FIDELIO
Ludwig van Beethoven
INHALT Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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Nirgends brennen wir genauer → Ernst Bloch
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Schlaglichter auf die Fidelio-Musik → Axel Kober
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Bernstein hat geweint → Andreas Láng im Gespräch mit Regisseur KSCH Otto Schenk
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Ein trügerisches Bild → Diana Kempff
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Die Rettungsoper als Modellvorlage für den Fidelio → Oliver Láng
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Leonora und Leonore → Robert Quitta
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Beethovens erster Opernlibrettist → Walter Dobner
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Beethovens 53 Opern → Robert Quitta
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Die Sprache jenseits des Wortes → Johanna Doderer
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»Wer ein solches Weib errungen...« → Konrad Paul Liessmann
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Extreme Existenzen → Gustav Schörghofer
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Mutmaßungen über Florestan → Klaus Adam
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Pizarro ist kein Baron Scarpia → Andreas Láng
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Keine Vergleichung – und unbegreiflich himmlisch → Oliver Láng
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Durch Nacht zum Licht → Alexandra Steiner-Strauss
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Fidelio und die Politik → Oliver Láng
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Politik und Liebe → Karl Löbl
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Wahrheit wagt ich kühn zu sagen, und die Ketten sind mein Lohn. Florestan, 2. Aufzug
FIDELIO → Oper in zwei Aufzügen Musik Ludwig van Beethoven Text Joseph Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Friedrich Treitschke
Orchesterbesetzung 2 Flöten, Piccolo, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 2 Trompeten, 2 Posaunen, Pauken, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik Trompeten Spieldauer 2 Stunden 45 Minuten (inkl. 1 Pause) Autograph Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz (3. Fassung) Uraufführung (3. Fassung) 23. März 1814, Kärntnertortheater, Wien Erstaufführung im Haus am Ring 10. Juni 1869
DIE HANDLUNG
Vorgeschichte Der Gouverneur eines spanischen Staatsgefängnisses, Don Pizarro, führt in seiner Anstalt ein Schreckensregiment. Unschuldige werden zu politischen Opfern seines brutalen Zugriffs. Don Florestan aus Sevilla will diese Willkürakte aufklären, gerät aber dabei selbst in die Hand des Gewaltmenschen. Seit über zwei Jahren schmachtet er in unmenschlicher Einzelhaft. Seine Freunde halten ihn für tot, nur seine Frau Leonore gibt den Verschollenen noch nicht verloren. Da sie Florestan in Gefangenschaft wähnt, verdingt sie sich beim Kerkermeister Rocco als Schließer. In Männerkleidern und unter dem Namen Fidelio verrichtet sie schwere Arbeit, erwirbt sich das Vertrauen ihres Vorgesetzten und gewinnt sogar die Liebe seiner Tochter Marzelline.
1. Aufzug Vergeblich bemüht sich Jaquino um die Zuwendung Marzellines. Seit Fidelio im Haus ist, hat sie für sein Werben kein Ohr. Fidelio kehrt von Erledigungen aus Sevilla zurück. Rocco ist wieder vom Geschick und Pflichtbewusstsein seines neuen Gehilfen angetan: Bald schon sollen Fidelio und Marzelline ein Paar werden. Marzelline und Rocco träumen von einer behaglichen Zukunft, Jaquino sieht seine Aussichten schwinden, Fidelio graut es vor der ← Vorige Seiten: Szenenbild Ungewissheit. DIE H A N DLU NG
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Da tritt Don Pizarro auf. Aus einem vertraulichen Schreiben erfährt er, dass der Minister seinem Amtsmissbrauch auf der Spur ist: Eine überraschende Visite soll ihn endgültig überführen. Pizarro reagiert prompt: Ein Posten beobachtet die Hauptstraße, ein Trompetensignal soll den Besuch ankündigen. Florestan, das prominenteste Opfer, muss schleunigst beseitigt werden. Da Rocco den Mord verweigert, wird der Gouverneur die Tat selbst vollziehen. Nur ein Grab im Verlies soll ihm der Kerkermeister zuvor schaufeln. Marzelline und Fidelio erbitten von Rocco einen kurzen Ausgang für die leichteren Gefangenen. Voller Freude genießen die Häftlinge die warme Frühlingssonne. Fidelio erfährt bestürzt von dem neuen Auftrag Roccos und will seine schwere Arbeit im Kerker teilen: Wird sie dem Gatten sein Grab bereiten helfen? Empört hat Pizarro den Spaziergang der Gefangenen bemerkt und lässt keine Rechtfertigung gelten. Nur der dringende Mordplan an Florestan verhindert schlimme Sanktionen.
2. Aufzug Im Kerker grübelt der erschöpfte Florestan über sein Schicksal. Seine Lage erscheint ihm aussichtslos, nur das Bewusstsein erfüllter Pflicht tröstet ihn. In einer ekstatischen Vision fühlt er sich von einem Engel mit den Zügen Leonores in die himmlische Freiheit entrückt. Rocco und Fidelio legen mühsam eine Zisterne frei. Florestan erfährt endlich, wer dieses Gefängnis leitet, und will seine Gattin in Sevilla verständigen lassen. Fidelio weiß nun sicher, wen sie vor sich hat. Eine kleine Labung mit Brot und Wein scheint Florestans letzte Freude zu sein, denn schon naht Pizarro. Aber als er zum tödlichen Streich ausholt, stellt sich Fidelio vor den Gefangenen: »Töt’ erst sein Weib!« Dem Nachsetzenden hält sie eine Pistole vor, da ertönt das Trompetensignal. Die Ankunft des Ministers verheißt einen Umschwung: Befreiung für die Unterdrückten, Strafe für den Unterdrücker. Pizarro eilt aus dem Kerker, Rocco sagt sich von seinem alten Herrn los, Leonore und Florestan sinken einander glücklich in die Arme. – Das Volk und die Strafgefangenen begrüßen erwartungsvoll den Minister, Don Fernando. Im Auftrag des Königs verkündet er allgemeine Amnestie und das Ende der politischen Willkür. In Florestan erkennt er seinen totgesagten Freund wieder. Leonore darf die Ketten des lange Gedemütigten lösen, Pizarro wird festgenommen.
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DIE H A N DLU NG
SYNOPSIS
Background The governor of a Spanish state prison, Don Pizarro, runs his establishment with a rod of iron. Innocent prisoners become the political victims of his brutal attacks. Don Florestan from Seville sets out to expose these arbitrary acts of violence, but himself falls into the hands of the monster. He has been languishing in bestial solitary confinement for over two years. His friends believe him dead, only his wife Leonore has not given up on her missing husband. Believing that Florestan is being held in prison, she finds employment as an assistant to the jailer Rocco. Dressed as a man and using the name Fidelio, she does hard labour, earning the trust of her supervisor and even winning the love of his daughter Marzelline.
Act 1 Jaquino tries in vain to win Marzelline’s affections. Since the arrival of Fidelio, she is deaf to his entreaties. Fidelio returns from doing errands in Seville. Rocco is once again taken with the skill and conscientiousness of his new assistant. He is sure that Fidelio and Marzelline will soon be married. Marzelline and Rocco dream of a comfortable future, Jaquino sees his prospects dwindling, Fidelio lives in dread of the uncertainties she faces. SY NOPSIS
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Don Pizarro enters. He learns from a confidential letter that the Minister is onto him and his abuse of his office. A surprise visit will clarify the matter. Pizarro reacts promptly. He posts a sentinel to watch the main road, and a trumpet signal will warn him of the Minister’s approach. Florestan, the most prominent of his victims, must be done away with as quickly as possible. Since Rocco refuses to commit murder, the governor must carry out the deed himself. All the jailer has to do is dig a grave in the dungeon. Marzelline and Fidelio plead with Rocco to allow the prisoners a short walk outside. Elated, the prisoners enjoy the warm spring sunshine. To Fidelios dismay, she learns of Rocco’s new orders and asks to share his heavy work in the dungeon. Will she be helping prepare a grave for her husband? Pizarro is enraged when he sees the prisoners outside and will listen to no reasoning. Only his urgent plan to murder Florestan prevents him from ordering more stringent disciplinary sanctions.
Act 2 In the dungeon, Florestan, exhausted, broods on his fate. His situation seems hopeless to him, only the knowledge of having done his duty comforts him. In an ecstatic vision, he feels transported to heavenly freedom by an angel with Leonore’s features. Rocco and Fidelio arduously uncover a well. Florestan finally learns who the governor of the prison is and wants to pass the information to his wife in Seville. Fidelio now knows with certainty who the prisoner is. A light meal of bread and wine seems to be Florestan’s final enjoyment, as Pizarro is already approaching. However, when he goes to deliver the fatal blow, Fidelio steps between him and the prisoner: »First kill his wife!« She draws a pistol on Pizarro as he recovers himself, and at that moment the trumpet signal is heard. The arrival of the Minister promises a reversal of the situation: freedom for the oppressed, punishment for the oppressor. Pizarro rushes from the dungeon, Rocco dissociates himself from his former master, Leonore and Florestan fall happily into each other’s arms. The people and the prisoners greet the Minister, Don Fernando. At the behest of the king, he announces a general amnesty and the end of political despotism. In Florestan he recognizes the friend he thought dead. Leonore is permitted to remove the fetters from her long-imprisoned husband, Pizarro is arrested.
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SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
Bekanntlich hat Ludwig van Beethoven nur eine einzige Oper vollendet, diese aber in drei Fassungen. Die international zumeist gespielte letzte Version, die auch heute Abend erklingt, kam im Jahr 1814 im Wiener Kärntnertortheater zur Uraufführung. Der Wiederaufnahmen-Dirigent des Jahres 2023, Axel Kober, weist ab Seite 12 auf musikalische Besonderheiten der Partitur hin, die Komponistin Johanna Doderer weist in einem Essay einen sehr persönlichen Zugang zu dem Werk (ab Seite 45). Ab Seite 17 kommt der Regisseur der Produktion, Otto Schenk, in einem Interview mit Andreas Láng zu Wort. Dass Beethovens Opernpläne (es gab 53 verworfene Libretti) deutlich weiter reichten als nur bis zum Fidelio, beschreibt Robert Quitta ab Seite 40; über Vorgängerwerke anderer Komponisten respektive das damals gängige Modell der Rettungsoper ist ab Seite 28 bzw. Seite 24 zu lesen. Gustav Schörghofer setzt sich mit der gesellschaftlichen Wirkungskraft außerordentlicher Persönlichkeiten auseinander (ab Seite 58), Schlaglichter auf Aspekte des Werkes werfen auch Ernst Bloch (ab Seite 10), Diana Kempff (ab Seite 22), Konrad Paul Liessmann (ab Seite 50) und Klaus Adam (ab Seite 62). Ein Portrait des Librettisten Joseph Sonnleithner zeichnet Walter Dobner ab Seite 34, eine Charakteranalyse Pizarros gibt Andreas Láng ab Seite 66. Momentaufnahmen der Inszenierungs- und Ausstattungsgeschichte steuert Alexandra SteinerStrauss ab Seite 76 bei, über Fidelio und die Politik schreiben Oliver Láng (ab Seite 84) und Karl Löbl (ab Seite 90). ÜBER DIESES PROGR A M MBUCH
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Barry Cooper
» Beethovens Sichtweise seiner eigenen Kompositionen war geprägt von seiner Kunstauffassung der Musik als einer erhebenden Kraft. Er betrachtete es als seine Aufgabe als Künstler, die Menschheit durch seine Kunst einer göttlichen Ebene näher zu bringen. «
Ernst Bloch
NIRGENDS BRENNEN WIR GENAUER
Leid, wirre Hoffnung, Magie einer Treue ohnegleichen, in Pizarro der Dämon dieser Welt selbst auf der Bühne, und nun das ungeheure Grundspiel von Kampf, Not, Trompetensignal in die letzte Finsternis, Auferstehung. Von Anfang an spannt sich der Ton, ladet. Schon im leichten Vorspiel zwischen Marzelline und Jaquino ist Unruhe, ein Klopfen nicht nur von außen. Alles ist auf die Zukunft gestellt, selbst der Bedacht Roccos; auch darin gärt und zielt diese Musik, bloßer Wille, glücklich zu werden. Aber zugleich geschieht in diesem Drängen Vorwegnahme, ein Mitspielen des fernen, wahren Jetzt und Da, als wäre es schon hier. Der »innere Trieb« schäumt ebenso rasend an seinen Widerständen auf, wie er sein Zielbild in sich hat. Nicht-Haben und Haben zugleich, wie alle Liebe, erst recht wie die Treue. Scheu und bedroht lebt dieser »Stern der Müden«, in die Gegenwart ungeheuerer Gefahr eingebettet, doch ebenso fest und immerhin utopisch präsent. »Meinst du, ich könne dir nicht ins Herz sehen?«, fragt Rocco Leonore; und nun zieht sich die Szene zusammen, im Andante sostenuto eines Gesanges, der überhaupt nichts als sein Wunderbar aussingt, auf lauter Dunkelheit aufgetragen. Marzelline singt es für Leonore, die erst in der Ekstase ihren Farbenbogen und Stern sieht. Im Fürsich des Quartetts glänzte dies ferne Ziel noch still, aber in der großen Arie Leonores, im Gefangenenchor, in der Fieberekstase Florestans grell und hoch; nicht nur als Farbenbogen, sondern als Visionslicht ohnegleichen, in ungeheuren ER NST BLOCH
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Schlusskadenzen aufsteigend. Ja, zuweilen erscheint das utopische Präsens, auf das Fidelio insgesamt aufgetragen ist, noch tiefer. Als ein merkwürdiger Bann, als Augenblick, in dem sich gerade der »Augenblick«, die Höhe des erregtesten Lebens, selber fasst, die rasende Musik gleichsam senkrecht in sich hineinschlägt und verweilt. Diese Art, präsent zu sein, dehnt sich wenig aus, ist nicht breit versenkt wie das erste Quartett oder ekstatisch weit wie die Arien Leonores und Florestans. Doch ebensowenig ist sie ein bloßer flüchtiger Blitz, sondern eben jener Augenblick klingt an, den Faust verweilen lassen möchte und der doch dadurch nicht aufhört, ›Augenblick‹ zu sein. Seine senkrecht unergründliche Tiefe hat Dimension genug, um nicht flüchtig zu geraten; dennoch lässt sie sich immer nur ungefähr als Verweilen in der Zeit, in weiter Arien- und Chorentwicklung transponieren. Der hohe Schrei Leonores: »Töt’ erst sein Weib!«, das Trompetensignal, doch auch die ungeheure Ruhe des Flötengesangs dahinter hat diese gleichsam senkrechte Ewigkeit, als die das Jetzt und Da absoluter Nähe erscheint. Ihr Wesen ist Glorie tief innen, gleich, welches Tempo, ja, fast gleich, welcher empirisch schon definierbare Ausdruck hier gestellt wird. »O, Gott! welch ein Augenblick!«, singt Leonore an der höchsten Stelle des Werkes, ganz umgeben von Musik des Jetzt; alle Wege Fidelios führen nach diesem Rom. Seine Musik wird daran völlig unmittelbar, aus dem Prozess und der Strategie heraus, ›seiend‹ wie sonst nichts auf der Welt.
