4 minute read

LEONORA UND LEONORE Beethoven und Paërs Vorgängeroper

Next Article
Impressum

Impressum

Kommt Ihnen diese Inhaltsangabe irgendwie bekannt vor?

»Da Florestano versucht hat, die düsteren politischen Machenschaften des Gouverneurs Pizarro aufzudecken, wurde er von diesem in den Kerker eines spanischen Gefängnisses geworfen, wo er inzwischen seit zwei Jahren schmachtet. Während viele den spurlos Verschwundenen bereits für tot halten, glaubt seine Gattin Leonore fest daran, dass er gefangen gehalten wird und noch am Leben ist. Es gelingt ihr – unter dem Namen »Fedele« als Mann verkleidet – in dem Gefängnis, wo sie Florestano vermutet, eine Anstellung als Gehilfe des Kerkermeisters Rocco zu erhalten. Roccos Tochter Marcellina hat sich in »Fedele« verliebt, und deshalb für ihren Verehrer Giachino nichts mehr übrig. Leonora alias Fedele arbeitet hart, um Roccos Gunst zu gewinnen, was ihm auch gelingt. Der Gefängniswärter sieht in ihm den künftigen Schwiegersohn und erlaubt ihm, ihn bei der Versorgung der politischen Gefangenen zu begleiten. Dort ist einer, dessen Name Rocco nicht kennt, von dem er aber weiß, dass er den Hungertod sterben soll. Pizarro entnimmt der eingegangenen Post, dass der Minister erfahren hat, er halte illegal Personen in Haft. Besonders muss er Don Fernandos Zorn wegen Florestanos Inhaftierung fürchten und beschließt, den verhassten Feind in der nächsten Stunde zu töten. Ein Trompeter soll Ausschau halten und beim Herannahen des Ministers Signal blasen. Im Kerker beklagt Florestano sein Schicksal und sinkt erschöpft zu Boden. Als Rocco und Leonora den Kerker betreten, entdeckt Leonora den Bewusstlosen, kann ihn aber in der Dunkelheit nicht erkennen. Zusammen mit Rocco beginnt sie einen verschütteten Brunnen, in dem Florestano sein Grab finden soll, freizuschaufeln. Als der Gefangene um Wasser bittet, erkennt Leonora ihren Gatten an der Stimme. Ein Maskierter tritt ein und will Florestano töten, doch Leonora wirft sich dazwischen und fleht Rocco um Hilfe an. Der Mörder demaskiert sich: es ist Pizarro. Er befiehlt Rocco ihm zu helfen, Florestano und Leonora zu trennen. Leonora zieht eine Pistole, vor der Pizarro jedoch nicht zurückschreckt, sondern mit gesteigerter Wut erneut mit dem Dolch auf Florestano eindringt. Im Moment höchster Not erklingt das Trompetensignal, das die Ankunft des Ministers ankündigt.«

Natürlich kommt Ihnen diese Handlung bekannt vor, denn schließlich haben wir sie alle mit der musikalischen Muttermilch aufgesogen. Aber nein, es handelt dabei sich nicht um die Inhaltsangabe von Fidelio von Ludwig van Beethoven und nein, es liegen keine Druckfehler vor, es heißt hier wirklich Florestano und Fedele (und nicht Fidelio), denn wir lesen nicht die Inhaltsangabe von Beethovens Meisterwerk, sondern die der Oper LEONORA (mit A! ) von Ferdinando Paër.

Paër?

Ferdinando Paër (in Deutschland manchmal auch fälschlicherweise Pa¯r geschrieben) war einer der wichtigsten Komponisten der sogenannten » Brücken- oder Zwischenzeit«. 1771 in Parma geboren (als österrei- chischer Staatsbürger), studierte zuerst in seiner Heimatstadt, bevor er in Neapel seine Ausbildung am »Conservatorio della Pietà de Turchini« fortsetzte. Er debütierte 1789 mit der komischen Oper La locanda de’ vagabondi, 1791 wurde er Theaterkapellmeister in Venedig, 1797 übte er diese Tätigkeit dann in Wien aus. Von 1802 bis 1806 war er Kapellmeister am (nicht mehr existierenden) Morettischen Opernhaus in Dresden, von 1812 bis 1827 dann Kapellmeister an der italienischen Oper in Paris. Paër schrieb ungefähr 44 Opern, die zu seiner Lebenszeit sehr erfolgreich und bekannt waren, außerdem Oratorien, Kantaten, Gesangswerke, Klavierstücke u.a. Er starb am 17. Mai 1839 in Paris.

