Klaus Adam
MUTMASSUNGEN ÜBER FLORESTAN »Wahrheit wagt’ ich kühn zu sagen, und die Ketten sind mein Lohn«: In einem Verlies, in das der Sonne Licht nicht dringt, ein Eisenband um den Leib, angeschmiedet an einen Stein, so schmachtet Florestan schon über zwei Jahre. Welche »Wahrheit« brachte Florestan in den Kerker? Wo hat er was vor wessen Ohren geäußert? Das Libretto gibt über die Vorgeschichte des Fidelio nur vage Auskunft. Pizarro, der Florestan als eines von »mehreren Opfern willkürlicher Gewalt in Ketten liegen hat«, spricht von einem Versuch seines Gefangenen, ihn »vor dem Minister zu enthüllen und seiner Gunst zu entziehen«; aber was dieser Streiter für die Wahrheit enthüllen wollte, verschweigt der Gouverneur bei seinem Selbstgespräch im Gefängnishof. Im tiefen Gewölbe löst Rachevorfreude seine Zunge: »Noch einmal ruf ich Dir, was Du getan, zurück...« – aber da wirft sich Leonore zwischen Florestan und den gezückten Dolch, und wir verharren in Ungewissheit, was der nun Gerettete an Verhängnisvollem getan hat. Weitschweifiger als die endgültige Form von 1814 sind im Musikalischen wie im Dialog die Fidelio-Fassungen von 1805/1806; da lüftet sich auch der Schleier über die Vorgeschichte um ein paar weitere Zentimeter. Nachdem Rocco dem Drängen Florestans nachgegeben und den Namen des Gouverneurs genannt hat, erkennt der Gepeinigte die Zusammenhänge: »O, nun erstaun’ ich nicht mehr, dass ich diese Marter zu leiden verdammt bin. Er ist’s, dessen Verbrechen, dessen Missbrauch der Gewalt ich zu entdecken wagte.« In diesen Erstfassungen des Fidelio hielt sich Joseph Sonnleithner enger als später Georg Friedrich Treitschke, 1814, an die französische Vorlage, an das Libretto Léonore ou L’Amour conjugal, das Jean-Nicolas Bouilly für den Komponisten Pierre Gaveaux 1798 verfasst hatte. Auch dort spricht Florestan von »L’abus d’autorité«, ohne Details aufzuführen, wie Pizarro seine Macht missbrauchte. Man darf mutmaßen, dass es sich nicht um eine UnterschlaK LAUS A DA M
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