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N IRGEN DS BR EN N EN W IR GENAU ER
Axel Kober
SCHLAGLICHTER AUF DIE FIDELIO-MUSIK
Beethovens Fidelio ist ein Werk doppelter Faktur: In manchem noch stark in der Singspiel-Welt verhaftet, weist die Oper gleichzeitig, was die Emotionalität und die Affinität zum Musikdrama anbelangt, bereits weit in die Zukunft. Für mich sind es gerade diese zweitgenannten Momente, die zu den großartigsten zählen, wenn Beethoven nämlich tatsächlich mit dem Singspielgedanken bricht und neue Wege geht. Das erlebt man zum ersten Mal bereits relativ früh in der Oper, und zwar beim sehr bekannten, sehr feinen Quartett von Leonore, Rocco, Marzelline und Jaquino (»Mir ist so wunderbar«), in dem die Zeit stehen zu bleiben scheint. Nicht nur musikalisch, sondern buchstäblich und durch die Handlung ausgedrückt: Jede und jeder hält inne und hängt hochpersönlichen Überlegungen nach. Beethoven führt dieses Quartett als Kanon, es gibt also eine Verknüpfung in der Form – und doch steht jede Figur alleine für sich und ist mit der eigenen Gedankenwelt beschäftigt. An dieser Stelle tritt auch eine der Herausforderungen (um das Wort Probleme nicht zu verwenden) der Oper deutlich hervor: Beethoven führt die Gesangsstimmen sehr instrumental, setzt sie also ein, als ob sie Musikinstrumente wären und ignoriert die gänzlich anderen Bedürfnisse, die der menschliche Vokalapparat mit sich bringt. Im Grunde könnte, rein von der kompositorischen Setzung her, der Abschnitt auch aus einem Streichquartett entstammen. A X EL KOBER
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Über diesen Aspekt der Beethoven’schen Kompositionstechnik wurde schon viel geschrieben, ob er es nun einfach so wollte oder nicht anders konnte – sein diesbezügliches Œuvre ist ja an diesbezüglichen Erfahrungen nicht sehr reich – tut letztlich für die ausführenden Künstlerinnen und Künstler wenig zur Sache: man muss sich mit dieser Herausforderung einfach auseinandersetzen. Eine gleich mehrfach bemerkenswerte Passage folgt dann etwas später, bei Leonores Rezitativ und Arie (»Abscheulicher, wo eilst du hin … Komm Hoffnung«) – eigentlich eine ganze Szene und ein großer Opernmoment mit allem, was das Musiktheater zu bieten hat: Hoffnung, Mut, Liebe, Treue, Bekräftigung und Emphase. Vom Sängerischen her eine ungemein brillante und ausdrucksstarke Passage, zu der ein von Beethoven höchst virtuos entworfener Horn-Quartettsatz, der noch einen zusätzlichen Glanzpunkt setzt, hinzutritt. Daran schließt direkt der Gefangenenchor an, der in seiner musikalischen Sprachlichkeit schlechterdings ein Meisterstück darstellt. Im Handlungslauf werden an dieser Stelle – auf Leonores Betreiben hin – zum ersten Mal die Türen der »leichteren« Verliese geöffnet, um den dort Inhaftierten einen Augenblick an freier Luft zu gewähren. Beethoven macht in den ersten Orchester-Takten, bevor der Chor einsetzt, musikalisch deutlich, wie die Menschen, die schon lange kein Tageslicht gesehen haben, nach oben steigen und sich in der sich klärenden Luft dem Licht entgegentasten. Diese kleine Zuversicht, die die Gefangenen gewonnen haben, wird jedoch – im Mittelteil – schnell von erneuter Angst (»Sprecht leise…«) getrübt. Wie da eine bedrückende Atmosphäre entsteht, wie mit ganz einfachen Streicherakkorden die Furcht vor dem Kerker spürbar gemacht wird, ist kompositorisch in hohem Maße beeindruckend. Anfang zweiter Akt, das große Vorspiel zur Florestan-Arie: Wir befinden uns in der Finsternis des Kerkers. In den ersten vier Takten erleben wir vier Akkorde, zweimal abwechselnd jeweils ein unisono Streicher- und ein harter Bläserakkord hintereinander. Letzterer ist wie aus einem Felsen gemeißelt, eine steinerne Mauer, gegen die man unvermittelt prallt. Das sind die Wände des Gefängnisses, die nicht zu durchdringen sind – ein höchst eindrucksvolles, eindeutiges und sich klar vermittelndes musikalisches Bild, das Beethoven hier präsentiert und mittels dessen er größtmögliche theatrale Wirkungskraft evoziert. Pure, dramatische Musik! In ebendiesen Kerker steigen später Rocco und Leonore hinab. Aus einem Melodram (also einem gesprochenen Text zu einer orchestral ausgeformten Musik), in dem Leonore darüber zweifelt, ob der Gefangene tatsächlich ihr gesuchter Ehemann ist, formt sich ein Übergang zu einem Duett von ihr und Rocco (»Nur hurtig fort, nur frisch gegraben«). In diesem Übergang, der zunächst nur eine leichte Begleitmusik ist, hört man plötzlich Triolen, also einen hämmernden Rhythmus, dann einen Posaunensatz und eine Figur, die 13
SCHLAGLICH T ER AU F DIE FIDELIO -MUSIK
nur von den Kontrabässen und vom Kontrafagott, das an dieser Stelle zum allerersten Mal in der gesamten Oper zum Einsatz kommt, gespielt wird. In der Uraufführungszeit muss das (da die Blasinstrumente Anfang des 19. Jahrhunderts technisch ja noch nicht so weit entwickelt waren wie heute) ein unerhörter Klangeffekt gewesen sein, also ein Näseln und Knirschen, teils fast mehr Geräusch als Ton. So erzeugte Beethoven eine Atmosphäre, die bedrückend und erschreckend ist und das Grauen dieser Szene klangbildhaft vermittelt. Ein schauriger Moment, kombiniert mit der Dunkelheit der Szene! Ein ganz charakteristischer Moment der Oper ist natürlich der Trompetenruf: am Höhepunkt des Dramas ein rettendes, alles lösendes Signal, das den Handlungsverlauf entscheidend wendet. Es kommt auch in der an der Wiener Staatsoper traditionell vor der letzten Szene eingefügten dritten Leonoren-Ouvertüre vor. Diese erzählt im Grunde die ganze Geschichte in komprimierter, rein orchestraler Form noch einmal. Ungemein bedrückend sind dabei gleich die ersten Takte, in denen man gleichsam in den Kerker hinabsteigt: eine nach unten führende, in der Instrumentation immer dunkler werdende Linie, die uns diese furchtbare Treppe nach unten zeigt. Die Leonoren-Ouvertüre als Einschub vor dem Finale ist übrigens für Dirigent und Orchester gar nicht einfach, da es sich – wie gesagt – um eine verkürzte, in der Musik erzählte Verdopplung der Geschichte handelt und man sich nach dem befreienden, euphorisch-jubelnden »O namenlose Freude« (Duett Leonore-Florestan) noch einmal in das Elend und Grauen des Kerkers rückwärtsbewegt. Und natürlich, das »O namenlose Freude«: Ein unfassbares Musikstück, mit diesem pulsierenden Rhythmus, diesem unbändigen Glück, ein Duett, das stets mitreißt – und eine enorme Herausforderung für die beiden Sänger darstellt. Eigentlich bräuchte man für Leonore und Florestan jeweils mindestens zwei unterschiedliche Künstlerinnen bzw. Künstler. Denn was die Partitur von ihnen abverlangt, liegt mitunter in den Anforderungen enorm weit auseinander: Einerseits muss Leonore etwa in der bereits erwähnten Arie (»Komm Hoffnung«) eine schöne Mittellage und große Fülle zeigen, gleichzeitig in der »Namenlosen Freude« ein hohes Tempo, verbunden mit dramatischer Kraft aufbieten können. Nicht weniger schwierig die Partie des Florestan. Auch hier wieder die Frage, was sich Beethoven beim kompositorischen Ausformulieren der Ansprüche überlegt hat? Aber, wie sagte er andernorts, als sich der Geiger Ignaz Schuppanzigh über die die damaligen Verhältnisse überfordernden spieltechnischen Herausforderung eines Beethoven’schen Werks beschwerte? »Glaubt Er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?« Hier müssen die Interpretinnen und Interpreten einfach versuchen, den enormen Anforderungen Beethovens zu genügen – was der herausragenden Besetzung der Wiederaufnahme ja bra- → Brandon vourös gelingt! Jovanovich als Florestan
SCHLAGLICH T ER AU F DIE FIDELIO -MUSIK
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BERNSTEIN HAT GEWEINT Andreas Láng im Gespräch mit Regisseur KSCH Otto Schenk
Einer der besten inszenatorischen Lösungen des Beginns des Schlussbildes von Beethovens Fidelio in Ihrer Regie ist jene der sich öffnenden Zugbrücke: Können Sie sich erinnern, wie es zu dieser Idee kam? Die Zugbrücke wird in der Oper ja einmal erwähnt. Und in diesem Zusammenhang ist uns, Günther Schneider-Siemssen und mir, damals eingefallen, diese Zugbrücke als Freiheitssymbol zu verwenden. Ein aufgehendes Tor hätte uns nicht so gut gefallen wie die sich öffnende Zugbrücke. Eine Zugbrücke hat an sich schon so etwas Geschlossenes, etwas Gefängnishaftes. Und wenn sie sich schließlich öffnet und quasi ein Lichtmeer freigibt – mit den sich umarmenden Menschen –, das hat schon etwas. Ich habe von meinem Chor verlangt, dass die Wartenden von der einen Seite und die Befreiten von der anderen aufeinander zurennen und sich so richtig festhalten, nachdem sich die Zugbrücke endlich vollständig niedergesenkt hat. Erst dann kommt das »Heil sei dem Tag, heil sei der Stunde« fast als Resultat der Befreiung. Bei diesen Umarmungen sind mir übrigens die Heimkehrer von 1945 vorgeschwebt, als der Krieg aus war, als die Befreiung von der Tyrannei da war. Dieses wilde, ungestüme Ins-Arm-Fallen der wieder vereinten Menschen hat mich damals enorm erschüttert. OTTO SCHENK
Wieso hat sich Fidelio zu dieser mythischen Freiheitsoper emporstilisiert und nicht etwa Le nozze di Figaro, wo es ja auch irgendwie um Freiheit geht? Fidelio besitzt ein strittiges Libretto mit vielen Ecken und Kanten. Man weiß beispielsweise nicht, was das für Gefangene sind, die da befreit werden. Unschuldige? Politische Häftlinge? Es geht OS
← Anja Kampe als Leonore
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KSCH OT TO SCHEN K IM GE SPR ÄCH
in Fidelio, gewollt oder ungewollt, auch um das Mitläufertum. Rocco ist so ein typischer Mitläufer, ein guter Kerl zwar, der aber keine Möglichkeit hat, sich zu wehren. Auf der anderen Seite steht Leonore, diese Frau, von der die Befreiung ausgeht. Eine sensationelle Idee, die Beethoven im ersten Akt unter anderem mit ihrer großartigen Arie bedient hat. Wir erleben in Fidelio außerdem die Schwierigkeiten im Gefängnis. Trotz aller Strittigkeit ist in Fidelio aber alles durchdrungen von dem, was Beethoven so begeistert hat. Die Stellen, die im Libretto so große Kraft besitzen, haben ihn zu einer eruptiven Musik, zu einer zärtlichen Musik, zu einer Musik der Liebe verleitet. Die inhaltlich berührenden Momente sind so essenziell, dass sie Beethoven zu seiner einzigen Oper hingerissen haben. Und dieses Hingerissene von Beethoven überträgt sich auf die Zuhörer. Mozarts Figaro zeigt etwas ganz anderes, eine humoristische Revolution, die ums Eck geht, in der die Intrige arbeitet. In Fidelio geht es hingegen so richtig um die Sache, ums Eing’machte, wie man bei uns so schön sagt, und man verliert als Interpret bald die Angst, dass irgendetwas in der Handlung unlogisch sein könnte. Ich habe sie beim Inszenieren jedenfalls verloren. Fidelio beginnt mit einer fast lortzingartigen Idylle, aus der auf einmal ein seltsames Quartett aufblüht. Ein Quartett, von dem plötzlich eine Wehmut, ein Weltschmerz herüberweht. Die ganz nette, fast dumme Arie des Rocco könnte wieder von Lortzing sein. Aber dann: Dann tritt dieser Schreibtischtäter auf, der verzweifelt-bösartige Pizarro, der von Vornherein schon so unheimlich wirkt. Ich wollte ihn im Grunde gar nicht dämonisch, sondern so schrecklich sachlich böse haben. Bei meiner Premiere hat es Theo Adam ganz wunderbar gemacht: Er war geradezu wie ein intellektuelles Messer, ein wirklicher Täter. Wenig später hört man diesen unendlich rührenden Gefangenenchor, bei dem man nicht weiß, was weh tut und was nicht weh tut. Bis tief ins Innerste hinein rührt uns weiters das Schicksal der an sich schwachen Frau Leonore, die diesen seltsamen Posten antritt. In ihrer Arie bricht plötzlich eine Leidenschaft hervor, von der Marcel Prawy einmal gesagt hat: »Das war der Moment, von dem an man zu einer Musik nicht mehr speisen, nicht mehr Kaffee trinken konnte, ein Markstein sozusagen.« Im Schlussbild folgt dann der lange Jubel, der fälschlicherweise als Oratorium gedeutet wird. Für mich war das immer ein wahnsinniger, nicht enden wollender Jubel darüber, dass endlich etwas zerbrochen ist und dass eine Frau die Rettung gebracht hat. Und stellvertretend für alle steht das Paar Leonore-Florestan. Es ist ein Jubel, wie er in der Opernliteratur in dieser Länge, Intensität und Schwierigkeit ihn darzustellen kaum existiert. Nicht umsonst wird die szenische Umsetzung ja oft geschwänzt. Bei der Premiere hatten alle Chormitglieder Tränen der Rührung in den Augen. Die Gesichter sind ihnen geradezu zerflossen – sie waren ja nicht geschminkt, das habe ich nicht erlaubt. Die Gwyneth Jones, der James King... wir waren alle aufgelöst. Bernstein hat sowieso geweint. KSCH OT TO SCHEN K IM GE SPR ÄCH
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Verändert sich in irgendeiner Form der Blickwinkel des Regisseurs im Laufe der Jahre auf Fidelio, oder hat man immer diese Sturmund-Drang-Gefühle, wenn man an diese Oper herangeht? Naja, ohne Sturm-und-Drang-Gefühle kann man Fidelio nicht inszenieren. Aber ohne Sturm und Drang kann man überhaupt nicht Theater machen. Wenn man verkarstet ist und nicht mehr von der Leidenschaft, dem Fanatischen, dem Üblen in den jeweiligen großen Werken ergriffen wird, dann muss man sich zurückziehen. Im Moment kann ich aus meinem Herzen Gott sei Dank noch eine Mördergrube machen. OS
Wie kam es zu dieser Fidelio-Inszenierung? OS
Ich musste verführt werden. Von wem wurden Sie zum Fidelio verführt?
Vom damaligen Staatsoperndirektor Egon Hilbert. Hilbert meinte, dass geradezu ich den Fidelio inszenieren müsse, obwohl ich meinte, dass ich das doch nicht könne. Ich habe an mein Können nie wirklich geglaubt. Das waren Gott sei Dank immer andere, die an mich geglaubt haben. Wenn die einmal aussterben, dann möchte ich auch sterben (lächelt). Und ich habe dann meinerseits Leonard Bernstein zu diesem Projekt verführt. Ursprünglich hätte er ja die Urfassung des Fidelio machen sollen, an die ich übrigens nicht glaube. Diese Urfassung, das ist so eine Schreibtischliebe der Dramaturgen, die ein paar schöne Stellen aufweist. Aber Beethoven hat sich nicht umsonst zu etwas anderem entschlossen – was man respektieren sollte. Der hat ja irgendetwas von Musik verstanden. Und auch von der Dramaturgie, wie man sieht. OS
Machen Sie es beim Inszenieren so, dass Sie für jeden einzelnen der Charaktere eine Biografie erfinden, die Sie den Sängern mit auf den Weg geben? Nein, ich rede nicht gern über das Innenleben von Bühnengestalten. Ich liebe die Details, die das Innenleben verraten, und diese Details übe ich mit den Interpreten solange, bis sie das jeweilige Innenleben erspüren. Wenn man eine Rolle erklärt, macht man ein Gesicht, das nicht zur Rolle passt. Wenn ein Sänger seine Rolle erklärt, macht er ein pseudointellektuelles Gesicht, und ich sage in solchen Fällen immer: »Das, was du jetzt sagst, mag stimmen. Wie du ausschaust, ist aber nicht die Rolle.« OS
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BER NST EIN H AT GEW EIN T
Diana Kempff
EIN TRÜGERISCHES BILD
Wer ist Leonore? Was ist Leonore? Eine Jünglingin, ein trauter Traum, ein nasführendes Geschöpf, zusammengekleistert aus den Papierschnitzeln dreier Dichter, denen das Dichten misslang? Roccos Diener, der unentbehrliche Schließer, dem Schmied schaut er bei der Ausbesserung der Gefängnisketten auf die Finger, vereinigt die Tugenden einer umsichtigen Hausfrau mit denen des getreuen Knechts. Leonore ist im Oberen zu Haus, ins Untere darf sie nicht, dort schmachtet Florestan. Ihr Sinnen und Trachten ist stets darauf gerichtet, hinunter, hinunter, hinab zu ihm. Beruhigend, dass dort einmal nicht die Mütter sitzen, sondern der träumende Mann, dem sie erscheint, ein trügerisches Bild am Rande des Abgrunds. Wer ist Fidelio? Die Getreuin, die ihrem musikalischen Schöpfer den stimmlichen Jubel eingab? Was einst errungen, das holde Weib, will auch ertragen sein, zumal die Holden oft eine Unholdin an ihrer Kehrseite haben, die Macht. Wer sich so geschickt tarnt, sich in die Rolle des Geliebten begibt (Kleider, Habitus, ihm also gleich sein will), in chamäleonhafter Gier ihn beschattet, ihn, dem sie zum Licht wird, zur Vision der Erlösung – und was ist das überhaupt, dieses ganze Erlösungssyndrom, eine Krankheit wie Eifersucht oder Erkenntnisdrang? –, wer bereit ist, sich zu opfern, hat insgeheim den Wunsch, den Heros des Geliebten noch zu überflügeln. Ein Opernschicksal? Nicht nur. Zwischen Oper und Opfer steht nur das »f« vielleicht für Fidelio. Fernando, Florestan oder Fanfare. Während sich Leonore vor Florestan stellt: »Töt’ erst sein Weib!«, ist sie zum letzten Mal Fidelio, die Drommeten der Freiheit verwandeln sie endgültig in Leonore. DI A NA K EMPFF
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»Was ist die dramatische Handlung des Textes der Oper Leonore anderes, als eine fast widerwärtige Abschwächung des in der Ouvertüre erlebten Dramas, etwa wie ein langweilig erläuternder Kommentar des Gervinus zu einer Scene des Shakespeare?« (Richard Wagner: Beethoven) Leonore und Florestan, wer sind sie? Ein nebulöses Hirngespinst? Ein Vereinigungsmechanismus der im platonischen Sinne entzweigeschnittenen Kugel, die sich wieder zusammenfügt, der scheinbaren Ganzheit teilhaftig? Fidelio, Leonore: ein Traum des kranken, fast wahnsinnigen Florestan. Wären sie verdorben, gestorben, wären sie das unideale Paar von Fanfaren; da sie aber nicht zugrunde gehen durften, bleiben sie ein Papierpaar, so schön sie auch singen, und schöner singt doch jeder für sich allein. So jedenfalls hat es Beethoven gewusst und geschrieben in Florestans Klage: »Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille! Öd ist es um mich her. Nichts lebet außer mir.« Wer aber zu sterben begann und dabei unterbrochen wurde, ist zum ewigen Leben verurteilt. P. S. Wer ist Leonore später, zwanzig Jahre danach? Ich stelle mir vor: Kinder, Sticken, Küche und Keller. Im Keller befällt sie ein regelrechtes Zögern, eine zaghafte Hemmung. Sie atmet den Modergeruch, verweilt vor dem Apfelregal, wendet die Früchte. Die Schürze wölbt sich über dem schwer gewordenen Leib. Sie bewegt sich mit der Trägheit alternder Frauen, in der süßlichen Schwüle vergisst sie, warum sie kam. Irgendwas wollte sie holen. Sie setzt sich auf eine Treppenstufe, der Schlüsselbund an ihrer Taille klirrt. Schräg gegenüber lehnt ein zerbrochener Spiegel, das obere Drittel ist herausgebrochen, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen ist. Neben dem Spiegel der Schrank, ihr eigener, etwas muss ich für mich alleine haben, du verstehst? Gewiss, meine Liebe. Florestan, ein höherer Beamter, geachtet in der Provinz, hat sich nach einer Blitzkarriere in der Hauptstadt zurückgezogen aus der Politik. Listige Leute meinen, er sei untauglich für dies Geschäft. Ein Undiplomat, dessen eigene Frau dem Pizarro die Pistole an die Brust gesetzt... so einer, nein, das ginge nicht an... Der Pizarro ein Bösewicht, ein Tyrann? Niemals. Wer so hohe Ämter bekleidet, muss auch ehrenwert sein. Der Minister Fernando hingegen, der dem Wahnwitz erlegen, Gefangene als Brüder zu bezeichnen, sei schon seit Langem in Verwahrung. Leonore holt das Fideliogewand aus dem Schrank, sie prüft die Kleider vor dem Spiegel. Nach ein paar zögernden Schritten schließt sie das alles wieder fort und geht zurück nach oben.
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EIN T RÜGER ISCHE S BILD
Oliver Láng
DIE RETTUNGSOPER ALS MODELL VORLAGE FÜR DEN FIDELIO
Nicht nur politisch, nicht nur gesellschaftlich, menschlich oder ideologisch stellte die Französische Revolution eine historische Zäsur dar, auch kulturell, in einer sehr großen Bandbreite, war sie von entscheidender Bedeutung. Wie alle Themen, die die Menschheit bewegten, setzte auch in diesem Fall eine umfassende literarische, musikalische und dramatische Aufarbeitung der geschichtlichen Situation und Geschehnisse ein. Von unterschiedlichen Seiten wurde das Ereignete beleuchtet, einzelne Topoi bildeten sich bald heraus. Gerechtigkeit – Ungerechtigkeit, Hoffnung – Verzweiflung, Terror – Befreiung, zahllose Gegensatzpaare spannten sich um das Jahr 1789 und die folgenden, die Revolution wurde zum zentralen Ereignismoment, über das allerlei Geschichten, privater oder öffentlicher Natur, wie Folien gelegt wurden. Dabei wurde auch ein Genre aufgegriffen und tendenziell neu ausgerichtet, dessen Wurzeln deutlich weiter zurückreichen: die Rettungsoper. Das Element der Rettung eines Unschuldigen hatte sich zuvor als eigenständiger Erzählstrang herausgebildet, wurde im Zuge der Revolution teils mit politischen, sozialen OLI V ER LÁ NG
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Aspekten angereichert, behielt aber auch – und besonders – in den Zeiten der Gewalt das Motiv der finalen Erlösung. »Die Tradition des lieto fine und des meraviglioso (des Wunderbaren) war in der Oper fest verwurzelt, und zwar aus Gründen, an denen der Einspruch literarisch inspirierter Opernreformer immer wieder scheiterte«, schrieb der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus im Zusammenhang mit dem Spannungsverhältnis Revolutionscontra Rettungsoper. Als ein bekanntes Beispiel einer vorrevolutionären Rettungsoper, die in der Vorgeschichte von Beethovens Fidelio Bedeutung erlangt hat, wird gerne Pierre-Alexandre Monsignys Le Déserteur (Libretto: Michel-Jean Sedaine) angeführt, uraufgeführt im Jahr 1769 in Paris. Diese Oper, die auf einer wahren, wenn auch für Theaterzwecke veränderten, Geschichte basiert, erzählt vom Soldaten Alexis, der von einer Herzogin einer Liebesprobe unterzogen wird und im Zuge dieser seine Verlobte bei einer fingierten Hochzeit als vermeintliche Braut erblickt. Wutentbrannt sucht er das Weite, passiert die flämische Grenze und wird als Deserteur gefasst und zum Tode verurteilt. Seiner mutigen Braut Louise gelingt es, das Herz des Königs zu erweichen – Alexis wird begnadigt. Derselbe Librettist – Michel-Jean Sedaine – verfasste einige Jahre später ein weiteres, thematisch in seinem Kern verwandtes Werk, das freilich einen gänzlich anderen Handlungskern aufweist: Richard Cœur de Lion, Musik: André-Ernest-Modeste Grétry, 1784 in Paris uraufgeführt, zeichnet die Gefangenschaft und Befreiung Richard Löwenherz’ nach. Dieser singt unter anderem im zweiten Akt eine Gefangenschafts-Arie und tröstet sich durch die Erinnerung an seine Braut Marguerite, bis er schließlich durch den Spielmann Blondel – und Marguerite – gerettet wird. Das Werk endet versöhnlich in zweierlei Liebesglück: einerseits jenem von Löwenherz und andererseits von jenem des ihn inhaftierenden Gouverneurs (der Florestan heißt). Auch hier der Kerker-Topos, das Rettungs-/Befreiungs-Element, die ungerechte Gefangennahme, die an der Befreiung mitwirkende Geliebte und ein jubelndes Freiheits-Schlusstableau. Ein Komponist, der gleich mehrere Werke dieser Gattung verfasste, war Luigi Cherubini, der unter anderem mit seiner Oper Elisa ou Le Voyage aux glaciers du Mont St. Bernard (Elisa oder Die Reise auf den Sankt Bernhard, Uraufführung in Paris 1794) eine besondere Variation des Errettungsbedürfnisses entwarf. Der junge Maler Florindo sucht nach vermeintlichem Liebesunglück sein Ende in den stürmischen Unwettern eines Gebirges und muss aus einer Lawine gerettet werden; hier ist es kein verworfener Despot, der für das Unglück sorgt, sondern die Urkraft der Natur; die Rettung unterliegt himmlischer Macht in Vertretung des Priors eines Hospizes. Wiederzuerkennen ist jedenfalls die sich auf die Suche machende liebende Frau, die nach einem dramatischen Finale ihren Geliebten gerettet in die Arme schließen darf. Zuvor schon, 1791, hatte Cherubini die dreiaktige Oper Lodoïska herausgebracht, in der die Fürstentochter Lodoïska vom tyrannischen 25
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Baron Dourlinski gefangen gehalten wird, nachdem sie seinen Werbungsversuchen widerstanden hat. Auch ihr Geliebter Graf Floreski wird bei seinem Rettungsversuch gefangengesetzt; erst ein Angriff befreundeter Tataren rettet das Liebespaar und macht ihrerseits den Baron zum Gefangenen. Cherubini entwarf ein wirkungsvolles Schlussbild, in dem über dem brennenden Schloss das Liebespaar seine Rettung erlebt: die unmittelbare Nähe zur Revolution zeichnete sich in der kriegerischen Zerstörung des Palastes sowie der Inhaftierung eines Adeligen ab und gaben dem Geschehen einen eminent politischen Beigeschmack. Ein Werk dieses Genres, das in einem direkten Zusammenhang mit Beethovens Fidelio steht, ist Luigi Cherubinis Der Wasserträger, zu dem JeanNicolas Bouilly den Text schrieb. In dieser Oper gibt es zunächst eine politische Komponente, da die verfolgte Person ein Parlamentspräsident namens Armand ist, der durch Kardinal Mazarin gefügig gemacht werden soll; darüber hinaus war dem Publikum der Uraufführung (im Jahr 1800) klar, dass das Autorenpaar mit der Handlung auf die Revolutionsnachwehen anspielte, also das Werk in einen zeitaktuellen Kontext stellte. Auch ist das Element der Verkleidung in dieser Oper ein zentrales, da sich das auf der Flucht befindliche adelige Paar auf diese Weise unkenntlich zu machen versucht. Jedenfalls handelt Der Wasserträger von der Flucht des Grafen Armand und seiner Gattin Constance, die von der Familie des Wasserträgers Mikéli tatkräftig unterstützt wird. Als zuletzt die Häscher Mazarins das Paar verhaften, trifft im letzten Moment ein Errettungsbefehl durch die Königin ein. Bouilly legte Wert auf die humanistische Aussage der Oper, er wollte seinem Publikum eine Lektion der Menschlichkeit geben; wichtiger noch: Die sozialen Grenzen sind in diesem Werk in beide Richtungen aufgehoben. Einerseits wird der adelige Protagonist menschlich und für die Armen sorgend gezeichnet, andererseits durchbricht er auf der Flucht die gesellschaftlichen Schranken »nach unten« und verkleidet sich als Wasserträger. Diese wiederum retten Personen des höheren Standes – die Frage nach adelig oder nicht-adelig stellt sich also im sozialen Handeln der Figuren nicht. Dass die Tochter des Wasserträgers Marcelina heißt, sei nur als Detail genannt, wie auch der Hinweis, dass Georg Friedrich Treitschke, der bekanntlich am Fidelio-Text mitwirkte, eine deutsche Übersetzung des Wasserträgers vornahm. Der erwähnte Librettist, Jean-Nicolas Bouilly, wurde 1763 in Joué-lèsTours geboren, studierte Rechtswissenschaften, widmete sich in gleichen Maßen auch der Literatur. Gerüchten zufolge hatte er von Marie-Antoinette für das Libretto zu der Grétry-Oper Pierre le Grand als Anerkennung eine Tabatiere erhalten – und diese nach Ausbruch der Revolution »als Opfergabe« den neuen politischen Kräften dargebracht. Jedenfalls wirkte er später als »öffentlicher Ankläger« und erlebte in dieser Funktion, wie er berichtete, jene berührende Geschichte, die als Kern zur Opergeschichte werden sollte: Ein Unschuldiger leidet verschollen in einem Gefängnis und erwartet seinen OLI V ER LÁ NG
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Tod. Seine Gemahlin macht sich, als Mann verkleidet, auf die Suche, wird Hilfskraft eines Kerkermeisters und rettet schließlich den Geliebten. Und da Bouilly eben nicht nur Jurist, sondern auch Literat war, lag es nahe, aus dieser Geschichte einen Opernstoff zu machen. 1798 kam im Pariser Théâtre Fey deau die Oper unter dem Titel Léonore ou L’Amour conjugal zur Uraufführung, Komponist war Pierre Gaveaux (1760-1825), der besonders auch als Verfasser des Anti-Jacobiner-Liedes Le réveil du peuple bekannt geworden war. Dieser Leonoren-Stoff wurde bald populär: Ferdinando Paër vertonte das ins Italienische übertragene Libretto und brachte seine Opernfassung (Leonora ossia L’Amor conjugale) in Dresden zur Uraufführung; ein Jahr später folgte Simon Mayr in Padua ebenfalls mit L’amor coniugale. Dazwischen entstand die Fidelio-Fassung von Beethoven, die ebenfalls auf das, diesmal ins Deutsche übersetzte, Libretto von Jean-Nicolas Bouilly fußt: und dieses Werk sorgt für die Bekanntheit des sonst in Vergessenheit geratenen Genres der Rettungsoper.
