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DIE SPRACHE JENSEITS DES WORTES
Medizin
Ich gehe – bevor ich zu einem Arzt oder einer Apotheke gehe – erst zu Beethoven.
Seine Musik ist immer tröstend, immer groß, manche schreiben, sie ist »erhaben«.
Manchmal spielerisch leicht, aber nie oberflächlich. Und dann, am Schluss – und dies immer –ist alles gut.
Fidelio
Eine Oper, an der Opernliebhaber nicht vorbeikommen, auch ich nicht. Trotzdem hatte ich sie bis jetzt nur gestreift (vor mich hergeschoben), damit ich, falls ich dann eintauche, auch die Kraft habe, wieder aufzutauchen. Beim ersten intensiven Durchhören bin ich begeistert von der Pracht der Komposition und erschlagen von den vielen unterschiedlichen Texten, die meist, von mehreren Stimmen gleichzeitig, gesungen werden.
Das Verhältnis zwischen Arien und Ensemblestellen ist fast ebenbürtig. An den Ensemblestellen versteht man kein Wort.
Der Gefangenenchor bildet eine Ausnahme, der zählt mehr zu den Arien, kommt er diesen in seiner Einheitlichkeit näher als die Duette. Auch bei anderen Opern in deutscher Sprache lese ich fast immer den Text mit.
Aber meist ist der Grund für die Unverständlichkeit vokaltechnischer, instrumentatorischer, sprachlicher oder akustischer Natur.
Aber in Fidelio singen alle – und dies zu einem guten Anteil der Oper –gleichzeitig in unterschiedlichen Texten und Rhythmen. Und trotzdem wird in Fidelio sofort klar – und dies mehr als in der einheitlichsten Musik – um was es geht: Es geht um die Sprache jenseits des Wortes, um große, absolute Musik.
STIMME ODER INSTRUMENT?
Es gibt in dieser Oper eine große Anzahl musikalischer Themen, die allerdings nicht ganz eindeutig den einzelnen Charakteren zugeordnet werden können.
In der Ouvertüre wird gleich zu Beginn das Thema zu Fidelio selbst vorgestellt:
Als Marzelline in ihrem Zankduett mit Jaquino das erste Mal den Namen Fidelio ausspricht, wird es bestätigt und es erscheint das Motiv dann vollständig.
Fi-(Achtel) de-(punktierte Achtel) li-(Sechzehntel) o-(Viertel)
(In der Ouvertüre noch ohne den Achtelauftakt des »Fi-«)
Beethovens Ansatz zur Oper und zu den Gesangspartien erfolgt über die Instrumentalmusik. Und gerade an diesem kurzen Motiv lässt sich erkennen, dass Beethovens Ansatz vor allem durch die Instrumentalmusik erfolgt. Er »instrumentalisiert« die Sänger, was sich auch in der Gesangstechnik, besonders in den technischen Anforderungen der Sänger auswirkt (Leonore).
Gleich zu Beginn sind die musikalischen Dialoge im Duett Marzelline und Jaquino meist auf Imitation aufgebaut. Die Stimmen werden »instrumentalisiert« – Gesangslinien wandern von einer Gesangspartie in die andere, so dass sich wirklich eigenständige Farben zu den einzelnen Personen schwer zuordnen lassen. Alles dient dem großen musikalischen Gedanken.
Beethoven hat fast ausschließlich Skizzen zu den Gesangspartien geschrieben. Zum Orchesterpart gibt es relativ wenige Skizzen. Aber auch bei den Gesangsskizzen wären diese ohne die Texte schwer bestimmbar. Die Worte fügen sich seiner musikdramatischen Sprache.
Die Farben
Am markantesten zeigt sich die Instrumentation im Umgang mit den Blechbläsern.
Auch wenn die Trompeten in der Schlüsselstelle eine entscheidende Rolle spielen (mit dem letzten Wort »tot« in dem Quartett »Er sterbe, doch er soll erst wissen«, setzt in allen Fassungen die Trompetenfanfare ein und kündigt die Ankunft des Ministers an), noch gewichtiger sind für Beethoven die Hörner. Der zentrale Moment in der Oper, welcher die handelnden Personen zum Strahlen oder zum Erlöschen (Pizarro) bringt, wird eingeleitet von einem satten Hörnerklang. Es geht weniger um die Hoffnung als um die bewusste Tat (auch wenn diese von der Hoffnung motiviert und getragen wird). Dies wird auch durch die Instrumentation deutlich gemacht.
Leonores Absicht »ich wanke nicht« wird von den Hörnern bestimmt. Es geht auch um Hoffnung, aber noch mehr geht es dann um die Tat.
Zuerst: »Komm, Hoffnung, lass den letzten Stern, den müden nicht erbleichen.«
Dann folgt eine fanfarenartige Ankündigung von Leonores Absicht durch die Hörner.
Aber gehofft wird eigentlich von allen.
Jaquino hofft auf Marzelline.
Marzelline hofft auf Fidelio (»Die Hoffnung schon erfüllt die Brust«).
Alle singen und hoffen und hören nicht.
