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TRÜGERISCHES BILD

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Wer ist Leonore? Was ist Leonore? Eine Jünglingin, ein trauter Traum, ein nasführendes Geschöpf, zusammengekleistert aus den Papierschnitzeln dreier Dichter, denen das Dichten misslang? Roccos Diener, der unentbehrliche Schließer, dem Schmied schaut er bei der Ausbesserung der Gefängnisketten auf die Finger, vereinigt die Tugenden einer umsichtigen Hausfrau mit denen des getreuen Knechts.

Leonore ist im Oberen zu Haus, ins Untere darf sie nicht, dort schmachtet Florestan. Ihr Sinnen und Trachten ist stets darauf gerichtet, hinunter, hinunter, hinab zu ihm. Beruhigend, dass dort einmal nicht die Mütter sitzen, sondern der träumende Mann, dem sie erscheint, ein trügerisches Bild am Rande des Abgrunds. Wer ist Fidelio? Die Getreuin, die ihrem musikalischen Schöpfer den stimmlichen Jubel eingab? Was einst errungen, das holde Weib, will auch ertragen sein, zumal die Holden oft eine Unholdin an ihrer Kehrseite haben, die Macht.

Wer sich so geschickt tarnt, sich in die Rolle des Geliebten begibt (Kleider, Habitus, ihm also gleich sein will), in chamäleonhafter Gier ihn beschattet, ihn, dem sie zum Licht wird, zur Vision der Erlösung – und was ist das überhaupt, dieses ganze Erlösungssyndrom, eine Krankheit wie Eifersucht oder Erkenntnisdrang? –, wer bereit ist, sich zu opfern, hat insgeheim den Wunsch, den Heros des Geliebten noch zu überflügeln. Ein Opernschicksal? Nicht nur. Zwischen Oper und Opfer steht nur das »f« vielleicht für Fidelio. Fernando, Florestan oder Fanfare. Während sich Leonore vor Florestan stellt: »Töt’ erst sein Weib!«, ist sie zum letzten Mal Fidelio, die Drommeten der Freiheit verwandeln sie endgültig in Leonore.

»Was ist die dramatische Handlung des Textes der Oper Leonore anderes, als eine fast widerwärtige Abschwächung des in der Ouvertüre erlebten Dramas, etwa wie ein langweilig erläuternder Kommentar des Gervinus zu einer Scene des Shakespeare?« (Richard Wagner: Beethoven)

Leonore und Florestan, wer sind sie? Ein nebulöses Hirngespinst? Ein Vereinigungsmechanismus der im platonischen Sinne entzweigeschnittenen Kugel, die sich wieder zusammenfügt, der scheinbaren Ganzheit teilhaftig? Fidelio, Leonore: ein Traum des kranken, fast wahnsinnigen Florestan. Wären sie verdorben, gestorben, wären sie das unideale Paar von Fanfaren; da sie aber nicht zugrunde gehen durften, bleiben sie ein Papierpaar, so schön sie auch singen, und schöner singt doch jeder für sich allein. So jedenfalls hat es Beethoven gewusst und geschrieben in Florestans Klage: »Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille! Öd ist es um mich her. Nichts lebet außer mir.« Wer aber zu sterben begann und dabei unterbrochen wurde, ist zum ewigen Leben verurteilt.

P. S. Wer ist Leonore später, zwanzig Jahre danach? Ich stelle mir vor: Kinder, Sticken, Küche und Keller. Im Keller befällt sie ein regelrechtes Zögern, eine zaghafte Hemmung. Sie atmet den Modergeruch, verweilt vor dem Apfelregal, wendet die Früchte. Die Schürze wölbt sich über dem schwer gewordenen Leib. Sie bewegt sich mit der Trägheit alternder Frauen, in der süßlichen Schwüle vergisst sie, warum sie kam. Irgendwas wollte sie holen.

Sie setzt sich auf eine Treppenstufe, der Schlüsselbund an ihrer Taille klirrt. Schräg gegenüber lehnt ein zerbrochener Spiegel, das obere Drittel ist herausgebrochen, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen ist. Neben dem Spiegel der Schrank, ihr eigener, etwas muss ich für mich alleine haben, du verstehst? Gewiss, meine Liebe. Florestan, ein höherer Beamter, geachtet in der Provinz, hat sich nach einer Blitzkarriere in der Hauptstadt zurückgezogen aus der Politik. Listige Leute meinen, er sei untauglich für dies Geschäft. Ein Undiplomat, dessen eigene Frau dem Pizarro die Pistole an die Brust gesetzt... so einer, nein, das ginge nicht an... Der Pizarro ein Bösewicht, ein Tyrann? Niemals. Wer so hohe Ämter bekleidet, muss auch ehrenwert sein. Der Minister Fernando hingegen, der dem Wahnwitz erlegen, Gefangene als Brüder zu bezeichnen, sei schon seit Langem in Verwahrung.

Leonore holt das Fideliogewand aus dem Schrank, sie prüft die Kleider vor dem Spiegel. Nach ein paar zögernden Schritten schließt sie das alles wieder fort und geht zurück nach oben.

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