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Robert Quitta
LEONORA UND LEONORE
Beethoven und Paërs Vorgängeroper
Kommt Ihnen diese Inhaltsangabe irgendwie bekannt vor? »Da Florestano versucht hat, die düsteren politischen Machenschaften des Gouverneurs Pizarro aufzudecken, wurde er von diesem in den Kerker eines spanischen Gefängnisses geworfen, wo er inzwischen seit zwei Jahren schmachtet. Während viele den spurlos Verschwundenen bereits für tot halten, glaubt seine Gattin Leonore fest daran, dass er gefangen gehalten wird und noch am Leben ist. Es gelingt ihr – unter dem Namen »Fedele« als Mann verkleidet – in dem Gefängnis, wo sie Florestano vermutet, eine Anstellung als Gehilfe des Kerkermeisters Rocco zu erhalten. Roccos Tochter Marcellina hat sich in »Fedele« verliebt, und deshalb für ihren Verehrer Giachino nichts mehr übrig. Leonora alias Fedele arbeitet hart, um Roccos Gunst zu gewinnen, was ihm auch gelingt. Der Gefängniswärter sieht in ihm den künftigen Schwiegersohn und erlaubt ihm, ihn bei der Versorgung der politischen Gefangenen zu begleiten. Dort ist einer, dessen Name Rocco nicht kennt, von dem er aber weiß, dass er den Hungertod sterben soll. Pizarro entnimmt der eingegangenen Post, dass der Minister erfahren hat, er halte illegal Personen in Haft. Besonders muss er Don Fernandos Zorn wegen Florestanos Inhaftierung fürchten und beschließt, den verhassten Feind in der nächsten Stunde zu töten. Ein Trompeter soll Ausschau halten und beim Herannahen des Ministers Signal blasen. Im Kerker beklagt Florestano sein Schicksal und sinkt erschöpft zu Boden. Als Rocco und Leonora den Kerker betreten, entdeckt Leonora den Bewusstlosen, kann ihn aber in der Dunkelheit nicht erkennen. Zusammen mit Rocco beginnt sie einen verschütteten Brunnen, in dem Florestano sein Grab finden soll, freizuschaufeln. Als der Gefangene um Wasser bittet, erkennt Leonora ihren Gatten an der Stimme. Ein Maskierter tritt ein und will Florestano töten, doch Leonora wirft sich dazwischen und fleht Rocco um Hilfe an. Der Mörder demaskiert sich: es ist Pizarro. Er befiehlt Rocco ihm zu helfen, Florestano und Leonora zu trennen. Leonora zieht eine Pistole, vor der Pizarro jedoch nicht zurückschreckt, sondern mit gesteigerter Wut erneut mit dem Dolch auf Florestano eindringt. Im Moment höchster Not erklingt das Trompetensignal, das die Ankunft des Ministers ankündigt.« Natürlich kommt Ihnen diese Handlung bekannt vor, denn schließlich haben wir sie alle mit der musikalischen Muttermilch aufgesogen. Aber nein, es handelt dabei sich nicht um die Inhaltsangabe von Fidelio von Ludwig van Beethoven und nein, es liegen keine Druckfehler vor, es heißt hier wirklich Florestano und Fedele (und nicht Fidelio), denn wir lesen nicht die Inhaltsangabe von Beethovens Meisterwerk, sondern die der Oper LEONORA (mit A! ) von Ferdinando Paër. Paër? Ferdinando Paër (in Deutschland manchmal auch fälschlicherweise Pār geschrieben) war einer der wichtigsten Komponisten der sogenannten »Brücken- oder Zwischenzeit«. 1771 in Parma geboren (als österrei 29
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chischer Staatsbürger), studierte zuerst in seiner Heimatstadt, bevor er in Neapel seine Ausbildung am »Conservatorio della Pietà de Turchini« fortsetzte. Er debütierte 1789 mit der komischen Oper La locanda de’ vagabondi, 1791 wurde er Theaterkapellmeister in Venedig, 1797 übte er diese Tätigkeit dann in Wien aus. Von 1802 bis 1806 war er Kapellmeister am (nicht mehr existierenden) Morettischen Opernhaus in Dresden, von 1812 bis 1827 dann Kapellmeister an der italienischen Oper in Paris. Paër schrieb ungefähr 44 Opern, die zu seiner Lebenszeit sehr erfolgreich und bekannt waren, außerdem Oratorien, Kantaten, Gesangswerke, Klavierstücke u.a. Er starb am 17. Mai 1839 in Paris. Seine Oper Leonora ossia L’Amor conjugale (Originalbezeichnung: fatto storico) wurde am 3. Oktober 1804 in Dresden im kleinen kurfürstlichen Theater (Morettisches Opernhaus) uraufgeführt, und zwar in italienischer Sprache. Die Hauptrollen verkörperten Francesca Riccardi-Paër (Leonora) und Antonio Peregrino Benelli (Florestano). Bereits 1930 wurde von dem Musikhistoriker Richard Engländer eine genauere Betrachtung der Paër’schen Leonora unternommen, denn der li brettistische Befund musste doch einfach hellhörig machen: Engländer argumentiert, dass Beethoven und sein Textdichter Sonnleithner Paërs Leonora studiert haben müssen und dass alle drei Fidelio-Versionen dem »Vorgänger modell« viel zu verdanken haben. Das klingt insofern sehr plausibel, als sich die Komponisten persönlich kannten. Beide kamen 1792 nach Wien, der aus Parma gebürtige Paër als Kapellmeister, Beethoven als freier Künstler. Paër suchte den freundschaftlichen Kontakt mit dem gleichaltrigen Beethoven, welcher ihn künstlerisch beeinflusste, aber auch seinerseits von Paër Anregungen empfing. Beethoven besaß unbestrittenerweise außerdem eine Partitur von Paërs Oper. Engländer suggeriert, dass Paër bei seinem Wien-Besuch von 1803 seinem Kollegen das Sujet näherbrachte, und dass seine Dresdner Leonora eine entscheidende Verbindung zwischen Gaveaux’ Ur-Leonore und dem Fidelio darstellt. Dazu kommt noch, dass Paërs Werk im Palais von Beethovens Hauptgönner, dem Fürsten Lobkowitz, seine Wiener privat »Preview« erlebte – mit Louise Müller in der Titelpartie (der späteren Marzelline im Fidelio). Engländer macht aber nicht nur librettistische, sondern auch verblüffende musikalische »Parallelen« aus: vor allem in den Szenen »Abscheulicher! Wo gehest du hin?« und »Wer ein holdes Weib errungen«... Die »Beweislast« für eine Beeinflussung des großen Meisters durch Paër ist also erdrückend, und Richard Engländer hatte das bereits ausführlich und erschöpfend dokumentiert. Die Frage ist nur, warum die Beethovenforscher bis heute diese Fakten so beharrlich zu leugnen bzw. alle Indizien in ihr Gegenteil zu verkehren versuchen? Ja, der Heilige Ludwig hatte zwar die Paër’sche Partitur, aber man weiß ROBERT QU IT TA
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nicht, wann er sie erworben hat. Ja, ein paar Melodien sind deckungsgleich, aber das waren halt musikalische Standards dieser Zeit... usw. usf. Mit Händen und Füßen, mit Zähnen und Klauen verteidigt man völlig verzweifelt die jungfräuliche Ehre des teutschen, vom Himmel gefallenen titanischen Originalgenies. Thomas Betzwieser, der Herausgeber der neuen kritischen Ausgabe von Paërs Leonora, führt die Tatsache, dass Richard Eng länders Thesen so beharrlich und so aggressiv geleugnet wurden, schon auch auf den Umstand zurück, dass Engländer Jude war und 1939 aus Deutschland fliehen musste... Aber wozu diese Realitätsverweigerung? Es ist doch keine Schmach und keine Schande, Einflüsse aufzunehmen und zu verarbeiten! Das hat doch schon Bach gemacht! Und Mozart... Betzwieser meint sogar, dass die Leonora, rein formal betrachtet, das in sich geschlossenere Werk ist, weil man Beethovens drei Opern bei all seiner Genialität das zehnjahrelange Ringen um den Stoff doch sehr deutlich anmerkt.
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LEONOR A U N D LEONOR E
Walter Dobner
BEETHOVENS ERSTER OPERNLIBRETTIST
Anmerkungen zu Joseph Sonnleithner
Ludwig van Beethovens einzige Oper, Fidelio, beruht – der Legende nach – auf einer wahren Begebenheit: Eine Frau hatte sich, verkleidet als junger Mann, Zutritt in ein Gefängnis verschafft, um ihren Gatten aus seiner ungerechtfertigten Gefangenschaft zu befreien. Aus diesem Vorfall formte in den späten 1790er-Jahren Jean-Nicolas Bouilly ein Opernlibretto. Angeblich war er selbst Zeuge dieses Geschehens, vielleicht sogar mehr. Denn Bouilly leitete während der Jahre der französischen Diktatur einen Verwaltungsbezirk in der Nähe von Tours. Hat der literarisch ambitionierte Beamte selbst diese Befreiung aus dem Gefängnis ermöglicht, sich gar in der Rolle des Ministers ein Denkmal gesetzt, wie einige mutmaßen? Früh erweckte dieses um Gattenliebe und Freiheit kreisende Geschehen das Interesse von Komponisten. Die erste Vertonung, Leónore ou L’Amour conjugal, stammt von dem 1760 in Béziers geborenen, 1825 in Charentonle-Pont nahe Paris verstorbenen Pierre Gaveaux. Uraufgeführt wurde diese opéra-comique 1798 im Théâtre Feydeau in Paris. Beethoven erlangte Kenntnis von diesem Sujet durch Ferdinando Paër, der einige Zeit als Kapellmeister am Wiener Kärntnertortheater wirkte und das Sujet unter dem Titel Leonora ossia l’Amor conjugale (Uraufführung 1804 in Dresden) vertonte. 1808 war Leonora oder Die eheliche Liebe, wie der Titel dieser Oper auf Deutsch lautet, erstmals in Wien zu sehen. Beethoven besaß von der Partitur eine Abschrift. Um diese Zeit entstand noch eine weitere italienische Fidelio-Vertonung: die farsa sentimentale L’amor coniugale des 1763 in Mendorf (heute Altmannstein bei Eichstätt) geborenen, 1845 in Bergamo verstorbenen Johann Simon Mayr. Sie war erstmals 1805 im Teatro Nuovo, Padua, zu hören. 1804 trat der Intendant des Theaters an der Wien, Peter von Braun, an Beethoven mit dem Wunsch heran, ein Bühnenwerk für sein Haus zu schreiben. Schon Ende 1803 hatte Beethoven Bouillys Libretto Joseph Sonnleithner gegeben, dass er daraus eine deutsche Version erstelle. »Ich bitte sie nun innigst zu sorgen, dass bis künftigen halben April das Buch, was den poetischen Theil betrift, ganz fertig sey, damit ich fort arbeiten kann und die Oper längstens bis Juni kann aufgeführt werden«, drängte der Komponist bald seinen Librettisten. Er selbst nahm sich eine Auszeit von seiner Oper, um die Klaviersonaten Opus 54 und 57 sowie das Tripelkonzert zu konzipieren, ehe er im Herbst 1804 die Arbeit an seiner Oper fortsetzte. Im Spätsommer 1805 lag die Partitur fertig vor. Dass sie nicht wie geplant am 15. Oktober, sondern erst ein Monat danach uraufgeführt werden konnte, lag zum einen an der Zensur, welcher der Inhalt dieser Novität zu revolutionär schien, zum anderen an einigen der Darsteller, die mit den Herausforderungen ihrer Rolle zu kämpfen hatten.
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Rechtswissenschaften und Kunst Wer also war Beethovens erster Librettist? Schon sein Vater, der 1734 in Szegedin geborene und 1786 in Wien gestorbene Dr. Christoph Sonnleithner hatte sich einen Namen als umfassend gebildeter Rechtswissenschaftler wie als Komponist, der seine Ausbildung bei Hofkompositeur Raimund Birk erhalten hatte, gemacht. Zusätzlich zu Jus hatte er auch Philosophie studiert. Neben seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt war er zeitweilig Dekan der juridischen Fakultät der Universität Wien. Eine Laufbahn, die auch der jüngste seiner Söhne einschlug: der 1770 in Wien geborene und 1831 dort verstorbene, in den Adelsstand erhobene Ignaz Sonnleithner. Auch er inskribierte Philosophie und Rechtwissenschaften, arbeitete als Advokat und Notar und wurde als Professor für Handelswissenschaften an die Universität Wien berufen. Sein 1801 erschienenes Lehrbuch zum Handelsrecht wurde zu einem Standardwerk. In seiner Wohnung veranstaltete der passionierte Sänger und Komponist jahrzehntelang Hauskonzerte, zu dessen Gästen auch Franz Schubert zählte. Seine Schwester, Anna Franziska, war die Mutter von Franz Grillparzer. Kunst und Rechtswissenschaften prägten ebenso den Lebensweg seines vier Jahre älteren Bruders Joseph, Beethovens Fidelio-Librettisten. Er machte in jungen Jahren die Bekanntschaft mit Mozart und Joseph Haydn und übersetzte früh griechische und römische Klassiker. Trotz seines großen Interesses für Literatur und seiner eminenten Sprachkenntnisse – er beherrschte perfekt Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch, Dänisch, Schwedisch, Niederländisch und Ungarisch, was er sich im Wesentlichen autodidaktisch angeeignet hatte – wählte er nach einem kurzen Intermezzo als Leiter einer von ihm gegründeten Buchdruckerei die Beamtenlaufbahn. Sonnleithner begann als Konzepts-Praktikant im Kreisamt Traiskirchen, wurde nach dem frühen Tod des Vaters von Kaiser Joseph II. in dessen Kabinett berufen und von diesem wiederholt eingeladen, ihm abends aus englischen Klassikern, vor allem Shakespeare, zu übersetzen. Nach dem Tod Josephs II. bekam Sonnleithner eine Pension und wurde Hofconcipist der Hofkanzlei. Auch der nachfolgende Herrscher, Kaiser Franz I., förderte seinen hoch gebildeten Hofbeamten. Er schickte ihn auf eine wissenschaftliche Reise nach Deutschland, Dänemark und Schweden, um Bildnisse und Biografien von Gelehrten und Künstlern für die kaiserliche Privatbibliothek zu sammeln. In Kopenhagen lernte Sonnleithner seine Frau, die Kaufmannstochter Johanna Wilhelmine Mariboe, kennen. Aus dieser Ehe gingen zwei Töchter hervor.
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Beamter und Librettist Zurück in Wien, zählte Joseph Sonnleithner zu den Gründern des Kunst- und Industrie-Comptoirs in Wien, das er in den wenigen Jahren seines Bestehens auch leitete. 1804 wurde er zum Hoftheatersekretär, was heute der Position eines Theaterintendanten entspricht, ernannt. Bis 1814 leitete er neben dem (alten) Burgtheater und dem Kärntnertortheater zeitweilig auch das Theater an der Wien. Er erweiterte das Repertoire durch Werke von Shakespeare und Calderon, gab Lustspiele, unter anderem von Tirso de Molina, heraus. In der Oper setzte er den Schwerpunkt auf italienische und deutsche Werke und verfasste eine Vielzahl von Opernlibretti. Darunter für mehrere Werke für den aus Budweis gebürtigen, in Wien verstorbenen Adalbert Mathias Gyrowetz, für Luigi Cherubinis Dreiakter Faniska und die erste Fassung von Beethovens Fidelio. Beethoven beharrte übrigens lange darauf, die Oper Leonore zu nennen. Das wollten die Verantwortlichen des Theaters an der Wien nicht, da sie Verwechslungen mit den bisherigen Leonore-Opern befürchteten. Deshalb entschied man sich als Werktitel für Fidelio, eine Bezeichnung, die einem Märchenspiel von Shakespeare, Cymbeline, entlehnt ist. Fidelio ist der Deckname für die Königstochter Imogen. Sie sucht in Männerkleidern nach ihrem Mann, den Intriganten der Untreue bezichtigen. Am 20. November 1805 erlebte Beethovens Oper unter dem Titel Fidelio oder Die eheliche Liebe ihre Uraufführung. Erfolg war es keiner. Bereits nach der dritten Aufführung am 22. November zog Beethoven das Werk zurück. War das Werk für das Publikum zu anspruchsvoll? Lag der Grund des Misserfolgs darin, dass Wien eben erst von den napoleonischen Truppen besetzt worden war und sich im Premierenpublikum zu einem Großteil französische Offiziere befanden, die offensichtlich andere Erwartungen an die Novität setzten? Beethoven überarbeitete schließlich das Werk, Georg Friedrich Treitschke wurde sein neuer Librettist. Die Frage, ob bei Fidelio der ersten oder den beiden folgenden Fassungen, von denen sich die letzte, am 23. Mai 1814 am Wiener Kärntnertortheater uraufgeführte, durchgesetzt hat, der Vorzug zu geben ist, beschäftigt nach wie vor Wissenschaftler wie Interpreten. Joseph Sonnleithners Libretto jedenfalls ist, wie etwa der Beethoven-Experte Lewis Lockwood ausführt, alles andere als schlecht, sondern vielmehr gut gemacht, wie ein Vergleich seiner Fassung mit den französischen und italienischen Versionen zeigt. Es entsprach den Forderungen an die Gattung des Melodramas durch die Kombination einer kleinen Intrige unter den Nebencharakteren (dem Gefängniswärter Rocco, seiner Tochter Marzelline und ihrem Verehrer Jaquino) mit kraftvoll-pathetischen Szenen für die Hauptdarsteller (die verkleidete Heldin Leonore, der leidende Gefangene Florestan und der verbrecherische Gefängnisgouverneur Pizarro). 37
BEET H OV ENS ERST ER OPER N LIBR ET T IST
Mitbegründer der Gesellschaft der Musikfreunde Auch ohne sein Fidelio-Libretto wäre Joseph Sonnleithner in die Musik geschichte eingegangen. Ebenso verdienstvoll wie diese Arbeit ist die durch ihn 1811 mitinitiierte Gründung der »Gesellschaft adeliger Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen«, für die er beinahe ein Vierteljahrhundert ehrenamtlich als Sekretär arbeitete und wofür ihm Kaiser Franz I. den Titel eines niederösterreichischen Regierungsrates verlieh. Aus dieser Gesellschaft ging die Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates – heute bekannt als Gesellschaft der Musikfreunde in Wien – hervor. Sonnleithner war auch maßgeblich an der Gründung des Konservatoriums der Gesellschaft, aus dem die Wiener Musikuniversität hervorging, sowie am Aufbau von deren Bibliothek und Archiv beteiligt. Bis zu seinem Lebensende wirkte er in deren leitendem Ausschuss und als unbesoldeter Sekretär. 1819 konnte er die Regierung noch von der Notwendigkeit einer offiziellen »Aufsammlung der österreichischen Volkslieder« überzeugen. Sie findet sich als Sonnleithner-Sammlung im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde im Wiener Musikverein. Diesem hat er auch 1830 seine Gemäldesammlung vermacht, darunter ein Ölporträt von Franz Schubert. Am 26. Dezember 1835 ist der mit zahlreichen in- und ausländischen Ehrenmitgliedschaften und Orden ausgezeichnete Joseph Sonnleithner, der ab 1815 als Hofagent bei den vereinigten Hofkanzleien, anschließend bei der Hofkammer im Münz- und Bergwesen, zuletzt beim Hofkriegsrat beschäftigt war, 69jährig in Wien verstorben. Humanität war die Seele seiner Gesinnung wie seiner That steht als Inschrift auf dem Grabstein dieses, wie es in einem Nachruf auf ihn heißt, bis zum Ende seines Lebens rastlos Tätigen und Fördernden.