Leonore hofft auch, aber sie schreitet zur Tat: »Ich wanke nicht, nein, ich wanke nicht«
DUETTE, TERZETTE, QUARTETTE MEHRSTIMMIGKEIT
Die Oper ist durchdrungen von Ensemblestücken, Duette, Terzette, Quartette, und diese haben fast das gleiche Gewicht wie die Arien. Die Gegenüberstellung in den Ensemblesätzen verschiedener Haltungen bzw. die Parallelität führt zu einer scharfen Kontrastierung der unterschiedlichen Absichten. Es kommt zu einem Kontrapunkt verschiedener Meinungen. Gleichzeitig streicht dieser Kontrapunkt das Menschliche der einzelnen Personen hervor, da sie alle dann doch »scheinbar gleich motiviert sind« und in »den selben Gesang einstimmen«.
Die Handlung findet so auf dem Grat der Gleichzeitigkeit statt. Der Chor hingegen hat eine Einheitlichkeit, die an das Arienhafte grenzt.
Kanon Der Unterschiedlichen Absichten
Mit dem Auftritt von Leonore (Quartett Nr. 3 als Fidelio verkleidet) und Marzellines Vater, dem Kerkermeister Rocco, und dem folgenden Quartett entfalten sich die unterschiedlichen Absichten. In dem berühmten Kanon
»Mir ist so wunderbar« singt jeder Beteiligte für sich, von seinen eigenen Absichten, was er fühlt und denkt. Musikalisch schicksalhaft verbunden singt doch jeder von seinen eigenen Wunschvorstellungen. Dass Beethoven dafür die strengste musikalische Form, den Kanon, gewählt hat, lässt manche Fragen offen. Sind es die verschiedenen Motivationen und doch dieselbe Absichten, oder umgekehrt?
Die Musik verschränkt die unterschiedlichen Interessen durch das wiederkehrende Motiv, welches durch alles Stimmen kreist. Inhaltlich sind die Absichten vollkommen verschieden und trotzdem erklingt alles in einem »scheinbaren Einklang« in wunderbarer Harmonie.
Marzelline denkt an Fidelio, als sie singt: »Er liebt mich, es ist klar,/ ich werde glücklich sein«.
Leonore als Fidelio verkleidet schwebt in Angst und sucht ihren Mann: »Wie groß ist die Gefahr,/ wie schwach der Hoffnung Schein,/ sie liebt mich es ist klar,/ o namenlose Pein!«
Rocco denkt an die Hochzeit seiner Tochter und ihr Glück: »Ein gutes junges Paar,/ sie werden glücklich sein«.
Jacquino denkt wiederum an Marzelline, als er bemerkt, dass sich Marzelline und Fidelio näher kommen könnten: »Mir sträubt sich schon das Haar,/der Vater willigt ein,/ mir wird so wunderbar,/ mir fällt kein Mittel ein«.
Ebenfalls findet diese Verschränkung der Absichten im Terzett Nr. 5 zwischen Rocco, Leonore und Marzelline – wenn auch nicht so dramatisch parallele Absichten wie im Quartett Nr. 3 – statt: Jeder besingt sein eigenes Glück!
Marzelline: »Ja, ja, wir werden glücklich sein« (denkt an ihr Leben mit Fidelio).
Leonore: »Ja, ja, ich kann noch glücklich sein« (denkt an ihren Mann im Kerker).
Rocco: »Ja, ja, ihr werdet glücklich sein« (denkt an Marzelline und Fidelio).
Oder im Duett Nr. 8:
Pizarro: »Sein Tod nur kann mich retten, dann werd ich ruhig sein«.
Rocco: »Ihn töten heißt ihn retten, der Dolch wird ihn befrein«.
Und schließlich, im Quartett Nr. 14, zeigt Fidelio sein wahres Gesicht und gibt sich als Leonore zu erkennen. Davor gibt sich Pizarro Florestan zu erkennen. Alle lassen die Masken fallen und beginnen sich zu ERKENNEN. Doch hat das »Erkennen« in Fidelio eine besondere Bedeutung? Hängt das Erkennen doch auch mit einem »nicht hören können/nicht verstehen können« zusammen?
Auch die Frage des Verstehens wird einmal – und dies ausgerechnet von Pizarro (a cappella) – angesprochen. Im Duett Nr. 8 sagt Pizarro nach einer Fermate:
»Hast du mich verstanden?«
Das Verstehen wird dadurch (durch die andauernde Gleichzeitigkeit der Ab - sichten und des »Nichthinhörens«) ebenfalls zum zentralen Thema. WARUM?
Es geht Beethoven um die Aussage, die hinter dem Text steht. Die Musik selbst ist so groß, dass sie sich nicht durch Linearität beeinflussen oder stören lässt. Dinge wie »Textverständigung« geraten in den Hintergrund.
Alle schwimmen im selben Fluss dieser großartigen Musik und alle (außer dem Bösewicht) haben letztendlich die selbe und gute Absicht. Die Größe der Musik Beethovens ist greifbar. So greifbar wie die Tasten am Klavier und so groß, dass man sie nicht mit Worten erfassen kann.