später erhielt Adolfo Bachelet von verurteilten Ex-Terroristen einen Brief. Sie baten ihn um ein Gespräch, da sie neue Wege gehen wollten. P. Bachelet hat dann viele ehemalige Terroristen in Gefängnissen in ganz Italien besucht und sie auf der Suche nach einem neuen Anfang unterstützt. Zuvor hatte die Familie Bachelet selber mit der Radikalität des Verzeihens einen Anfang gemacht.

Auch in der heutigen Gesellschaft lassen sich die Radikaliät des Verzeihens, der Liebe, der Treue finden. Es braucht nur den rechten Blick dafür. Sie zeigt sich nicht in spektakulären Gesten, öffentlichen Auftritten, begleitet vom Klang der Trompeten und Posaunen. Gelebt wird diese Radikalität heute im Stillen, in alltäglicher Pflege, alltäglicher Aufmerksamkeit, alltäglicher Zuwendung. Heute müssen wir uns Florestan dement vorstellen, möglicherweise an Alzheimer erkrankt. Die radikale Liebe von Leonore zeigt sich nicht mehr in der heroischen Übernahme einer männlichen Rolle, sondern im geduldigen Ausharren als Frau an der Seite eines Gatten, der mit dem einst geliebten und geheirateten wenig gemein hat. Die radikale Liebe treibt heute an, in ein Gefängnis zu folgen, das erbarmungsloser erscheint als der romantische Kerker der Oper Beethovens. Und dieser Weg wird heute oft und oft gegangen. Leonore ist heute auch nicht allein. Es gibt Hilfe, Unterstützung, Begleitung auf dem Weg. Aber die Radikalität der Liebe muss sie allein leben. Darin ist sie einzigartig und als Einzelne nicht zu ersetzen. Vielleicht müsste deutlicher wahrgenommen werden, dass von der Radikalität dieser Liebe das Gelingen unserer Gesellschaft abhängt.

Eine korrekt arbeitende Justiz, ein demokratisches System, funktionierende Kontrollinstanzen im Staat können jene Willkür der Mächtigen verhindern, an der Florestan zu leiden hat. Vielleicht nicht vollständig, aber doch weitgehend kann dafür gesorgt werden, dass auch die Schwächeren Rechtsschutz genießen. Doch was wäre unsere Gesellschaft ohne jene Frauen und Männer, die es in ihrer radikal gelebten Hingabe Leonore gleich tun? Wie der Umgang mit Asylsuchenden zeigt, ist unser Rechtssystem noch in vielem zu verbessern. Wer sich von der Not ergreifen lässt, kann aber nicht auf eine Verbesserung des Rechts warten. Jetzt muss gehandelt werden. Frauen wie Maria Loley oder Ute Bock sind daher lebenswichtig, auch für den Staat. Sie leben mit großer Intensität etwas, das aber nur so gelebt werden kann, um wirksam zu sein. Die Professionalität der vielen neigt zum Mittelmaß. Sie muss durch die Radikalität Einzelner immer neu gesprengt, aufgebrochen, herausgefordert werden, um weit über das bereits Gekonnte, Bewältigte, Beherrschte hinaus einzutauchen in die tatsächliche Not der Menschen. Leonore konnte keine Menschenrechtsgruppe gründen. Sie musste unmittelbar und direkt handeln.

Es liegt nahe, den Ursprung dieser Bedeutung des Einzelnen und seiner Verantwortung im Judentum und im Christentum zu sehen. Immer wieder werden in den Heiligen Schriften dieser Religionen radikal lebende und han- delnde Einzelne vorgestellt, nicht nur Männer, sondern auch Frauen. Gott selbst wird in der Art eines radikal handelnden Einzelnen dargestellt, wobei Gott männliche und weibliche Züge zugesprochen werden. Im Christentum ist Jesus der beispielhaft radikal lebende Einzelne. Erstaunlich ist aber seine Wendung zu den einfachen und armen Menschen, die deutlich macht, dass seiner Radikalität alles Elitäre und damit Abgesonderte fremd ist.

Die in der Bibel entworfene Radikalität der Nächstenliebe und der Gottesliebe ist jedem Menschen möglich. Diese Haltung lässt sich nicht auf einen begrenzten Kreis von Frommen und Religiösen beschränken, sondern ist weit über die Grenzen der institutionell greifbaren Religionen hinaus eine Herausforderung an alle Menschen guten Willens. Das macht sie für unsere Gegenwart bedeutsam. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37) ist eben keine Geschichte nur für einen kleinen Kreis von Kirchgängern. Die Plausibilität dieses Bildes teilt sich auch denen mit, die zum Glauben in seiner institutionellen Form keine Beziehung haben. Gleiches gilt für die Erzählung vom Endgericht im 25. Kapitel des Evangeliums nach Matthäus. »Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.« Als die von Jesus so angesprochenen Menschen verwundert fragen, wann sie das alle getan hätten, ist die Antwort: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« Die üblichen Grenzen zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden, Religiösen und Unreligiösen werden hier vollends gesprengt. Und es zeigt sich: Entscheidend ist mein Anteil an einem Tun, das von wenigen Einzelnen radikal gelebt wird, das aber von vielen mitgetragen werden muss. Leonore in ihrer unbedingten Liebe zu Florestan ist ein Bild. Der Kerker des Don Pizarro ist ein Bild. Heute mögen die Kerker ganz andere Formen angenommen haben. Der Ruf zur radikalen und unbedingten Liebe Leonores ist der gleiche geblieben. Solange ihm gefolgt wird, bleibt eine Gemeinschaft, sei sie nun religiös oder kulturell geprägt, am Leben.

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