BEET H OV ENS ERST ER OPER N LIBR ET T IST
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Elisabeth Schmierer
» Gegenüber der Vorlage Bouillys fanden in Beethovens Oper einerseits neue Tendenzen der Opéra comique Eingang – die Verherrlichung nicht nur der Gatten-, sondern allgemein der Menschenliebe (…); andererseits wurde dieses Ideal jedoch – besonders in der dritten Bearbeitung – ins fast Metaphysische gesteigert. «
Robert Quitta
BEETHOVENS 53 OPERN
Eine Wunschvorstellung
Ludwig van Beethoven war einer der produktivsten Komponisten aller Zeiten. Und zwar nicht nur für Klaviermusik, Symphonien, Trios, Lieder und Streichquartette, sondern auch für Opern. Außer Fidelio hat er noch 53 weitere Werke geschrieben, die bis heute auf allen großen Bühnen der Welt immer wieder gespielt werden. Die berühmtesten und beliebtesten davon sind: die wunderbare Phädra, der grandiose Macbeth (gegen den Verdis Version nie eine Chance hatte), der überwältigende Lear (wegen dem Verdi sein Lear-Projekt gleich ganz aufgab), die unvergleichliche Antigone, der tragische Brutus und der von ihm selbst als sein Opus magnum bezeichnete Nero. Sie haben von keiner dieser Opern je gehört? Keine Sorge, das ist keine grobe Bildungslücke Ihrerseits. Denn Beethoven hat sich zwar mit all diesen Stoffen beschäftigt, aber letztlich keinen davon vertont. Was uns bleibt, sind nur vage Pläne, ein paar Briefstellen und einige Skizzen mit dahingekritzelten Motiven. Rudolf Pecˇman zählt in seinem Buch Beethovens Opernpläne wirklich nicht weniger als 53 vom Meister verworfene Libretti. Mit dieser bedauerlichen Tatsache muss man sich leider abfinden. Aber träumen wird man doch wohl noch dürfen, was gewesen wäre, wenn...? Beethoven hat sich nämlich, was von seinem weltweiten Ruhm als Champion der Instrumentalmusik nachhaltig überschattet wird, zeit seines Lebens, von seiner Jugend in Bonn bis wenige Monate vor seinem Tod, intensivst für Musikdramatik interessiert. Und er hat ja letztlich auch viel für die Bühne geschrieben: Ballette, Schauspielmusiken, Einlagearien. Angefangen vom Ritterballett und Die Geschöpfe des Prometheus über Egmont, Die Ruinen von Athen und König Stephan bis zu Tarpeja, Die Weihe des Hauses und (schönster aller Titel!) Leonore Prohaska. Was wäre also naheliegender, was wäre also logischer gewesen, als dass der Meister auch eine ganze Reihe an »ganzen« Opern komponiert hätte? Libretti gab es, wie gesagt, genug, 53 an der Zahl. Interessanterweise sind keine Kriterien erkennbar, weder in der Auswahl noch in der Ablehnung. In Betracht gezogen wurden unter anderem: eine Alcina und eine Armida, Die Ruinen von Babylon, Odysseus’ Wiederkehr, Die Orestie, aber auch Das Märchen von der schönen Melusine, Claudine von Villa Bella und sogar Memnons Dreiklang, nachgeklungen in Dewajani, einem indischen Schäferspiele und Anahib, einem persischen Schäferspiele... Das zuletzt erwähnte Textbuch stammte übrigens vom berühmten, gerade nach Wien zurückgekehrten Orientalisten Hammer-Purgstall. Heinrich Joseph von Collin wiederum bot ihm einen Macbeth an (der ihm zu düster schien, aber von dem immerhin ein Hexenchor existiert) sowie einen bei der Befreiung Jerusalems spielenden Bradamante (in dem Beethoven aber zu viel »Zauberey« war). Ab Sommer 1808 dachte der Titan darüber nach, Goethes Faust. Der Tragödie Erster Teil zu vertonen. Trotz oder wegen der persönlichen Begegnung
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der beiden Genies in Teplitz und dem darauf folgenden Gerücht, dass der Geheimrat (der einen viel konventionelleren Musikgeschmack hatte) bereits an dem Opernlibretto arbeitete, wurde daraus dann doch wieder nichts. 1809 interessierte sich Beethoven für Johann August Apels Tragödie Kallirhoe und schrieb diesbezüglich an seinen Verleger Breitkopf & Härtel – ohne weitere Resultate. 1810 sandte ihm Hellmuth Winter sein Trauerspiel Theodor und Emilie oder Der Kampf der Leidenschaften und bat ihn, »diese Erstgeburt zu compo nieren«. Was offenbar auch in diesem Fall nicht geschehen ist. Das längste Fragment, das uns aus des Meisters aufgegebenen Opernprojekten erhalten geblieben ist, dauert zehn Minuten und datiert aus der Zeit, als Beethoven als »composer in residence« im Theater an der Wien wohnte. Das Textbuch stammt vom Hausherrn Emanuel Schikaneder: Vestas Feuer. Die Handlung dreht sich um die Heldin Volivia und ihren Liebhaber Sartagones. Auch Romenius, ein römischer Beamter, begehrt Volivia. Diese sucht Zuflucht vor seinen Avancen im Tempel der Vesta. Das liefert dem Bösewicht und seinen Soldaten einen Vorwand, um den Tempel zu zerstören – worauf das Heilige Feuer erlischt. Am Ende sind allerdings alle Übeltäter tot, entweder erstochen oder im Tiber ertränkt. Daraufhin entzündet sich das Heilige Feuer wie durch ein Wunder erneut. Volivia und Sartagones werden wieder vereint, und auch die Vestalinnen freuen sich. Allgemeiner Jubel. Beethoven hat nur die erste Szene des ersten Akts vertont. Schikaneder schildert die Ausgangssituation so: »Das Theater ist ein reizender Garten voller Zypressen; ein Wasserfall ergießt sich in der Mitte und läuft in einen Bach auf der rechten Seite. Auf der linken Seite ist ein Grab mit mehreren Stufen. Durch die Bäume scheint das Morgenrot.« Die Musik ist – erwartungsgemäß – ganz wunderbar. Dieser Meinung war offenbar auch Beethoven und übernahm – als er nach dem Bruch mit Schikaneder Vestas Feuer nicht weiter verfolgte – das Liebesduett Volivia-Sartagones nahezu unverändert in den gerade entstehenden Fidelio. Von dort her ist uns dieser orgiastische Jubelausbruch allen wohl bekannt: »O namen-namen-namenlose Freude...!« (In der monumentalen Beethoven-Box der Deutschen Grammophon findet sich zum Nachhören eine Einspielung dieses herrlichen Fragments.) Im anschließenden zehnjährigen Ringen um den Leonore/Fidelio-Stoff setzt sich Beethovens konfliktuelles Verhältnis zum Genre Oper direkt fort. Triftige Gründe dafür lassen sich beim besten Willen nicht erkennen. Das Genie litt doch sonst (bei allen Bemühungen um die bestgültigste Form) nicht an einem solchen »composer’s block«. Im Nachlass wurden ja nicht 53 unvollendete Klaviersonaten, 53 unvollendete Streichquartette oder 53 unvollendete Symphonien gefunden. Warum also dann gerade diese Opernneurose? Manche Forscher schieben diesen Umstand auf die mangelnde Qualität der Libretti. Das ist aber eine absolut lächerliche Ausrede. Denn abgesehen ROBERT QU IT TA
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davon, dass das Textbuch zum ersten Akt von Fidelio eines der unsäglichsten ist, das je seinen Weg auf die Bühne gefunden hat, werden unter 53 vom Meister selbst ins Auge gefassten Libretti doch wenigstens zwei oder drei gewesen sein, die er mit gutem Gewissen hätte vertonen können... Andere Forscher wiederum meinen, dass Beethovens Opernvorstellungen immer mehr ins Oratorienhafte abdrifteten – was man ja sowohl am Schluss des Fidelio als auch am letzten Satz der IX. Symphonie erkennen kann. Was von Richard Wagner dann scheinheiligerweise zur Rechtfertigung seiner Operntheorie missbraucht wurde... 54 Opernlibretti – und nur eine Oper. Welches Geheimnis steckt bloß hinter diesem Mysterium? Ich fürchte, selbst alle Psychoananalytiker der Welt werden das nie herausfinden können (Ein Mozart-Komplex? Frühkindliche traumatische Erfahrungen beim gemeinsamen Opernbesuch mit der Mutter in Bonn? Ein grundsätzlicher charakterlicher Unwille zum Dialogprinzip – auf dem ja schließlich alle Dramen und Opern basieren?) Wir werden es nie erfahren. Und wir werden vor allem nie erfahren, wie sich Beethovens Lear, Brutus oder Nero etc. angehört hätten. Es sei denn, dieselbe Künstliche Intelligenz, die gerade dabei ist, Ludwig vans X. Symphonie zu vollenden, findet anschließend noch Zeit und Inspiration, um sich zum Beispiel des Nero anzunehmen...
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BEET HOV ENS 53 OPER N
← Autographes Skizzenblatt zu Fidelio von Ludwig van Beethoven
Johanna Doderer
DIE SPRACHE JENSEITS DES WORTES
MEDIZIN Ich gehe – bevor ich zu einem Arzt oder einer Apotheke gehe – erst zu Beethoven. Seine Musik ist immer tröstend, immer groß, manche schreiben, sie ist »erhaben«. Manchmal spielerisch leicht, aber nie oberflächlich. Und dann, am Schluss – und dies immer – ist alles gut. FIDELIO Eine Oper, an der Opernliebhaber nicht vorbeikommen, auch ich nicht. Trotzdem hatte ich sie bis jetzt nur gestreift (vor mich hergeschoben), damit ich, falls ich dann eintauche, auch die Kraft habe, wieder aufzutauchen. Beim ersten intensiven Durchhören bin ich begeistert von der Pracht der Komposition und erschlagen von den vielen unterschiedlichen Texten, die meist, von mehreren Stimmen gleichzeitig, gesungen werden. 45
JOHANNA DODERER
Das Verhältnis zwischen Arien und Ensemblestellen ist fast ebenbürtig. An den Ensemblestellen versteht man kein Wort. Der Gefangenenchor bildet eine Ausnahme, der zählt mehr zu den Arien, kommt er diesen in seiner Einheitlichkeit näher als die Duette. Auch bei anderen Opern in deutscher Sprache lese ich fast immer den Text mit. Aber meist ist der Grund für die Unverständlichkeit vokaltechnischer, instrumentatorischer, sprachlicher oder akustischer Natur. Aber in Fidelio singen alle – und dies zu einem guten Anteil der Oper – gleichzeitig in unterschiedlichen Texten und Rhythmen. Und trotzdem wird in Fidelio sofort klar – und dies mehr als in der einheitlichsten Musik – um was es geht: Es geht um die Sprache jenseits des Wortes, um große, absolute Musik. STIMME ODER INSTRUMENT? Es gibt in dieser Oper eine große Anzahl musikalischer Themen, die allerdings nicht ganz eindeutig den einzelnen Charakteren zugeordnet werden können. In der Ouvertüre wird gleich zu Beginn das Thema zu Fidelio selbst vorgestellt: Als Marzelline in ihrem Zankduett mit Jaquino das erste Mal den Namen Fidelio ausspricht, wird es bestätigt und es erscheint das Motiv dann vollständig. Fi-(Achtel) de-(punktierte Achtel) li-(Sechzehntel) o-(Viertel) (In der Ouvertüre noch ohne den Achtelauftakt des »Fi-«) Beethovens Ansatz zur Oper und zu den Gesangspartien erfolgt über die Instrumentalmusik. Und gerade an diesem kurzen Motiv lässt sich erkennen, dass Beethovens Ansatz vor allem durch die Instrumentalmusik erfolgt. Er »instrumentalisiert« die Sänger, was sich auch in der Gesangstechnik, besonders in den technischen Anforderungen der Sänger auswirkt (Leonore). Gleich zu Beginn sind die musikalischen Dialoge im Duett Marzelline und Jaquino meist auf Imitation aufgebaut. Die Stimmen werden »instrumentalisiert« – Gesangslinien wandern von einer Gesangspartie in die andere, so dass sich wirklich eigenständige Farben zu den einzelnen Personen schwer zuordnen lassen. Alles dient dem großen musikalischen Gedanken. Beethoven hat fast ausschließlich Skizzen zu den Gesangspartien geschrieben. Zum Orchesterpart gibt es relativ wenige Skizzen. Aber auch bei den Gesangsskizzen wären diese ohne die Texte schwer bestimmbar. Die Worte fügen sich seiner musikdramatischen Sprache.
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DIE FARBEN Am markantesten zeigt sich die Instrumentation im Umgang mit den Blechbläsern. Auch wenn die Trompeten in der Schlüsselstelle eine entscheidende Rolle spielen (mit dem letzten Wort »tot« in dem Quartett »Er sterbe, doch er soll erst wissen«, setzt in allen Fassungen die Trompetenfanfare ein und kündigt die Ankunft des Ministers an), noch gewichtiger sind für Beethoven die Hörner. Der zentrale Moment in der Oper, welcher die handelnden Personen zum Strahlen oder zum Erlöschen (Pizarro) bringt, wird eingeleitet von einem satten Hörnerklang. Es geht weniger um die Hoffnung als um die bewusste Tat (auch wenn diese von der Hoffnung motiviert und getragen wird). Dies wird auch durch die Instrumentation deutlich gemacht. Leonores Absicht »ich wanke nicht« wird von den Hörnern bestimmt. Es geht auch um Hoffnung, aber noch mehr geht es dann um die Tat. Zuerst: »Komm, Hoffnung, lass den letzten Stern, den müden nicht erbleichen.« Dann folgt eine fanfarenartige Ankündigung von Leonores Absicht durch die Hörner. Aber gehofft wird eigentlich von allen. Jaquino hofft auf Marzelline. Marzelline hofft auf Fidelio (»Die Hoffnung schon erfüllt die Brust«). Alle singen und hoffen und hören nicht. Leonore hofft auch, aber sie schreitet zur Tat: »Ich wanke nicht, nein, ich wanke nicht«
DUETTE, TERZETTE, QUARTETTE MEHRSTIMMIGKEIT Die Oper ist durchdrungen von Ensemblestücken, Duette, Terzette, Quartette, und diese haben fast das gleiche Gewicht wie die Arien. Die Gegenüberstellung in den Ensemblesätzen verschiedener Haltungen bzw. die Parallelität führt zu einer scharfen Kontrastierung der unterschiedlichen Absichten. Es kommt zu einem Kontrapunkt verschiedener Meinungen. Gleichzeitig streicht dieser Kontrapunkt das Menschliche der einzelnen Personen hervor, da sie alle dann doch »scheinbar gleich motiviert sind« und in »den selben Gesang einstimmen«. Die Handlung findet so auf dem Grat der Gleichzeitigkeit statt. Der Chor hingegen hat eine Einheitlichkeit, die an das Arienhafte grenzt. KANON DER UNTERSCHIEDLICHEN ABSICHTEN Mit dem Auftritt von Leonore (Quartett Nr. 3 als Fidelio verkleidet) und Marzellines Vater, dem Kerkermeister Rocco, und dem folgenden Quartett entfalten sich die unterschiedlichen Absichten. In dem berühmten Kanon 47
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»Mir ist so wunderbar« singt jeder Beteiligte für sich, von seinen eigenen Absichten, was er fühlt und denkt. Musikalisch schicksalhaft verbunden singt doch jeder von seinen eigenen Wunschvorstellungen. Dass Beethoven dafür die strengste musikalische Form, den Kanon, gewählt hat, lässt manche Fragen offen. Sind es die verschiedenen Motivationen und doch dieselbe Absichten, oder umgekehrt? Die Musik verschränkt die unterschiedlichen Interessen durch das wiederkehrende Motiv, welches durch alles Stimmen kreist. Inhaltlich sind die Absichten vollkommen verschieden und trotzdem erklingt alles in einem »scheinbaren Einklang« in wunderbarer Harmonie. Marzelline denkt an Fidelio, als sie singt: »Er liebt mich, es ist klar,/ ich werde glücklich sein«. Leonore als Fidelio verkleidet schwebt in Angst und sucht ihren Mann: »Wie groß ist die Gefahr,/ wie schwach der Hoffnung Schein,/ sie liebt mich es ist klar,/ o namenlose Pein!« Rocco denkt an die Hochzeit seiner Tochter und ihr Glück: »Ein gutes junges Paar,/ sie werden glücklich sein«. Jacquino denkt wiederum an Marzelline, als er bemerkt, dass sich Marzelline und Fidelio näher kommen könnten: »Mir sträubt sich schon das Haar,/der Vater willigt ein,/ mir wird so wunderbar,/ mir fällt kein Mittel ein«. Ebenfalls findet diese Verschränkung der Absichten im Terzett Nr. 5 zwischen Rocco, Leonore und Marzelline – wenn auch nicht so dramatisch parallele Absichten wie im Quartett Nr. 3 – statt: Jeder besingt sein eigenes Glück! Marzelline: »Ja, ja, wir werden glücklich sein« (denkt an ihr Leben mit Fidelio). Leonore: »Ja, ja, ich kann noch glücklich sein« (denkt an ihren Mann im Kerker). Rocco: »Ja, ja, ihr werdet glücklich sein« (denkt an Marzelline und Fidelio). Oder im Duett Nr. 8: Pizarro: »Sein Tod nur kann mich retten, dann werd ich ruhig sein«. Rocco: »Ihn töten heißt ihn retten, der Dolch wird ihn befrein«. Und schließlich, im Quartett Nr. 14, zeigt Fidelio sein wahres Gesicht und gibt sich als Leonore zu erkennen. Davor gibt sich Pizarro Florestan zu erkennen. Alle lassen die Masken fallen und beginnen sich zu ERKENNEN. Doch hat das »Erkennen« in Fidelio eine besondere Bedeutung? Hängt das Erkennen doch auch mit einem »nicht hören können/nicht verstehen können« zusammen? Auch die Frage des Verstehens wird einmal – und dies ausgerechnet von Pizarro (a cappella) – angesprochen. Im Duett Nr. 8 sagt Pizarro nach einer Fermate: »Hast du mich verstanden?« Das Verstehen wird dadurch (durch die andauernde Gleichzeitigkeit der AbJOHANNA DODERER
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sichten und des »Nichthinhörens«) ebenfalls zum zentralen Thema. WARUM? Es geht Beethoven um die Aussage, die hinter dem Text steht. Die Musik selbst ist so groß, dass sie sich nicht durch Linearität beeinflussen oder stören lässt. Dinge wie »Textverständigung« geraten in den Hintergrund. Alle schwimmen im selben Fluss dieser großartigen Musik und alle (außer dem Bösewicht) haben letztendlich die selbe und gute Absicht. Die Größe der Musik Beethovens ist greifbar. So greifbar wie die Tasten am Klavier und so groß, dass man sie nicht mit Worten erfassen kann.