Seine Oper Leonora ossia L’Amor conjugale (Originalbezeichnung: fatto storico) wurde am 3. Oktober 1804 in Dresden im kleinen kurfürstlichen Theater (Morettisches Opernhaus) uraufgeführt, und zwar in italienischer Sprache. Die Hauptrollen verkörperten Francesca Riccardi-Paër (Leonora) und Antonio Peregrino Benelli (Florestano).

Bereits 1930 wurde von dem Musikhistoriker Richard Engländer eine genauere Betrachtung der Paër’schen Leonora unternommen, denn der librettistische Befund musste doch einfach hellhörig machen: Engländer argumentiert, dass Beethoven und sein Textdichter Sonnleithner Paërs Leonora studiert haben müssen und dass alle drei Fidelio-Versionen dem »Vorgängermodell« viel zu verdanken haben.

Das klingt insofern sehr plausibel, als sich die Komponisten persönlich kannten. Beide kamen 1792 nach Wien, der aus Parma gebürtige Paër als Kapellmeister, Beethoven als freier Künstler. Paër suchte den freundschaftlichen Kontakt mit dem gleichaltrigen Beethoven, welcher ihn künstlerisch beeinflusste, aber auch seinerseits von Paër Anregungen empfing.

Beethoven besaß unbestrittenerweise außerdem eine Partitur von Paërs Oper. Engländer suggeriert, dass Paër bei seinem Wien-Besuch von 1803 seinem Kollegen das Sujet näherbrachte, und dass seine Dresdner Leonora eine entscheidende Verbindung zwischen Gaveaux’ Ur-Leonore und dem Fidelio darstellt.

Dazu kommt noch, dass Paërs Werk im Palais von Beethovens Hauptgönner, dem Fürsten Lobkowitz, seine Wiener privat »Preview« erlebte –mit Louise Müller in der Titelpartie (der späteren Marzelline im Fidelio). Engländer macht aber nicht nur librettistische, sondern auch verblüffende musikalische »Parallelen« aus: vor allem in den Szenen »Abscheulicher! Wo gehest du hin?« und »Wer ein holdes Weib errungen«...

Die »Beweislast« für eine Beeinflussung des großen Meisters durch Paër ist also erdrückend, und Richard Engländer hatte das bereits ausführlich und erschöpfend dokumentiert.

Die Frage ist nur, warum die Beethovenforscher bis heute diese Fakten so beharrlich zu leugnen bzw. alle Indizien in ihr Gegenteil zu verkehren versuchen? Ja, der Heilige Ludwig hatte zwar die Paër’sche Partitur, aber man weiß nicht, wann er sie erworben hat. Ja, ein paar Melodien sind deckungsgleich, aber das waren halt musikalische Standards dieser Zeit... usw. usf.

Mit Händen und Füßen, mit Zähnen und Klauen verteidigt man völlig verzweifelt die jungfräuliche Ehre des teutschen, vom Himmel gefallenen titanischen Originalgenies. Thomas Betzwieser, der Herausgeber der neuen kritischen Ausgabe von Paërs Leonora, führt die Tatsache, dass Richard Engländers Thesen so beharrlich und so aggressiv geleugnet wurden, schon auch auf den Umstand zurück, dass Engländer Jude war und 1939 aus Deutschland fliehen musste...

Aber wozu diese Realitätsverweigerung? Es ist doch keine Schmach und keine Schande, Einflüsse aufzunehmen und zu verarbeiten! Das hat doch schon Bach gemacht! Und Mozart...

Betzwieser meint sogar, dass die Leonora, rein formal betrachtet, das in sich geschlossenere Werk ist, weil man Beethovens drei Opern bei all seiner Genialität das zehnjahrelange Ringen um den Stoff doch sehr deutlich anmerkt.

Walter Dobner

This article is from: