Diana Kempff
EIN TRÜGERISCHES BILD
Wer ist Leonore? Was ist Leonore? Eine Jünglingin, ein trauter Traum, ein nasführendes Geschöpf, zusammengekleistert aus den Papierschnitzeln dreier Dichter, denen das Dichten misslang? Roccos Diener, der unentbehrliche Schließer, dem Schmied schaut er bei der Ausbesserung der Gefängnisketten auf die Finger, vereinigt die Tugenden einer umsichtigen Hausfrau mit denen des getreuen Knechts. Leonore ist im Oberen zu Haus, ins Untere darf sie nicht, dort schmachtet Florestan. Ihr Sinnen und Trachten ist stets darauf gerichtet, hinunter, hinunter, hinab zu ihm. Beruhigend, dass dort einmal nicht die Mütter sitzen, sondern der träumende Mann, dem sie erscheint, ein trügerisches Bild am Rande des Abgrunds. Wer ist Fidelio? Die Getreuin, die ihrem musikalischen Schöpfer den stimmlichen Jubel eingab? Was einst errungen, das holde Weib, will auch ertragen sein, zumal die Holden oft eine Unholdin an ihrer Kehrseite haben, die Macht. Wer sich so geschickt tarnt, sich in die Rolle des Geliebten begibt (Kleider, Habitus, ihm also gleich sein will), in chamäleonhafter Gier ihn beschattet, ihn, dem sie zum Licht wird, zur Vision der Erlösung – und was ist das überhaupt, dieses ganze Erlösungssyndrom, eine Krankheit wie Eifersucht oder Erkenntnisdrang? –, wer bereit ist, sich zu opfern, hat insgeheim den Wunsch, den Heros des Geliebten noch zu überflügeln. Ein Opernschicksal? Nicht nur. Zwischen Oper und Opfer steht nur das »f« vielleicht für Fidelio. Fernando, Florestan oder Fanfare. Während sich Leonore vor Florestan stellt: »Töt’ erst sein Weib!«, ist sie zum letzten Mal Fidelio, die Drommeten der Freiheit verwandeln sie endgültig in Leonore. DI A NA K EMPFF
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