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DIE SPRACHE JENSEITS DES WORTES
Konrad Paul Liessmann
»WER EIN SOLCHES WEIB ER RUNGEN... «
Beethovens Fidelio als Mythos und Provokation
Woher rührt die ungebrochene Faszination von Ludwig van Beethovens einziger Oper? Unsere Zeit, so möchte man glauben, müsste doch längst über dieses Rühr- und Schauerstück, über diese nur wenig glaubwürdige Verkleidungs- und Befreiungsgeschichte einigermaßen hinaus sein. Der Stoff, aus dem Beethovens Fidelio gewebt ist, stammt ja weniger aus dem Fundus der großen emotionalen Konflikte und Ekstasen, als vielmehr aus den Versatzstücken der Kolportage: Unschuldig im Kerker, durch die Liebe einer selbstlosen Frau gerettet, durch die Gnade eines humanen Fürsten befreit. Alle Versuche, diese etwas unglaubwürdige und plakative Geschichte durch den Verweis auf Beethovens Musik zu retten, sind dann auch nicht wirklich überzeugend. Sie vermögen die Aura nicht ganz zu erklären, die diese Oper bis heute umgibt. Diese gründet schon auch in einer Geschichte, deren Ambivalenz gleichermaßen rührt wie irritiert: eine Freiheitsoper, in der Wahrheitsliebe und Gattenliebe triumphieren können, weil ein gütiges Fürstenauge im entscheidenden Moment nach dem Rechten sieht. Vor aller Dramatik zeichnet das Libretto die Brüchigkeit einer bürgerlichen Idylle am Rande des Abgrunds. Immerhin befinden wir uns im Hof eines Staatsgefängnisses, nur wenige Schritte von einem unterirdischen, dunklen Verlies entfernt. Das Liebesgeplänkel zwischen Marzelline und Jaquino evoziert vorerst nicht mehr als einen naiv werbenden jungen Mann und ein zurückhaltendes Mädchen. Was dem Rollenklischee zu entsprechen scheint, erweist sich allerdings schon bald als Variante jener tragikomischen Konstellation, die Heinrich Heine unnachahmlich auf den Punkt bringen wird: »Ein Jüngling liebt ein Mädchen,/Die hat einen Andern erwählt.« Der Andere, das ist Fidelio, die als Mann verkleidete Leonore. Mit ihr bricht ein Prinzip in diese Welt, das alles infrage stellt, was dort gilt: Gehorsam, das kleine Glück und das Geld. Nein, Fidelio, der neue junge Gehilfe des Kerkermeisters Rocco, arbeitet nicht nur um des materiellen Lohnes willen, und Rocco, der meint, in sein Herz blicken zu können, wittert dort ein ganz anderes Begehren, und liegt damit so falsch wie auch richtig: Aber nicht Roccos Tochter gilt das Begehren des Gehilfen, sondern dem verschollenen Gatten; auf jeden Fall aber strebt Fidelio nicht nach jenem Gold, das der Vater sofort als die entscheidende Bedingung besingt, ohne die es auch kein bürgerliches Liebesglück geben kann: »Das Glück dient wie ein Knecht für Sold,/Es ist ein mächtig Ding, das Gold.« Die verkleidete Leonore stellt die auf ökomischen Nutzen und auf rationales Kalkül basierende bürgerliche Lebensform radikal infrage. Die Liebe rangiert für sie höher als das Geld und sie fordert von Rocco, auf dessen Angebot sie vordergründig eingeht, vor allem eines: Vertrauen. Allerdings, um es – aus der Perspektive Roccos – zu missbrauchen. Mit wenigen Sätzen werden hier die rationalen Grundsätze einer bürgerlichen Misstrauensgesellschaft, die alles einem unbarmherzigen Effizienzdenken unterwirft, außer Kraft gesetzt. Rocco ist zu gutmütig, als dass er dem Werben Fidelios um Vertrauen 51
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widerstreben könnte. Auch an ihm vollzieht sich die täglich zu beobachtende kleine Tragödie des bürgerlichen Subjekts: Vertrauensseligkeit im falschen Moment, geboren aus der Sehnsucht nach Anerkennung. Niemand hält es auf Dauer aus, nur als homo oeconomicus zu existieren. Über allem aber spannt sich das Missverständnis als eine Kraft, die eine falsche Harmonie suggeriert: Alle singen die gleichen Worte, aber jeder versteht darunter etwas anderes. Rocco verkörpert wie kein zweiter in dieser Oper das bürgerliche Lebens prinzip. Er denkt an sein Geld, ist stets auf seinen Vorteil bedacht, aber nicht wirklich böse. Auch wenn es ihn reich machen würde: Morden will er nicht. Aber er würde den Mord geschehen lassen, fungiert als Helfer, tröstet sich mit jenen Worten, mit denen Mitläufer aller Art sich immer trösten: »Verhungernd in den Ketten Ertrug er lange Pein,/Ihn töten, heißt ihn retten,/ Der Dolch wird ihn befrein.« Rocco leistet keinen Widerstand, auch wenn er das Unrechtmäßige der von Pizarro geplanten Tat spürt. Aber er versichert sich der Unterstützung seines Gehilfen Fidelio, möchte die Verantwortung teilen, gräbt mit ihm das Grab für Florestan, und beide synchronisieren sich mit einem Vers, der wiederum von jedem ganz anders verstanden wird: »So säumen wir nun länger nicht,/ Wir folgen unsrer strengen Pflicht«. Als sich das Blatt wendet, wechselt Rocco dann auch sofort die Seiten. Mit dem Pflichtbegriff eröffnet sich allerdings die bis heute vielleicht spannendste Dimension von Beethovens Oper, die Frage nach dem, was es heißt, aus moralischer Integrität zu handeln. Der Begriff der Pflicht bekommt eine nahezu leitmotivische Funktion. Rocco glaubt, dass es seine »strenge« Pflicht sei, seinem Vorgesetzten Pizarro bei dessen finsteren Plänen zumindest nicht im Wege zu stehen; Leonore ist überzeugt davon, dass es ihre Pflicht sei, alles zu tun und auf sich zu nehmen, um zu jenem Gefangenen vorzudringen, in dem sie ihren Gatten vermutet; Florestan wiederum wurde eingekerkert, weil er es wagte, aufrichtig die Wahrheit zu sagen; dass er damit seine Pflicht als Bürger erfüllt hat, ist ihm in der Verlassenheit, Stille und Dunkelheit des Kerkers dann auch sein einziger Trost: »Wahrheit wagt ich kühn zu sagen,/Und die Ketten sind mein Lohn. /Willig duld’ ich alle Schmerzen,/Ende schmählich meine Bahn;/Süßer Trost in meinem Herzen:/ Meine Pflicht hab’ ich getan!« Seit Immanuel Kant im Jahre 1785 seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten veröffentlicht hatte, galt Handeln aus Pflicht als Inbegriff des Guten und der Sittlichkeit. Kant meinte allerdings mit Pflicht nicht die Orientierung an äußerlichen Vorgaben – so sahen es Rocco und mit ihm viele, die »nur« ihre Pflicht getan haben wollten –, sondern die Selbstverpflichtung des Menschen auf die Gebote der Vernunft. Florestan, wir dürfen es vermuten, ist Kantianer gewesen, zumal das Gebot, die Wahrheit zu sagen – genauer: stets wahrhaftig zu sein – auch für Kant das prominenteste Beispiel für ein HanKON R A D PAU L LIE S SM A N N
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deln aus Pflicht darstellte. Allerdings: Das Handeln aus Pflicht, aus Achtung vor dem Sittengesetz, steht bei Kant in strenger Opposition zu einem Handeln aus Neigung, zu einer Tat, die von einem Gefühl, einer Leidenschaft motiviert wird. Kants Zeitgenossen, wie etwa Friedrich Schiller, haben sich dann auch an dieser Strenge gestoßen, die Handlungen, die »nur« aus Liebe und nicht nach den Prinzipien der praktischen Vernunft geschehen, für moralisch bedeutungslos erklärt. Schiller und andere – vielleicht auch Beethoven und seine Librettisten? – suchten nach Möglichkeiten, Pflicht und Neigung, Gefühl und Vernunft zu vereinen. Leonore stellt dann auch eine Verkörperung dieser Einheit von Emotion und Moral dar. Sie ist bestimmt von Liebe, einem inneren Impuls, einer Neigung, und fasst diese doch als Pflicht und Verpflichtung auf: »Ich folg’ dem innern Triebe,/Ich wanke nicht,/Mich stärkt die Pflicht/ Der treuen Gattenliebe!« Sie weiß – und dies fasziniert und irritiert an dieser Figur bis heute –, dass das Gefühl allein, und sei es das reinste und edelste, den Belastungen von Krisensituationen nicht gewachsen ist. Das Gemüt ist immer schwankend. Um in solchen Situationen fest zu bleiben, bedarf es der Stützung, der Stärkung durch einen Impuls, der es erlaubt, die Liebe selbst gleichsam in die Pflicht zu nehmen. Wie weit aber darf solch ein Impuls gehen? Wann stößt die individuelle Leidenschaft an die Grenze einer allgemeinen Moral? Leonores Liebe und der Wille, den Geliebten aufzuspüren, zu sehen, wenn möglich zu befreien, lässt sie ein durchaus frivoles Spiel treiben. Leonore ist eine Frau, die sich als Mann verkleidet und als Mann von einer anderen Frau geliebt wird und diese Liebe in Kauf nimmt, um ihr Ziel zu verfolgen. In dieser Situation ist sie nicht wahrhaftig, sondern bereit, den falschen Schein, die Unaufrichtigkeit bis fast in die letzte Konsequenz fortzusetzen. Heiligt der Zweck hier die Mittel? Dass Marzelline in der Regel als emotional eher flaches Gemüt aufgefasst wird, das keine Probleme damit hat, von Jaquino zu Fidelio und nach dessen Enttarnung wieder zurück zu Jaquino zu wechseln, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Leonore gezwungen ist, mit den Gefühlen anderer Menschen zu spielen, um ihren eigenen Gefühlen treu bleiben zu können – und sie weiß dies auch: »Ich gab die Hand zum süßen Band,/Es kostet bittre Tränen.« Das Oszillieren zwischen den Geschlechtern, das lange als unglaubwürdig und schwierig zu inszenieren galt, liest sich überdies anders in einer Zeit, in der Geschlechterrollen ihre scharfen Konturen und klaren Zuschreibungen verlieren. Leonore/Fidelio kann der Gegenwart als durchaus plausible sexuelle Doppelidentität erscheinen, allerdings mit den damit verbundenen Verstrickungen und Verwirrungen der Gefühle. Es gehört dann auch zu den zumindest nur vordergründig als befreiend empfundenen Momenten dieser Oper, dass diese Doppelidentität aufgelöst und in die Eindeutigkeit der zu jedem Opfer bereiten liebenden Frau überführt wird: »Töt’ erst sein Weib!« Fidelio galt und gilt als Apotheose nicht nur der Liebe, sondern auch, vielleicht vor allem, der Freiheit. Die politischen Konnotationen von Auffüh 53
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rungen des Fidelio waren im Laufe der Geschichte dann auch stets unübersehbar. Florestan im Kerker – das ist das Bild des politischen Gefangenen, das Bild von Unfreiheit schlechthin: »Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!/Öd’ ist es um mich her. Nichts lebet außer mir.« Was genau zu dieser Gefangenschaft geführt hat, bleibt zwar unscharf – möglich, dass Florestan Ungerechtigkeiten und Machtmissbrauch angeprangert hatte, vielleicht plante er auch einen Umsturz, gar die Ermordung Pizarros? Immerhin will sich dieser an Florestan rächen und gibt im Vorgefühl dieser Rache vielleicht auch ein Geheimnis preis: »Nun ist es mir geworden,/Den Mörder selbst zu morden.« War Florestan gar ein – Attentäter, ein Terrorist? Die verwickelte Entstehungsgeschichte des Librettos, die sich bis auf ein historisches Vorbild aus den Zeiten der Schreckensherrschaft der Französischen Revolution zurückverfolgen lässt, macht das Freiheitspathos der Oper noch einmal komplizierter: Eine adelige Dame, die als Bäuerin verkleidet, ihren Mann, einen konterrevolutionären Grafen, vor dem Anschlag eines in Ungnade gefallenen radikalen Jakobiners mit Hilfe eines Abgesandten Robespierres retten kann – ist das der Stoff, aus dem die Freiheitsträume sind? Auch wenn die Umdeutung und Verlagerung dieses Stoffes in ein royales Spanien dem Stück einiges an Schärfe nehmen konnten – eine Konstellation, die bis heute das Pathos dieser Oper grundiert, ist geblieben: dass die Erlösung von oben kommt. Aber darauf verlassen sollte man sich nie. Im Grunde schien ja alles schon verloren. Pizarro will zuerst Florestan ermorden, dann seine Mitwisser Rocco und Fidelio zum Schweigen bringen. Dass sich Fidelio zu erkennen gibt und als Leonore schützend vor ihren Gatten stellt, hätte den Gouverneur nicht bremsen müssen. Er dringt dann auch weiter auf seinen Gefangenen ein und wird einzig durch die Pistole gestoppt, die ihm Leonore plötzlich entgegenhält: »Noch einen Laut – und du bist tot!« Erst jetzt ertönen die erlösenden Fanfaren vom Turm. Der Minister erscheint, und nun schlägt für Leonore und Florestan die Stunde der Freiheit, der Liebe und – der Rache: »Es schlägt der Rache Stunde!/Du sollst gerettet sein.« Noch einmal finden sich hier ein archaisches Gefühl und ein modernes Vernunftprinzip, unmittelbare Leidenschaft und abstrakte Moralität in einem Atemzug genannt – Rache und Gerechtigkeit: »Bestrafet sei der Bösewicht,/Der Unschuld unterdrückt. /Gerechtigkeit hält zum Gericht /Der Rache Schwert gezückt.« Und vielleicht gehört auch das zum Sehnsuchtsbild, das Beethovens Fidelio bis heute evoziert: dass die staatliche Gerechtigkeit auch die privaten Rachegelüste befriedigen möge. Trotz Leonores Mut wird die Freiheit in letzter Instanz von oben gewährt. Sie ist kein Recht, sondern eine Gnade. Don Fernando lässt daran keinen Zweifel: »Des besten Königs Wink und Wille/Führt mich zu euch, ihr Armen, her... Tyrannenstrenge sei mir fern./Es sucht der Bruder seine Brüder,/Und kann er helfen, hilft er gern.« Daraus spricht nicht der Geist revolutionärer Freiheit und sozialer Brüderlichkeit, sondern ein paternalistischer Gestus, KON R A D PAU L LIE S SM A N N
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der es den Gefangenen freundlich gestattet, sich zu erheben und nicht länger mehr »sklavisch« auf den Knien zu liegen. Nicht die selbst erkämpfte, nur die von oben gewährte Freiheit könnte so als ein Motiv dieser Oper genannt werden. Wohl muss für diese Freiheit etwas, im Ernstfall das Leben, gewagt werden – aber der Freiheitswille allein kann die Freiheit nicht durchsetzen. Dass Beethovens Oper letztlich dann doch als Verklärung der Gattenliebe endet, als Hohelied, das alles übertönt, hat so seine Folgerichtigkeit. Und vielleicht liegt auch darin ein besonderer Reiz des Mythos Fidelio. Die Oper befriedigt zwei gleichermaßen unstillbare wie unerfüllbare Sehnsüchte des modernen Menschen – die nach Erlösung und nach Liebe. Es sind dies aber Sehnsüchte, die über eine bürgerliche Welt, in der auch Emotionen wie Kapital behandelt und gewinnträchtig investiert werden sollen und Freiheit fast nur noch als Handelsfreiheit verstanden wird, weit hinausweisen. Der Reiz, vielleicht aber auch die Provokation von Beethovens Fidelio bestehen bis heute in solcher Ambivalenz. Ja, es ist die große Oper der Freiheit und der Brüderlichkeit, der Gattenliebe, der Treue, der Opferbereitschaft und der rächenden und strafenden Gerechtigkeit. Aber diese Demonstration der bürgerlichen Tugenden wird allemal getrübt durch die Umstände: dass es ohne Täuschung und Härten nicht geht in dieser Welt und dass wir wider alle Vernunft immer auf jene erlösenden Trompeten warten, deren Fanfaren Ordnung und Glück für eine Welt verkünden, die soeben noch aus den Fugen zu geraten schien. Ob Freiheit und Liebe am Ende tatsächlich triumphieren, oder ob diese Oper einen unstillbare Traum des Menschen in einen über-irdischen Jubel- und Freudenschrei transzendiert, der nicht für diese Welt gedacht sein kann – diese Frage macht bis heute Fidelio zu einem Mythos im Wortsinn: zu einer tönenden Erzählung von dem, was es heißen könnte, als Mensch menschlich, über alle Abgründe hinweg, zu leben.
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Gustav Schörghofer
EXTREME EXISTENZEN
Im 21. Kapitel seines Romans I Promessi Sposi erzählt Alessandro Manzoni von einer eigenartigen Begegnung. Ein adeliger Verbrecher, er wird im Buch immer nur der Namenlose genannt, so unfassbar ist diese Gestalt, die ihre Geschäfte mit erbarmungsloser Rücksichtslosigkeit betreibt – dieser Namenlose hat Lucia auf sein Schloss entführen lassen. Lucia ist die Braut von Renzo. Diese beiden sind jene Verlobten, die dem Roman den Namen geben. Der Namenlose kommt in den Raum, in welchem Lucia festgehalten wird. Sie geht gar nicht auf den mächtigen Herren ein, sondern fleht ihn um Barmherzigkeit an. In ihrer reinen Fassungslosigkeit und Not sagt sie zu dem Skrupellosen: »Um einer Tat der Barmherzigkeit willen vergibt Gott so vieles.« Die Reinheit und Klarheit dieser Frau und ihrer aus der äußersten Not stammenden Worte bewirken im Namenlosen etwas Unfassbares. Er ändert sein Leben. Aus dem Übeltäter wird ein Wohltäter. Die durch die Not zu äußerster Intensität gesteigerte Lauterkeit der hilflosen Frau war mächtiger als all das, worauf der Namenlose bisher seine Macht gestützt hatte. Was Alessandro Manzoni in seinem herrlichen Roman erzählt, lässt sich immer wieder beobachten. Es gibt Menschen, die bestimmte Bereiche des menschlichen Lebens in äußerster Intensität verkörpern. Was andere auch tun, worum sich andere auch bemühen, was andere auch ersehnen, betreiben diese Einzelnen im Extrem. Reinhold Schneider hat dafür im Winter in Wien ein schönes Bild gefunden. Er vergleicht diese Menschen mit Wirkstoffen im Körper, die nur in äußerst geringen Mengen vorhanden sind, ohne die aber Leben nicht möglich wäre. Und er setzt fort: »Sollte es sich mit den Völkern GUSTAV SCHÖRGHOFER
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anders verhalten? Kranken sie am Ausbleiben, am Versagen der Wirkstoffe, der Spurenelemente? Und was wäre zu tun? Zwei, drei Existenzen sind nichts in einem aus achtzig Millionen (oder dem Vielfachen) aufgebauten Volkskörper. Vielleicht aber können sie durch äußerste Intensivierung zu Wirkstoffen werden: zu jenen seltenen, kaum oder gar nicht bekannten personalen Leistungen, die in den Blutstrom eingehen, die inneren Prozesse ermöglichen, beschleunigen, hemmen, ohne sich selbst zu verändern. Existenzen also wie Metalle. Ein einziger, der die Wahrhaftigkeit bis zum Äußersten intensiviert, oder das Tragische an sich, die Kunst, den Glauben, die Liebe, kurz, extreme Existenzen tun not.« Die Einzelne, der Einzelne gilt heute nicht viel. Eine Figur wie jene der Leonore wirkt heute merkwürdig veraltet, romantisch, wirklichkeitsfremd. Wenn heute die Freiheit eines zu Unrecht Gefangenen erwirkt werden soll, dann kreisen Unterschriftenlisten, werden Petitionen verschickt, Komitees gegründet, Organisationen mobilisiert. Die Methode der Leonore wirkt im Vergleich zu all dem, was heute als professionelle Hilfe gilt, völlig unbeholfen. Professionalität ist das neue Zauberwort. Aber was heißt Professionalität in der Liebe, in der Kunst, im Glauben? Je intensiver all das gelebt wird, desto weniger entspricht es dem, was unter Professionalität verstanden wird. Heute gibt es eine mächtige Tendenz zum Mittelmaß, um das ungestörte Funktionieren einer konsumierenden Gesellschaft nicht zu stören. Auch dort, wo von Extremleistungen die Rede ist, geht es darum, den Konsum zu fördern. Keines dieser Extreme, im Sport oder in der Kultur, ist eine kritische Anfrage an unsere Art zu leben. In der Wirtschaft, in der Politik, in der Kultur und in der Kirche wird das Funktionieren des Getriebes durch eine Fülle von Fortbildungskursen, Seminaren aller Art, Hilfs- und Begleitprogrammen sichergestellt. Doch je intensiver jemand die Gerechtigkeit, die Wahrhaftigkeit, die Liebe, den Glauben in all diesen Systemen lebt, desto mehr wird er oder sie das Funktionieren des Getriebes infrage stellen. Und zwar nicht durch kritisches Hinterfragen, theoretische Erwägungen, sondern vor allem und zuerst durch sein oder ihr Leben. Die Frage ist: Geht vom Leben dieser Einzelnen eine Wirkung aus? Und: Gibt es diese Einzelnen? Vielleicht werden sie uns bloß auf der Bühne vor Augen geführt. Ein kleiner Lichtblick in einer fremden Welt. Kurz danach versinkt alles wieder im Meer des Mittelmaßes. Reinhold Schneider merkt kurz nach dem oben zitierten Text an: »Unsere wesentliche Armut ist die an Radikalität, an Menschen, die chemisch reine Elemente sind.« Das hat er 1958 geschrieben. Seither wurden mit Radikalität üble Erfahrungen gemacht. Terroristen waren radikal, bis zum Morden. Was hatte eine konsumorientierte Gesellschaft dem entgegenzusetzen? Nur die Macht des Staatsapparates? Ich erinnere mich an mehr als zwanzig Jahre zurückliegende Begegnungen mit dem Jesuitenpater Adolfo Bachelet. Sein Bruder war als oberster Richter Italiens von Mitgliedern der Brigate Rosse erschossen worden. Beim Trauer 59
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gottesdienst hat die Familie den Mördern öffentlich verziehen. Jahre später erhielt Adolfo Bachelet von verurteilten Ex-Terroristen einen Brief. Sie baten ihn um ein Gespräch, da sie neue Wege gehen wollten. P. Bachelet hat dann viele ehemalige Terroristen in Gefängnissen in ganz Italien besucht und sie auf der Suche nach einem neuen Anfang unterstützt. Zuvor hatte die Familie Bachelet selber mit der Radikalität des Verzeihens einen Anfang gemacht. Auch in der heutigen Gesellschaft lassen sich die Radikaliät des Verzeihens, der Liebe, der Treue finden. Es braucht nur den rechten Blick dafür. Sie zeigt sich nicht in spektakulären Gesten, öffentlichen Auftritten, begleitet vom Klang der Trompeten und Posaunen. Gelebt wird diese Radikalität heute im Stillen, in alltäglicher Pflege, alltäglicher Aufmerksamkeit, alltäglicher Zuwendung. Heute müssen wir uns Florestan dement vorstellen, möglicherweise an Alzheimer erkrankt. Die radikale Liebe von Leonore zeigt sich nicht mehr in der heroischen Übernahme einer männlichen Rolle, sondern im geduldigen Ausharren als Frau an der Seite eines Gatten, der mit dem einst geliebten und geheirateten wenig gemein hat. Die radikale Liebe treibt heute an, in ein Gefängnis zu folgen, das erbarmungsloser erscheint als der romantische Kerker der Oper Beethovens. Und dieser Weg wird heute oft und oft gegangen. Leonore ist heute auch nicht allein. Es gibt Hilfe, Unterstützung, Begleitung auf dem Weg. Aber die Radikalität der Liebe muss sie allein leben. Darin ist sie einzigartig und als Einzelne nicht zu ersetzen. Vielleicht müsste deutlicher wahrgenommen werden, dass von der Radikalität dieser Liebe das Gelingen unserer Gesellschaft abhängt. Eine korrekt arbeitende Justiz, ein demokratisches System, funktionierende Kontrollinstanzen im Staat können jene Willkür der Mächtigen verhindern, an der Florestan zu leiden hat. Vielleicht nicht vollständig, aber doch weitgehend kann dafür gesorgt werden, dass auch die Schwächeren Rechtsschutz genießen. Doch was wäre unsere Gesellschaft ohne jene Frauen und Männer, die es in ihrer radikal gelebten Hingabe Leonore gleich tun? Wie der Umgang mit Asylsuchenden zeigt, ist unser Rechtssystem noch in vielem zu verbessern. Wer sich von der Not ergreifen lässt, kann aber nicht auf eine Verbesserung des Rechts warten. Jetzt muss gehandelt werden. Frauen wie Maria Loley oder Ute Bock sind daher lebenswichtig, auch für den Staat. Sie leben mit großer Intensität etwas, das aber nur so gelebt werden kann, um wirksam zu sein. Die Professionalität der vielen neigt zum Mittelmaß. Sie muss durch die Radikalität Einzelner immer neu gesprengt, aufgebrochen, herausgefordert werden, um weit über das bereits Gekonnte, Bewältigte, Beherrschte hinaus einzutauchen in die tatsächliche Not der Menschen. Leonore konnte keine Menschenrechtsgruppe gründen. Sie musste unmittelbar und direkt handeln. Es liegt nahe, den Ursprung dieser Bedeutung des Einzelnen und seiner Verantwortung im Judentum und im Christentum zu sehen. Immer wieder werden in den Heiligen Schriften dieser Religionen radikal lebende und hanGUSTAV SCHÖRGHOFER
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delnde Einzelne vorgestellt, nicht nur Männer, sondern auch Frauen. Gott selbst wird in der Art eines radikal handelnden Einzelnen dargestellt, wobei Gott männliche und weibliche Züge zugesprochen werden. Im Christentum ist Jesus der beispielhaft radikal lebende Einzelne. Erstaunlich ist aber seine Wendung zu den einfachen und armen Menschen, die deutlich macht, dass seiner Radikalität alles Elitäre und damit Abgesonderte fremd ist. Die in der Bibel entworfene Radikalität der Nächstenliebe und der Gottesliebe ist jedem Menschen möglich. Diese Haltung lässt sich nicht auf einen begrenzten Kreis von Frommen und Religiösen beschränken, sondern ist weit über die Grenzen der institutionell greifbaren Religionen hinaus eine Herausforderung an alle Menschen guten Willens. Das macht sie für unsere Gegenwart bedeutsam. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37) ist eben keine Geschichte nur für einen kleinen Kreis von Kirchgängern. Die Plausibilität dieses Bildes teilt sich auch denen mit, die zum Glauben in seiner institutionellen Form keine Beziehung haben. Gleiches gilt für die Erzählung vom Endgericht im 25. Kapitel des Evangeliums nach Matthäus. »Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.« Als die von Jesus so angesprochenen Menschen verwundert fragen, wann sie das alle getan hätten, ist die Antwort: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« Die üblichen Grenzen zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden, Religiösen und Unreligiösen werden hier vollends gesprengt. Und es zeigt sich: Entscheidend ist mein Anteil an einem Tun, das von wenigen Einzelnen radikal gelebt wird, das aber von vielen mitgetragen werden muss. Leonore in ihrer unbedingten Liebe zu Florestan ist ein Bild. Der Kerker des Don Pizarro ist ein Bild. Heute mögen die Kerker ganz andere Formen angenommen haben. Der Ruf zur radikalen und unbedingten Liebe Leonores ist der gleiche geblieben. Solange ihm gefolgt wird, bleibt eine Gemeinschaft, sei sie nun religiös oder kulturell geprägt, am Leben.
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EX T R EME EX IST ENZEN
Klaus Adam
MUTMASSUNGEN ÜBER FLORESTAN »Wahrheit wagt’ ich kühn zu sagen, und die Ketten sind mein Lohn«: In einem Verlies, in das der Sonne Licht nicht dringt, ein Eisenband um den Leib, angeschmiedet an einen Stein, so schmachtet Florestan schon über zwei Jahre. Welche »Wahrheit« brachte Florestan in den Kerker? Wo hat er was vor wessen Ohren geäußert? Das Libretto gibt über die Vorgeschichte des Fidelio nur vage Auskunft. Pizarro, der Florestan als eines von »mehreren Opfern willkürlicher Gewalt in Ketten liegen hat«, spricht von einem Versuch seines Gefangenen, ihn »vor dem Minister zu enthüllen und seiner Gunst zu entziehen«; aber was dieser Streiter für die Wahrheit enthüllen wollte, verschweigt der Gouverneur bei seinem Selbstgespräch im Gefängnishof. Im tiefen Gewölbe löst Rachevorfreude seine Zunge: »Noch einmal ruf ich Dir, was Du getan, zurück...« – aber da wirft sich Leonore zwischen Florestan und den gezückten Dolch, und wir verharren in Ungewissheit, was der nun Gerettete an Verhängnisvollem getan hat. Weitschweifiger als die endgültige Form von 1814 sind im Musikalischen wie im Dialog die Fidelio-Fassungen von 1805/1806; da lüftet sich auch der Schleier über die Vorgeschichte um ein paar weitere Zentimeter. Nachdem Rocco dem Drängen Florestans nachgegeben und den Namen des Gouverneurs genannt hat, erkennt der Gepeinigte die Zusammenhänge: »O, nun erstaun’ ich nicht mehr, dass ich diese Marter zu leiden verdammt bin. Er ist’s, dessen Verbrechen, dessen Missbrauch der Gewalt ich zu entdecken wagte.« In diesen Erstfassungen des Fidelio hielt sich Joseph Sonnleithner enger als später Georg Friedrich Treitschke, 1814, an die französische Vorlage, an das Libretto Léonore ou L’Amour conjugal, das Jean-Nicolas Bouilly für den Komponisten Pierre Gaveaux 1798 verfasst hatte. Auch dort spricht Florestan von »L’abus d’autorité«, ohne Details aufzuführen, wie Pizarro seine Macht missbrauchte. Man darf mutmaßen, dass es sich nicht um eine UnterschlaK LAUS A DA M
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gung von fünf Sous aus der Gefängnisverproviantierungskasse gehandelt haben wird; eine Bagatelle hätte Pizarro wohl kaum zu einem Mordversuch an Florestan getrieben. Gewalt ist zu allen Zeiten missbraucht worden. Aber um 1798 war ein französisches Publikum besonders sensibel, mit »L’abus d’autorité« assoziierte es Schreckensexzesse der jüngsten Vergangenheit. Die vorrevolutionäre Strafrechtsordnung Frankreichs stellte der herrschenden Schicht einen Freibrief für – nach heutigem Rechtsempfinden geradezu aberwitzige – Willkür aus; die verschiedenen Gerichtskompetenzen waren chaotisch, der Richterstand korrupt, das Strafmaß drakonisch. Nach der Erstürmung der Bastille sah die Nationalversammlung eine ihrer vornehmsten Aufgaben in einer Strafrechtsreform. Im August 1789 verabschiedete sie die Menschen- und Bürgerrechtserklärung, schon vier Wochen später legte das »Comité de legislative criminelle« einen Entwurf für den Strafprozess vor, binnen zweier Jahre entstand der »Code penal«. Dem Ancien Régime war der Gedanke »L’abus d’autorité« fremd, es hätte sich ja selbst infrage gestellt. Vor diesem Krebsübel jedes Gemeinwesens versuchte der »Code penal« die Bürger zu bewahren. Der im Falle Florestan relevante Tatbestand der Freiheitsberaubung und Inhaftierung ohne vorangegangenes Urteil findet sich im Abschnitt »Crimes contre la sûreté interieure de l’Etat«: Die Freiheit des Individuums wurde als integraler Bestandteil der Verfassung betrachtet. Wer ohne gesetzliche Ermächtigung Verhaftungsbefehle erteilte, hatte sechs Jahre Stockhaus (»la gêne«) zu erwarten, ebenso der Gefängniswärter, der eine illegal festgenommene Person eingesperrt hielt. Ob Rocco »Befehlsnotstand« erfolgreich geltend machen könnte? Die deutsche Nachkriegsrechtssprechung ist mit den Handlangern der Naziverbrecher äußerst glimpflich verfahren. Als Schauplatz des Fidelio gibt das Libretto ein »Spanisches Staatsgefängnis, einige Meilen von Sevilla entfernt« an, als Zeit das 18. Jahrhundert. Natürlich hat der »Code penal« im fernen Andalusien keine Wirksamkeit entfaltet; aber wir wissen ja aus den Memoiren des Librettisten Jean-Nicolas Bouilly, dass Fidelio auf eine wahre Begebenheit während der letzten Revolutionsmonate 1793/1794 zurückgeht und Bouilly nur aus Rücksicht auf die noch lebenden Beteiligten die Handlung nach Spanien verlegte. Fragen bleiben offen: Wie war es möglich, dass ein Beamter – Pizarro ist es als Gouverneur des Gefängnisses – einen Bürger aus der sozialen Gemeinschaft entführen und in einer öffentlichen Strafanstalt verwahren lassen konnte? Auch das Strafvollzugsverfahren war nach 1798 reformiert und den Gefangenen mancher Schutz eingeräumt worden. So erfahren wir von Rocco, dass Pizarro allmonatlich in Sevilla Rapport über alles erstatten muss, »was hier in dem Staatsgefängnis vorfällt«. Auch wird in Sevilla eine Liste mit den Namen der Inhaftierten geführt, wahrscheinlich hat sie der persönliche Referent dem Herrn Minister für seine Überraschungsvisite mitgegeben. In der Erstfassung des Fidelio wird die Ingewahrsamnahme Florestans sogar juristisch »abgesichert«: Der in Ketten Liegende vertraut Rocco in seiner Not an »Pizarro ist’s, 63
MU TM AS SU NGEN Ü BER FLOR E STA N
der einen höheren Befehl zu erschleichen wusste, um mich in diese Wohnung des Todes zu stürzen...« – falls diese Behauptung Florestans stimmt, wäre das sonst so dickfellig-opportunistische Verhalten Roccos entschuldigt; die Nachprüfung eines Verhaftungsbefehls wird man von ihm nicht verlangen können. Pizarro hat eine beachtliche kriminelle Energie eingesetzt, um Florestan unschädlich zu machen. Der Schutz der persönlichen Freiheit (»Liberté individuelle«) war eine der wesentlichen Errungenschaften der Revolution nach einer Epoche, in der sich der Monarch das »Droit de glaive«, die absolute, richterlich nicht überprüfbare Macht über Leben und Tod, angemaßt hatte. Mit einem Haftbefehl, den berüchtigten »Lettres de cachet«, konnte er jede missliebige Person ins Gefängnis werfen lassen. Die Verfassung von 1791 normierte den Grundsatz, dass eine Verhaftung nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen und Formen stattfinden dürfe; freilich wurde diese Freiheit schmählich verletzt in der Herrschaft des Convents, zumal Artikel 46 der Verfassung von 1793 den »Wohlfahrtsausschuss« ermächtigt hatte, bei Verschwörungen gegen den Staat Verdächtige verhaften zu lassen. Unschwer mag sich Pizarro im Zenit der Tyrannei solch ein Papier verschafft haben, indem er Florestan als »Feind des Vaterlandes« verdächtigte, darauf spielt er ja auch gegenüber dem zögernden Rocco an: »Dem Staate liegt daran, den bösen Untertan schnell aus dem Weg zu räumen.« Wir neigen dazu, in der Oper einerseits Geschehnisse als seltsam, unglaubwürdig anzusehen, nur weil sie uns heutzutage als Realität nicht mehr vorstellbar sind; andererseits nehmen wir Unverständliches in Kauf, nur weil es sich in der Oper ereignet. Dass Leonore nicht den der Familie befreundeten Minister aufsuchte, um an allerhöchstem Orte eine Vermisstenanzeige aufzugeben, scheint uns nur unter Opernaspekten begreiflich. Die Oper hätte vielleicht gar nicht stattgefunden. Auch nehmen wir es als Opernfatum hin, dass nicht einmal Marzelline das weibliche Herz erkennt, welches unter dem Lederwams Fidelios schlägt. Aber das Schicksal Florestans ist so unglaubwürdig nicht. 1794/95 herrschte mit uneingeschränkter Machtvollkommenheit der Wohlfahrtsausschuss; in Paris wurden unter den Girondisten ohne Verfahren wahre Massaker veranstaltet, gegen Aufständische in den südlichen Departements wüteten die Sansculotten, in die Vendée fiel Carrier wie ein reißender Wolf ein – und gerade in dieser heimgesuchten Landschaft finden wir die Urbilder von Florestan und Leonore. Bei dieser Welle von Gewalt, die 1793/94 das Land überrollte, mag manch einer wie Pizarro versucht haben, seine Privatrache auszutoben. Um nicht im Spiel der Mächtigen unter die Räder zu kommen, haben sich zu allen Zeiten Mitläufer wie Rocco gefunden, die das Schreckensregime einiger weniger erst ermöglichten. Auch in unserer Zeit können wir uns nicht gefeit → dünken gegen die Willkür des Staates und seiner »Staatsdiener«. Florestans Jochen Schicksal hat sich millionenfach wiederholt in unserer Zeit. Die Leonoren Schmeckenbecher als Don Pizarro sind selten wie eh und je. MU TM AS SU NGEN Ü BER FLOR E STA N
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Andreas Láng
PIZARRO IST KEIN BARON SCARPIA
Niemand ist vollkommen, selbst Bösewichte nicht. Hätte beispielsweise der eine oder andere dieser weltmachthungrigen Erzverbrecher nicht so lange zugewartet und den gefangenen James Bond augenblicklich – nach dem Motto sicher ist sicher – ein für alle Mal den Garaus gemacht, nun, die Welt sähe heute vermutlich anders aus. Aber wir, die Zuschauer, wissen mit beruhigender Gewissheit: Die besagten Bösewichte folgen wie Lemminge stets dem gleichen dramaturgischen Muster und zögern die Ermordung der Titelfigur so lange hinaus, bis dieser freikommt und sie selbst dran glauben müssen. Und das, obwohl sie anhand der vielen vorangegangenen ähnlichen Situationen längst hätten erkennen müssen, wie empfehlenswert es doch wäre, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Schon Jahrhunderte vor James Bond hat sich etwa Don Pizarro durch eine ähnlich scheinbar unbedachte Art und Weise zumindest eine – folgt man der ersten Fassung von Fidelio – lebenslange Kerkerstrafe, wenn nicht gar die Todesstrafe erzögert. Über zwei Jahre hätte er Zeit gehabt, seine Rache zu kühlen, über zwei Jahre dem Widersacher Florestan sein »Triumph, Triumph der Sieg ist mein« entgegenzuschleudern. Aber nein: Erst der bewusste Brief des unbekannten Komplizen mit dem, allen Opernfreunden hinlänglich bekannten, Hinweis »der Minister reist morgen ab, um Sie mit einer Untersuchung zu überraschen«, stachelt Pizarro auf, das hinausgeschobene Mordvorhaben tatsächlich anzugehen. Letztlich, da viel zu spät, A N DR EAS LÁ NG
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vergeblich, wie man weiß. Ganz klar ist übrigens auch nicht, warum er Rocco und den vermeintlichen Fidelio in die Sache hineinzieht, warum er »es ohne Roccos Hilfe nicht ausführen kann«. Fürchtet Pizarro, der Minister würde die unverscharrte Leiche finden? Doch was wäre mit den Leichen des Grab schaufelnden Kerkermeisters und seines Gehilfen geschehen – denn Pizarros (gelegentlich gestrichener) beiseite gesprochener Satz »Die muss ich mir heute noch beide vom Hals schaffen, damit alles auf immer im Dunkeln bleibt« ist unmissverständlich genug. Kaum anzunehmen, dass Marzelline gegenüber dem Minister im Falle des Auftauchens der Leiche (oder des physischen Verschwindens) ihres Vaters ruhig geblieben wäre. Es bleiben aber auch andere Fragen: Warum soll Florestan »vom Stein losgeschlossen werden«, an dem er mit seiner Kette festgemacht war, ehe Pizarro darangeht, ihn zu erstechen? Wohlgemerkt: Die lange Kette um den Leib des Gefangenen soll auf Anweisung Pizarros hingegen nicht abgenommen werden. Was ändern denn bitteschön solche Details am geplanten Mord? Florestan hätte sich, geschwächt wie er war, ohnehin weder am Stein angeschlossen noch »losgeschlossen« zur Wehr setzen können. Seltsam mutet außerdem die Tatsache an, dass Pizarro sein verhasstes Opfer über zwei Jahre im Unklaren darüber ließ, in wessen Hand, in wessen Gefängnis dieser sich überhaupt befindet. (Dass Pizarro die Ursache von Florestans Leiden ist, steht für Letzteren sowieso fest – wie aus dem Satz »Wahrheit wagt ich kühn zu sagen, und die Ketten sind mein Lohn« hervorgeht.) Ein waschechter Sadist wäre wohl jeden Tag mindestens zweimal in den Kerker hinunterspaziert, um seinen unterlegenen Feind in irgendeiner Form zu demütigen, zu ängstigen. Pizarro hingegen dreht zwar offenbar regelmäßig an der Daumenschraube, indem er Florestans Essensrationen ständig verkleinert, aber seine greifbare Präsenz als Gefängnisgouverneur wird dem Minister-Freund nicht preisgegeben oder erst im allerletzten Moment. Am liebsten wäre es Pizarro ja gewesen, wenn Rocco die Sache selbst für ihn erledigt – auf die dienstfertige Frage des Schließers, was dieser denn für die angekündigte und nicht unbedeutende Gehaltsaufbesserung zu tun hätte, lautete ja die kurze Antwort bekanntlich – »morden!«. Erst Roccos diesbezügliche Weigerung zwingt Pizarro dazu, »vermummt in den Kerker zu schleichen.« Ein Schreibtischtäter also, der sich die Hände nicht schmutzig machen möchte? Freut ihn bereits die bloße Tatsache, seinen Widersacher möglichst lange quälen zu können? Sein im Duett mit Rocco textlich oft nicht klar verständlicher Hinweis »zu kurz war seine Pein« deutet zumindest darauf hin, dass Pizarro gerne noch ein wenig zugewartet hätte mit dem »ein Stoß, und er verstummt«. Ohne die Ankündigung der ministerlichen Inspektion hätte Pizarro im Grunde sogar sein siegreiches Überlegenheitsgehabe Florestan gegenüber aufs Spiel gesetzt – um den Zustand seines Gegners stand es laut Roccos früher getätigtem Hinweis schon recht bedenklich –, nur um die Dauer der Qual des Inhaftierten zu verlängern. Sein 67
PIZA R RO IST K EIN BA RON SCA R PI A
mit aufgesetztem Sinn für theatrale Dramatik gewürztes »Sieh her... Pizarro, den du fürchten solltest, steht nun als Rächer hier« bei gleichzeitiger Selbstdemaskierung (Pizarro entblößt sein bis dahin verdeckt gehaltenes Gesicht, indem er den Mantel aufschlägt) soll offenbar die ungewollte Peinverkürzung aufwiegen. (Anders wäre der Umstand der oben erwähnten Vermummung gar nicht zu erklären.) Wahrscheinlich aber empfindet Pizarro gar keine Freude am immer unmenschlicheren Dahinvegetieren Florestans, sondern bloße Rachedurstbefriedigung, Vergeltungssucht für ein vermeintlich ihm gegenüber begangenes Unrecht. Beethovens Bösewicht mangelt die diabolisch-dämonische Facette eines puccinischen Scarpia oder des shakespeare-verdischen Jago, aber auch der meisten James-Bond-Bösewichten. In Pizarros Gefühlsrepertoire ist kein Platz für eine maliziöse Delektion am Katz-und-Maus-Spiel. Er ist einfach ein Verbrecher, der denjenigen, der seine kriminellen Machenschaften aufdeckt, beseitigt – und zwar, nach seinem Verständnis, strafend beseitigt. Wahrscheinlich ist Pizarro nicht einmal besonders klug, schon gar nicht handelt er strategisch. Auf jeden Fall stellt er als antithetische Figur zum Idealpaar Florestan-Leonore beziehungsweise zum Minister eher ein Prinzip dar als das Abbild eines real möglichen Bösewichts. Insofern unterscheidet sich sein »Scheitern« von jenem der Bond-Bösewichte nicht im Ergebnis, aber ursächlich. Folglich kommt es auch zu keinem showdownhaften Zweikampf zwischen ihm und Florestan, sondern zwischen ihm und dem »Engel« Leonore.
→ Klaus Florian Vogt als Florestan
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Beethoven Fragmente Fidelio hat etwas Hieratisches, Kultisches. Es wird darin die Revolution nicht dargestellt, sondern gleichwie in einem Ritual wiederholend nachvollzogen. Er könnte zur Feier des Jahrestags der Bastille geschrieben sein. Keine Spannung, nur die »Wandlung« im Augenblick Leonores im Kerker. Vorentschiedenheit. Exzentrische, »stilisierte« Einfachheit der Mittel. Die Komponisten sind immer auch zoon politikon, und zwar desto mehr, je emphatischer ihr rein musikalischer Anspruch ist. Keiner ist tabula rasa. In der frühen Kindheit haben sie sich angepasst an das, was rings vorgeht, später sind sie bewegt von Ideen, die ihre eigene, selbst bereits sozialisierte Reaktionsform aussprechen. Selbst individualistische Komponisten aus der Blütezeit des Privaten wie Schumann und Chopin sind darin keine Ausnahmen; bei Beethoven rumort, in Schumanns Marseillaisezitaten hallt abgeschwächt der Lärm der bürgerlichen Revolution wider wie in Träumen. Dass die Musik Beethovens strukturiert ist wie jene Gesellschaft, die man – mit fragwürdigem Recht – aufsteigendes Bürgertum nennt, oder wenigstens wie ihr
Selbstbewusstsein und ihre Konflikte, hat zur Bedingung, dass seine primär-musikalische Anschauungsform in sich vermittelt war durch den Geist seiner Klasse in der Periode um 1800. Er war nicht der Sprecher oder Advokat dieser Klasse, obwohl es an rhetorischen Zügen solcher Art bei ihm nicht mangelt, sondern ihr eingeborener Sohn. In der Ära der Französischen Revolution hatte das Bürgertum entscheidende Positionen in Wirtschaft und Verwaltung bereits bezogen, ehe es die politische Macht ergriff: das verleiht dem Pathos seiner Freiheitsbewegung das Drapierte, Fiktive, von dem auch Beethoven nicht frei war, der sich zum »Hirnbesitzer« gegen den Gutsbesitzer ernannte. Dass er, der Urbürgerliche, von Aristokraten protegiert wurde, stimmt ebensogut zum Sozialcharakter seines Œuvres wie die aus Goethes Biografie bekannte Szene, da er die Hofgesellschaft brüskierte. Berichte über Beethovens Person lassen an seinem sansculottenhaften Wesen wenig Zweifel; es kehrt wieder im plebejischen Habitus seiner Humanität. Diese leidet und protestiert. Sie fühlt den Riss ihrer Einsamkeit. Theodor W. Adorno
Oliver Láng
KEINE VERGLEICHUNG – UND UNBEGREIFLICH HIMMLISCH »übrigens ist die ganze Sache mit der oper die Mühsamste von der Welt, denn ich bin mit dem meisten unzufrieden – und – Es ist beynahe kein Stück – woran nicht hier und da meiner jezigen unzufriedenheit nicht einige Zufriedenheit hätte anflicken müssen.« Ludwig van Beethoven über Fidelio, 1814
← Nina Stemme als Leonore
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Die historische Pointe ist nicht zu übersehen. Da schreibt ein republikanisch gesinnter Komponist eine Oper gegen Tyrannei und Willkür und verwendet ein Libretto, das auf einer französischen Vorlage, verfasst von einem politisch fragwürdigen Wendehals namens Jean-Nicolas Bouilly, basiert. Diese wiederum baut auf einer angeblich wahren Geschichte auf, in der eine mutige Frau ihren Gatten aus der Hand der Jakobiner befreit. Die habsburgische Zensur beäugt und verbietet, um dann wieder zu gestatten – und als die Oper in Wien endlich zur Uraufführung kommt, sind seit einer Woche Soldaten – französische, wohlgemerkt! – als Besatzer in der Stadt. Sie repräsentieren die militärische und eroberungswütige Folge dessen, was knapp 25 Jahre zuvor als große Revolution begonnen hatte: als Französische Revolution, die die Tyrannei abzuschaffen gedachte. Nun in Wien: Napoleon. OLI V ER LÁ NG
Seit Kurzem selbstgekrönter Kaiser und Eroberer halb Europas. Beethoven, ein ehemals großer Bewunderer, hatte ihm gar seine dritte Symphonie widmen wollen, doch kratzte er nach dessen Kaiser-Ernennung wutentbrannt die Widmung wieder weg: »Ist er auch nichts anderes wie ein gewöhnlicher Mensch? Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen, er wird sich nun höher wie alle anderen stellen, ein Tyrann werden!« Die dritte Symphonie wurde übrigens im April 1805, ein halbes Jahr vor der Fidelio-Uraufführung, erstmals öffentlich gespielt. Wo? Im Theater an der Wien, der Uraufführungsstätte des Fidelio. Hatten sich Zuschauer bei Fidelio gefragt, welche Tyrannei bei der Uraufführung gemeint sein könnte? Wohl kaum. Denn es waren bei der ersten Aufführung nicht zu viele (Wiener) Zuhörer vor Ort; die leeren Plätze, erzählt man, wurden mit französischen Soldaten gefüllt. Der Beethoven’sche Fidelio nahm jedenfalls wenig zuvor seinen Anfang. 1804 wurden vom Theater an der Wien-Intendanten Peter Gottlieb Freiherr von Braun dem Komponisten Beethoven zwei Opern vorgeschlagen – unter anderem der damals recht bekannte Stoff der Leonore. Man geht heute davon aus, dass Beethoven von der gleichnamigen Oper Ferdinando Paërs gewusst haben muss, da die beiden Komponisten 1803 zusammengetroffen waren und ein Gespräch über mögliche attraktive Stoffe und Sujets zumindest nicht gänzlich denkfern liegt. Auch muss man annehmen, dass Beethoven bei der Privataufführung von Paërs Leonore bei seinem Gönner Fürst Lobkowitz anwesend gewesen sein muss. – Jedenfalls fand sich in Beethovens Nachlass eine Abschrift der (italienischen Fassung des) Paër’schen Werks. So oder so. Joseph von Sonnleithner übersetzte das genannte Leonoren-Libretto Bouillys ins Deutsche, Beethoven setzte es in Musik. Die Zensur verbot zunächst (siehe oben), genehmigte später nach einigen Änderungen aber doch. Die Uraufführung musste jedoch verschoben werden: Zu anspruchsvoll, so mutmaßt die Wissenschaft heute, war das neue Werk Beethovens für Sänger und Orchester. Als aber am 20. November 1805 das Werk erstmals im Theater an der Wien gespielt wurde, konnte von einem Erfolg keine Rede sein. Die Rezensionen waren vernichtend, wiesen aber teils auch auf die französische Besetzung der Stadt Wien hin, die nicht nur zu einer Flucht der Vermögenden geführt hatte, sondern auch die Stimmung naheliegenderweise empfindlich drückte. Es dürfte mehreres zusammengekommen sein: Besetzung und Ausnahmezustand, womöglich aber auch eine Irritation der Hörer ob des Neuen in Beethovens Musik. Eine genaue Bestandsaufnahme ist uns heute freilich versagt: Die Quellenlage ist überschaubar und recht dünn, zu anderer Zeit an anderem Ort hätte dieser Fidelio vielleicht durchschlagender wirken können. »Die Ouvertüre besteht aus einem sehr langen, in alle Tonarten ausschweifenden Adagio, worauf ein Allegro aus C-Dur eintritt, das ebenfalls nicht vorzüglich ist und mit andern Beethoven’schen Instrumentalcompositionen – auch nur z.B. mit seiner OLI V ER LÁ NG
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Ouvertüre zum Ballett Prometheus keine Vergleichung aushält. Den Singstücken liegt gewöhnlich keine neue Idee zu Grunde, sie sind größtentheils zu lang gehalten, der Text ist unaufhörlich wiederholt und endlich auch zuweilen die Charakteristik auffallend verfehlt...«, las man in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung. Und weit mehr Kritisches noch... Nach nur zwei Folgeaufführungen verschwand Fidelio in der Versenkung. Doch nicht für lange. Die (inzwischen umstrittene!) Legende berichtet, wie eine beherzte Truppe von Künstlern und (adeligen) Freunden Beethovens sich im Dezember des Jahres mühte, den Komponisten zu einigen Kürzungen zu bewegen. Dass diese schwungvoll erzählte, nächtliche Szene tatsächlich stattfand, hinterfragt die Musikwissenschaft inzwischen heftig; jedenfalls entschied sich Beethoven bald für eine Umarbeitung: Es kam zu Straffungen, Umstellungen (die dreiaktige Oper erhielt eine zweiaktige Form) – und zu einer partiellen Schärfung der Charaktere. Es ist nun, anders als in der ersten Fassung, Leonore und nicht Marzelline, die die Gefangenen aus den Zellen lässt – man beachte die dramaturgische Präzisierung Leonores als Unterstützerin aller Gefangenen! Die textlichen Änderungen lagen in den Händen von Stephan von Breuning – der durchschlagende Erfolg war jedoch auch mit dieser Fassung, erstmals am 29. März 1806 erklungen, nicht gelungen. Zwar sind die uns überlieferten Meinungen über das Werk durchwachsen und im Großen und Ganzen besser als bei der ersten Fassung, doch verhinderte ein finanzieller Streit des Komponisten mit dem Intendanten eine längere Laufzeit des Werks: Nur zweimal erklang diese Leonore im Jahr 1806. Dann endlich. Aus einer Spielplan-Verlegenheit heraus, wandte sich das Kärntnertortheater 1814 an den Komponisten, um ihn um den Fidelio zu bitten. Es kam erneut zu umfassenden Änderungen, als neuer Text-Bearbeiter wurde Friedrich Treitschke aufgeboten. Nur ein Detail zur inhaltlichen Umarbeitung: Leonore bittet diesmal aus eigenem Antrieb heraus und ohne Zustimmung Pizarros, die Gefangenen an die frische Luft zu lassen. Noch einmal wird hier das Profil der Protagonistin in puncto allgemeine Humanität zugespitzt. Am 23. Mai 1814 schließlich kam es zur Uraufführung der dritten Fassung – und diesmal sollte der Erfolg nicht auf sich warten lassen. Wie anders klangen nun die Rezensionen: »Die Musik zu dieser Oper ist ein tiefgedachtes, reinempfundenes Gebilde der schöpferischsten Phantasie, der lautersten Originalität, des göttlichsten Aufschwungs des Irdischen in das unbegreifliche Himmlische«, so entrückt euphorisch schrieb der Rezensent der Wiener Theaterzeitung über die erste Aufführung. Beethoven, am Gipfel des Ruhmes, wurde nun auch als Opernkomponist akzeptiert. Von nun an sollten der Fidelio die internationalen Spielpläne nicht mehr verlassen – alleine im Haus am Ring wurden in 150 Jahren rund 1000 Vorstellungen der Oper gegeben...
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K EIN E V ERG LEICH U NG – U N D U N BEGR EIFLICH HIM MLISCH
Alexandra Steiner-Strauss
DURCH NACHT ZUM LICHT Fidelio in den Bühnenbildentwürfen von Alfred Roller (1904), Caspar Neher (1942) und Clemens Holzmeister (1955)
Dass es sich mit Beethovens Fidelio und seinem Libretto in den Opernhäusern gut feiern lässt, ist eine bekannte Tatsache – erstaunlich ist nur die Bandbreite der politischen Instrumentalisierung: So spielte man in Wien Festvorführungen des Fidelio zum 250. Jahrestag der Osmanenbefreiung 1933, anlässlich des Besuches von Hermann Göring am 25. Mai 1938, zum Geburtstag des »großdeutschen Reiches« am 13. März 1942 und schließlich am 6. Oktober 1945 zur Feier der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Auch zur glanzvollen Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper am 5. November 1955 zeigte man Fidelio. Die stets wechselnden politischen Anlässe lassen oft die Arbeit der Bühnenbildner vergessen: Sie schufen hochwertige Ausstattungen, deren Qualität gerade bei den Fidelio-Inszenierungen an der Wiener Staatsoper bemerkenswert ist. Drei dieser Aufführungen soll hier besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, nämlich Gustav Mahlers und Alfred Rollers bahnbrechendem Fidelio 1904, Caspar Nehers kriegsbedingt nüchterne Ausstattung von 1942 und schließlich Clemens Holzmeisters Bühnenbild zur Eröffnungsvorstellung der Staatsoper 1955.
Tradition ist Schlamperei: Gustav Mahler / Alfred Roller 1904 Als sich in der Wiener Hofoper der Vorhang am 4. Oktober 1904 – nicht zufällig der Namenstag des Kaisers – hob, hatte das Wiener Publikum die Gelegenheit, wieder ein Meisterwerk des Teams Gustav Mahler-Alfred Roller zu bewundern: den von toute Vienne mit Spannung erwarteten Fidelio, von Mahler musikalisch, von Roller optisch rundum erneuert. Nach Tristan und Isolde (1903) war Fidelio eine weitere Zusammenarbeit Mahlers und Rollers, die einer für Wien völlig neuen Bühnenästhetik den Weg ebnete. Hatte Tristan und Isolde den radikalen Bruch mit der Bayreuther Tradition bedeutet, so bedeutete dieser Fidelio eine weitere Absage an die Hör-und Sehgewohnheiten des an der Ästhetik des 19. Jahrhunderts geschulten Publikums: Ausgerechnet die konservative Hofoper wurde unter Gustav Mahler und seinem engen Mitarbeiter Alfred Roller in diesen Jahren zum Schauplatz von Inszenierungen, die keine andere große europäische Bühne an Modernität zu bieten hatte. Die vorhergehenden Inszenierungen des Fidelio an der Hofoper stammten von 1869 bzw. 1876 und waren von den bewährten Hoftheaterausstattern Theodor Jachimovicz und Carlo Brioschi in wirkungsvollen, historistischen Bildern in Szene gesetzt worden. Für Rollers Inszenierung von 1904 liegen – neben den erhaltenen Bühnenbildentwürfen und Figurinen – zahlreiche Zeugnisse vor, die uns heute noch ein ungewöhnlich gutes Bild der Aufführung ermöglichen: An erster Stelle ist ein Regiebuch Rollers mit Skizzen und Notizen für die Berliner Aufführung des Fidelio von 1926 zu nennen, für die Roller aber 77
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wohl weitgehend seine erste Fidelio-Inszenierung von 1904 übernahm. 1923 veröffentlichte Roller den Aufsatz »Die Fidelio-Bühne«, anhand dessen man die wesentlichen Punkte seiner Fidelio-Inszenierung nachvollziehen kann. Kritiken und zeitgenössische Berichte vervollständigen das Bild. Bereits für das erste Bild änderte Roller die Bildtradition: Das erste Bild zeigte die Stube Roccos. Aus Kostengründen hatte man bislang die Stube Roccos – entgegen den Bühnenanweisungen im Libretto – zumeist in den Kerkerhof gestellt, um sich eine Dekoration zu ersparen. »Wenn in dem Kerkerhof, wie dies auch jetzt noch häufig geschieht, die Außenseite von Roccos Behausung als freundliche Bauernhütte hineingestellt wird, vor der Marzelline ihre Wäsche plättet und ihr Gespräch mit Jaquino hat, so verliert der Hof die einheitliche Stimmung des Grauens, und die folgenden Vorgänge, die in ihm spielen, sind einer vollkommen entsprechenden Umgebung beraubt. Ihre Wirkung wird dann durch die Szenenumwelt nicht verstärkt, sondern abgeschwächt«, beschreibt Roller seine Absicht. In einem Brief an den Musikkritiker Ludwig Karpath betonte Roller, dass für Mahler diese Änderung ganz wesentlich war: »Großes Gewicht legte Mahler auf die Traulichkeit der Rocco-Stube. Blumen am Fenster! Diese muss der mit Beginn des Canons einfallende Sonnenstrahl streifen.« Diese Briefstelle macht zudem deutlich, welchen großen Anteil Mahler an den Inszenierungen nahm und wie sehr jedes Detail von ihm und Roller geplant war. Tatsächlich transportierte dieses Bild nun eine völlig andere Stimmung als der Beginn der alten Inszenierung von 1876, die mit Carlo Brioschis Kerkerhof begann, einem noch ganz in der historistischen Tradition stehenden Burghof mit zahlreichen romantisierenden Türmen und Details. Während Brioschis Gefangenenhof noch beinahe Freundlichkeit ausstrahlte, so entwarf Roller für das zweite Bild einen finsteren Raum, der durch den monumentalen Turm an der Rückwand beklemmend wirkte und im Betrachter ein Gefühl der Enge und Bedrückung hervorrufen musste. Zunächst aber sah das Publikum, als der Vorhang sich hob, keinen Kerkerhof, sondern eine abgewohnte, einfache, aber freundliche Behausung. Als Leonore das Zimmer betrat, änderte sich das Licht; beim Kanon fiel das Licht von oben herein und ließ die Bühne in Vorwegnahme des Finales erstrahlen. Der Gegensatz zum folgenden Bild des »Kerkerhofes« hätte kaum größer sein können. Besonders eindrucksvoll inszenierten Roller und Mahler den Freiheitschor: Die Gefangenen schlüpften aus einem Loch in der Mauer; auf der linken Seite war der Schatten einer Wache bedrohlich zu sehen. Auch das dritte Bild, die Zisterne oder der Kerker, bot dem Bühnenbildner zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten: »Der ›Kerker‹ ist ein stehender Vorwurf der barocken Theaterkunst und hat durch die großen Wiener Meister häufig prachtvolle Lösungen erhalten. (...) Weiträumige Hallen mit kühnen Stiegenperspektiven, eingestürzten Gewölben, Brücken und Pfeilern sind da zu wirksamen Bildern verarbeitet«, so Roller in seinem Aufsatz. Tatsächlich zeigt der Bühnenbildentwurf von Theodor Jachimovicz für die Inszenierung A LEX A N DR A ST EIN ER-ST R AUS S
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von 1874 einen Kerker ganz in der Tradition der barocken Theaterarchitekten Galli Bibiena oder eines Piranesi. Auch Roller hatte die Zisterne zunächst in dieser Weise geplant, was aber von Mahler mit den Worten »zu sehr Nibelheim« zugunsten einer anderen Lösung verworfen wurde: Schließlich entwarf Roller einen riesigen dunklen Raum, ganz mit schwarzem Samt ausgeschlagen. Die einzige Lichtquelle war die Laterne, die Florestan in der Hand hielt. »Wer auf sie (= »die Einleitungsmusik zu dem Kerkerbilde«) hört, wird sich den Kerker Florestans gar nicht beengend, bedrückend und vor allem dunkel genug vorstellen können. Durch den Verzicht auf ein pompöses dekoratives Bild und durch die starke Herausarbeitung der zuletzt erwähnten Eigenschaften ergibt sich auch der beste Gegensatz zu dem Schlussbilde und wird am treuesten beim Grundgefühl des ganzen Werkes: ›Von Nacht zum Licht‹ gefolgt.« Die berühmte Arie des Florestan fand damit in fast totaler Finsternis statt. Rollers Einsatz des Lichtes und vor allem der Dunkelheit sorgte bereits bei Tristan und Isolde und auch in späteren Inszenierungen immer wieder für Kritik und verunsicherte sowohl Sänger als auch Kritiker. Einem Bericht von Berta Zuckerkandl zufolge äußerte selbst Alma Mahler den Einwand, man müsse die Sänger auf der Bühne sehen können. Roller blieb jedoch seinem beinahe expressiven Umgang mit Licht und Dunkelheit auch in späteren Inszenierungen treu. Anschließend an die Kerkerszene folgte Mahlers berühmteste und richtungsweisende Änderung: Die dritte Leonoren-Ouvertüre wurde nun eingespielt – angeblich auch, weil Rollers Einbauten sehr massiv waren und man für die Umbauten zum nächsten Bild sehr lange brauchte. Auf die fast komplette Dunkelheit und Abgeschlossenheit des Kerkers folgte nach der Ouvertüre ein Bild von strahlender Helligkeit und Weite: Für das Finale hatte Roller eine Terrasse entworfen, an deren linker Seite eine fast ägyptisch anmutende Architektur stand, aus deren Tür die Gefangenen ins gleißend helle Sonnenlicht taumelten. Roller bediente sich der gesamten eindrucksvollen Tiefe der Opernbühne, um nach der Enge des Kerkers die Weite als Gegensatz zu nützen. Roller selbst weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass es für die letzte Szene unterschiedliche Anweisungen im Libretto und in der Bühnentradition gab: Von den Möglichkeiten »Paradeplatz«, »Kerkerhof« oder »auf dem Ball« entschied sich Roller für Letzteres: »Diese Annahme bietet die Möglichkeit, im Gegensatz zu dem vorhergegangenen Bilde, eine Szene von strahlender Helligkeit zu entwickeln, und ist schon deshalb die dem Werke gemäßeste. Wenn vollends, wie in Wien durch Mahler eingeführt, als Übergangsmusik von der Kerkerszene zur letzten die »Dritte Leonoren-Ouvertüre« gespielt wird, so ist für das letzte Bild die Annahme eines anderen Schauplatzes als einer von Licht und Helligkeit umfluteten, frei und hoch gelegenen Stelle wohl überhaupt ausgeschlossen«. Ein Bühnenbild »gemalt in C-Dur«, urteilte Julius Korngold in der Neuen Freien Presse. »Von Nacht zum Licht«, schrieb Roller, sei der Grundzug des Werkes und dem folgte er 79
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in seinen vier Bühnenbildern. Rollers und Mahlers Interpretation des Fidelio wurde zur Musterinszenierung; viele andere folgten – auch noch Jahrzehnte später – ihrem Modell.
Ein Fidelio in dunklen Zeiten: Caspar Neher 1942 Mitten im Krieg ereignete sich an der Wiener Staatsoper ein kleines Theaterwunder: Karl Böhm, Regisseur Oscar Fritz Schuh und Bühnenbildner Caspar Neher (1897-1962) schufen den für lange Zeit als legendär geltenden Wiener Mozartstil, der die Opern Mozarts unprätentiös, von allem Dekorativen entschlackt und auf die Handlung konzentriert, auf die Bühne brachte, dabei unterstützt von einem hochkarätigen Sängerensemble. Neher hatte als Bühnenbildner Bertolt Brechts Berühmtheit erlangt und die Uraufführungen von Trommeln in der Nacht und Die Dreigroschenoper in Szene gesetzt. Wer an die ersten Brecht-Aufführungen denkt, denkt auch heute in den Bühnenbildern Nehers. Später konzentrierte sich Neher mehr und mehr auf das Musiktheater, was schließlich zu seiner Zusammenarbeit mit Gottfried von Einem führen sollte. Ab 1941 war Neher an der Staatsoper tätig; 1942 entschloss man sich zu einer Neuinszenierung des Fidelio. Furtwängler dirigierte eine seiner legendären Beethoven-Interpretationen, Lothar Müthel führte Regie. Nehers Bühnenbildentwürfe sind Kunstwerke für sich: Zumeist auf nassem Papier gemalt, skizzierte er seine Vorstellungen in Wasserfarben und Tusche, häufig unter besonderer Verwendung von Deckweiß. Auch Nehers Entwürfe zum Fidelio zeigen einen ähnlichen Zugang wie seine Mozart-Interpretationen: sparsame, nüchterne Räume, von allem Romantisierenden befreit. Die Geld- und Personalknappheit mitten im Zweiten Weltkrieg mag zu diesem Umstand beigetragen haben. Dominant in Nehers Konzeption ist die Festungsarchitektur, die vom ersten bis zum vierten Bühnenbild stets präsent ist: Roccos Stube ist – ganz im Gegensatz zu Rollers Entwurf – ein kühles, nüchternes Zimmer mit Wänden aus Stein; auch die wenigen Möbel vermögen der Bühne nichts Wohnliches zu geben. Der Gefangenenhof und die Zisterne folgen deutlich barocken Vorbildern und scheinen in ihrer steinernen Monumentalität die Gefangenen, die nur in Umrissen in Deckweiß skizziert sind, zu erdrücken. Auch in der letzten Szene, die bei vielen Bühnenbildnern in der Nachfolge Rollers in die Tiefe und Weite geht, bleibt Neher dem abgeschlossenen Burgraum treu. In diese Architektur setzt er ein festliches Bild, dessen Hauptfaktor das fast nach religiösem Vorbild einfallende Licht von oben bildet.
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Ein Akt der Kulturpolitik: Clemens Holzmeister 1955 Dass die von Krieg und Bomben zerstörte Wiener Staatsoper am 5. November 1955 mit der Befreiungsoper Fidelio wiedereröffnet wurde, ist leicht zu verstehen. Erst kurz zuvor war die immerwährende Neutralität Österreichs beschlossen worden, der letzte alliierte Soldat hatte das Land verlassen. Die Eröffnung der Staatsoper wurde zum Staatsakt, Kultur zum Politikum, Karten für die Premiere waren kaum zu bekommen. Zahlreiche prominente Gäste aus dem In- und Ausland kamen, um die Wiedereröffnung der Staatsoper und die Geburt der Zweiten Republik mit dieser Fidelio-Aufführung zu feiern. Bereits am 6. Oktober 1945 hatte man im Theater an der Wien, dem Ausweichquartier der Wiener Staatsoper, mit Fidelio das Ende des Zweiten Weltkriegs gefeiert. Bei genauerer Betrachtung des Leadingteams der Aufführung von 1955 stellte sich jedoch die Janusköpfigkeit der jungen Republik schnell heraus: Mit Direktor Karl Böhm als Dirigent und ausgerechnet Heinz Tietjen als Regisseur, unter den Nationalsozialisten künstlerischer Leiter der Festspiele in Bayreuth und Intendant der preußischen Nationaltheater, hatte man wohl zwei Künstler ersten Ranges, politisch allerdings belastete Persönlichkeiten für die Festvorführung gewählt. 1955 stellte jedoch niemand diese Besetzung infrage, weder die in- noch ausländische Presse und Politik. Lediglich bei der Wahl des Bühnenbildners versuchte man offenbar ein Zeichen zu setzen: Man nahm Kontakt mit Marc Chagall auf, dessen jüdische Herkunft und hohes internationales Renommée als Maler tatsächlich das Zeichen eines Neuanfangs gewesen wäre. Die Verhandlungen scheiterten, und so fiel die Wahl auf den eben nach Österreich zurückgekehrten Clemens Holzmeister (1886-1983). Er war 1938 von den Nationalsozialisten in seiner Eigenschaft als Professor für Architektur an der Wiener Akademie der bildenden Künste zwangspensioniert worden und in die Türkei emigriert. Durch den Bau des Krematoriums am Wiener Zentralfriedhof (1923/24) und vor allem durch seine großen Regierungsbauten in der Türkei war Holzmeister einer von Österreichs international renommiertesten Architekten. Einen besonderen Stellenwert hatte für ihn das Theater, vor allem seine Arbeiten für die Salzburger Festspiele und seine Zusammenarbeit mit Max Reinhardt machten ihn auch als Bühnenbildner berühmt. Seine »Faust-Stadt« für Salzburg (1933) schrieb Theatergeschichte. Erst 1954 kehrte Holzmeister dauerhaft nach Österreich zurück, wo er als Rektor der Akademie der bildenden Künste eingesetzt wurde. Holzmeister hatte Fidelio bereits 1926 für die Salzburger Festspiele ausgestattet, so wusste man, was man für diese wichtige Aufführung erwarten konnte. Holzmeister blieb im Großen und Ganzen der Konzeption von 1926 treu und schuf
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ein Bühnenbild von »monumentaler Sachlichkeit«, die sich gerade für das Fidelio-Bühnenbild mit Kerkerhof und Zisterne besonders gut eignete. Holzmeister folgte im Grunde der bereits bei Roller formulierten Idee, auf die Finsternis das Licht folgen zu lassen: Auf Roccos Stube, die in nüchterner Ausstattung gehalten ist, folgt die düstere Zisterne. Don Pizarros Burg wird bei Holzmeister zu einer veritablen spanischen Festung, in deren Mitte die schwarzen Gitterstäbe des Burgtores symbolhaft dominieren. Anders als in Salzburg lässt Holzmeister in Wien 1955 das Finale auf einer weiten, mehrstufig angelegten Ebene spielen, wie einst Roller entwirft Holzmeister ein in strahlend helles Licht getauchtes Bühnenbild, das zumindest im Entwurf in hellen gelb-blau und weißen Tönen gehalten ist und den Besucher in eine schöne, hoffnungsfrohe Zukunft entlässt. Die Inszenierung von Tietjen/ Holzmeister blieb bis 1970 im Repertoire – erst dann traute man sich, diese für Österreich kulturpolitisch bedeutsame Inszenierung durch einen neuen Fidelio von Otto Schenk und Günther Schneider-Siemssen zu ersetzen.
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Egon Friedell
» Beethoven, Napoleon und Goethe sind die drei größten Gestalten des Zeitalters; aber Beethoven ist der edelste von den dreien. Und es ist eine tragische Fügung, dass er wohl die beiden anderen verstanden hat, sie aber nicht ihn. Hätte Goethe das Phänomen Beethoven begriffen, so hätten wir heute vielleicht das großartigste und profundeste Kunstwerk aller Zeiten: einen von Beethoven komponierten Faust; die Unendlichkeit des Gedankens, vermählt mit der Unendlichkeit der Melodie. Und wenn Napoleon Beethoven erfasst hätte, so hätte Europa seine dritte Symphonie, die ›Eroica‹, ›composta per festeggiare il sovvenire di un grand’uomo‹, ursprünglich General Bonaparte gewidmet hatte und, als dieser sich zum Kaiser machte, die Zueignung vernichtete. Was diese und die Neunte schildern, das hätte Napoleon werden sollen und können: der Held im Dienste der Menschheit; und das ist er nicht geworden. «
Oliver Láng
FIDELIO UND DIE POLITIK Wie nur sehr wenige andere Musiktheaterwerke ist Beethovens Fidelio heute nicht nur von der Aura des Politischen umgeben, sondern auch von ihr radikal gezeichnet. Dies in einem weitaus stärkeren Maße, als zur Zeit der Uraufführung 1805, einer Epoche, die immerhin von größten politisch- und gesellschaftlich-tektonischen Bewegungen bestimmt war: Damals schien das Politische in dieser Oper nur sehr nachgereiht aufgefallen zu sein. – Nun mag zwar einer einwenden, dass ein Eingriff durch die Zensur vor der Uraufführung durchaus auf einen wahrgenommenen politischen Gehalt des Werks rückschließen lasse – doch war die Zensur so allgegenwärtig, dass es gar keines besonderen politisch-brenzligen Grundes bedurfte, um sie auf den Plan zu rufen. Abgesehen davon waren die Eingriffe (wenn überhaupt vorhanden) von geringem Ausmaß, eine umfassende Umschreibung einzelner Teile war offenbar nicht von Nöten. Diese entsprechende Aufladung der Oper bringt, nicht zwangsläufig, aber naheliegenderweise, die Frage nach dem Politischen des Autors auf. Hier muss man freilich, 250 Jahre nach dessen Geburt, behutsam sein. Denn viele Be- und Überschreibungen der Persönlichkeit Beethovens haben zu einer verstärkt-plakativen Verbildlichung seines Charakters geführt, Begriffe wie »einsam«, »Titan«, »Revolutionär«, aber auch »erster freier Musiker« etc. wurden und werden in den Raum gestellt, ohne diese auf ihre tatsächliche Relevanz zu überprüfen. Vom Komponisten selbst sind freilich keine umfangreichen weltanschaulichen oder gesellschaftspolitischen Schriften überliefert, und in Verbindung mit seinen nicht immer eindeutigen Haltungen und wechselhaften Sympathiebekundungen führt dies zu einer mitunter spekulativen Einschätzung von Beethovens Ansichten. Sozialisiert wurde der im katholischen Umfeld Geborene jedenfalls in OLI V ER LÁ NG
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einem aufgeklärten Milieu: Das Wirken der Kurfürsten seiner Bonner Zeit, Maximilian Friedrich und Maximilian Franz, zeichnete sich durch tiefgreifende soziale und politische Reformen aus; dazu kam, dass der große philosophische Geistesraum, den Immanuel Kant evozierte, für einen Komponisten wie Beethoven über viele Wege zu erfahren war – und erfahren wurde. Auch eine direkte Parteinahme für Schiller und dessen Werk ist einfach nachweisbar, ebenso konnte Beethoven sich, wie viele Intellektuelle seiner Zeit, dem umstürzlerischen Charme der Französischen Revolution nicht entziehen. Weniger dominierend ist seine Anbindung an Geheimbünde wie die Illuminati oder Freimaurer, deren Mitglied er niemals wurde. Seine große Vertrautheit mit Kreisen der (Wiener) Aristokratie strapazierte er mitunter durch berühmt-harsche Einwürfe, die jedoch mehr dem autonomen Künstlertum geschuldet waren als einem generellen gesellschaftlichen Egalitätsdenken. In gleichem Maße bespielte Beethoven die Klaviatur der lukrativen Widmungen an hohe Persönlichkeiten, die – letztlich – das wirtschaftliche und gesellschaftliche Auskommen des Komponisten sicherten. Es war also eine ausbalancierte und wechselseitige Inanspruchnahme des gegenseitigen Entgegenkommens, das das Beziehungsgefüge auszeichnete. So oder so: Zahlreiche Briefe und persönliche Anmerkungen Beethovens verweisen auf einen, die Freiheit intensiv propagierenden, Künstler, und gerade im Fidelio von 1805 vertonte er in der Gold-Arie des Rocco einen geradezu revolutionären, kapitalismuskritischen Text, der in der Fassung 1814 so nicht mehr vorkommt. Über Beethovens wechselnde Sympathie für Napoleon ist schon vieles geschrieben worden, und alleine die Tatsache, diesem im Jahr 1803 in Österreich eine Symphonie widmen zu wollen, deutet zumindest auf eine gewisse Portion Mut hin; gleichzeitig war Beethoven ein Komponist, der sich zu patriotischen Hauruck-Werken und Kriegslärm hinreißen ließ – das Kriegslied der Österreicher mit dem Textbeginn »Ein großes deutsches Volk sind wir / Sind mächtig und gerecht. / Ihr Franken das bezweifelt ihr? / Ihr Franken kennt uns schlecht!« widerspricht dem geistig hehren Humanisten. Auch das profane Schlachtengemälde Wellingtons Sieg mag das an Schiller geschulte, dem Erhabenen und der Freiheit verpflichtete Freidenkerbild ebenso trüben wie die bekannten Verachtungsausrufe Beethovens in Bezug auf die Gleichheit und Brüderlichkeit, wenn es um Personen eines von ihm so empfundenen »niedrigeren« Standes ging. Davon unberührt freilich Fidelio als die große Revolutions- und Freiheitsoper: Bekannt ist, dass die Rezensionen der Uraufführungs-Zeit recht unfreundlich klangen. Interessant ist, dass es dabei um das Musikalische und die textliche Qualität, nicht aber um den Inhalt ging. Wobei man anmerken muss, dass die dargebrachte Befreiungshandlung der Oper an sich allgemein recht bekannt war und immer wieder, in unterschiedlichen Variationen, in den Spielplänen auftauchte: So erklang fast zeitgleich im Theater 85
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an der Wien eine Oper in sehr ähnlicher Bauart (Die Festung an der Elbe von Anton Fischer) – nur dass es diesmal nicht die Ehefrau, sondern die Tochter war, die rettend eingriff. 1904, als Gustav Mahler mit dem Ausstatter Alfred Roller Fidelio als eine seiner zentralen Reforminszenierungen herausbrachte, war ein Wendepunkt der Inszenierungsgeschichte erreicht. Doch abgesehen von der genau ausdifferenzierten Regie fand – im Bereich der Rezeption zeitgleich eine weltanschauliche Zuschreibung statt. Max Kalbeck, einer der zentralen und prominenten Musikschriftsteller seiner Zeit, skizziert den Anspruch dieser Oper als gesellschaftspolitisches Schlüsselwerk – auch religiöser Prägung: »Mit Beethoven tritt Gott nur darum [als deus ex machina] aus der Wolke hervor, weil er von Anfang an dahinterstand. Er ist allgegenwärtig und wir fühlen seine Nähe, wenn sein Sendbote in Gestalt Leonorens unter die kleinen Menschen tritt, um sie aus ihrer armseligen Dumpfheit zu erwecken, die dunkle Erdenmacht ihrer Gefängnisse mit seinem Glanze zu erhellen, die Macht der frechen Gewalthaber, die in seinem Namen freveln, zu zerschmettern, die Unschuld zu retten und die im Elende der Sklaverei schmachtenden Völker zur Freiheit emporzuführen.« Als nächste wichtige Etappe das Jahr 1927, die Hundertjahrfeier von Beethovens Geburtstag: Im Wiener Musikverein erklang, vor zahlreichen europäischen Politikern unterschiedlichster Ausrichtung, ein Festkonzert, die Wiener Staatsoper brachte eine Neuproduktion des Fidelio, die Franz Schalk dirigierte und Lothar Wallerstein inszenierte, heraus. Die vielfach aufgesplitterte politische Landschaft wird auch in den Kommentaren zum Jubiläum greifbar: In der Neuen Freien Presse schreibt der französische Justizminister Louis Barthou unter dem Titel Völkerversöhnung als Gedenkfeier für Beethoven über ihn als »Gott der Musik«, in dessen Werk man »jeden Ausdruck einer neuen Menschlichkeit« finden könne. In der Zeitung Arbeiterwille wird das Bild eines atheistischen Sozialrevolutionärs, der in die adeligen Salons tritt »wie ein Löwe in den Schafstall« gezeichnet, in Die rote Fahne liest man: »Man hat oft den Fidelio als Hohelied der Gattenliebe genannt. Mit einer solchen Bezeichnung trifft man jedoch nur eine Seite des Inhalts. Die andere zeigt uns den Kampf gegen Tyrannei und Despotenwillkür und das ist der eigentliche Inhalt dieser einzigen Oper Beethovens«. Die christlichsoziale Reichspost hingegen: »Was für Beethoven eben die Grundvoraussetzung alles musikalischen Schaffens war, das war einzig und ausschließlich das religiöse und sittliche Ethos, das sittliche Erleben und Besserwerden durch das Arbeiten an dem Werke, und deshalb musste für ihn auch schon der gewählte Stoff als solcher selbst ein sittlich und religiös durchaus erhabener sein. Im Fidelio, dem hohen Liede auf die hingebungsvolle, keusche, reine, von der Religion geheiligte und gebilligte Gattenliebe war dies der Fall«. Die politischen Trennlinien waren, bei aller verbindenden Feierlichkeit, auch in puncto Rezeption scharf gezogen. OLI V ER LÁ NG
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Am 12. September 1933 wurde unter Clemens Krauss eine »Festvorstellung anlässlich der 250-jährigen Türkenbefreiungsfeier« gegeben – mit Beethovens Fidelio. Etwa fünf Jahre später, unmittelbar nach dem sogenannten »Anschluss«, wurden auch in Österreich Beethoven zum »deutschen« Künstler und Fidelio zur nationalsozialistischen Oper missbraucht, und das – ebenso zynisch – im Verbund mit dem Freiheitsdenken Schillers: »Und dann der Tell, dieses eigentliche Nationalschauspiel unseres Volkes, dem im Bereiche der Oper, was völkisches Ethos anlangt, der Fidelio von Beethoven und die Meistersinger von Wagner entsprechen. Und wenn in der Schlussszene des Tell – wie in der Schlussszene des Fidelio – die Freiheit auf der Bühne ihre Banner entfaltet, so ist Schiller in diesem Taumel der ewige Dichter seines Volkes«, so das nationalsozialistische Neue Wiener Tagblatt wenige Tage nach dem sogenannten »Anschluss«. Augenblicklich wird die Freiheitsoper im Sinne der bestehenden NS-Ideologie umgedeutet, gleichzeitig lässt man den Regisseur Lothar Wallerstein vom Abendzettel verschwinden. Zum Besuch Görings am 27. März 1938 in der Staatsoper spielt man Fidelio, und im redaktionellen Gleichschritt wird die Oper in den Zeitungen als nationalsozialistisches Befreiungswerk missbraucht. »Fidelio, das Hohelied der Gattenliebe, Treue und des heldenhaften, siegreichen Kampfes gegen Unrecht, Vergewaltigung und Unterdrückung war in weiser Voraussicht gewählt worden, um der beglückenden Tatsache der Befreiung Österreichs das künstlerische Symbol gegenüberzustellen«, so das NS-Organ Völkischer Beobachter. Und mit Pizarro assoziiert der Rezensent Kurt Schuschnigg. Nach der Premiere am 9. Februar 1939 wird in Berichten die »absolute Treue zum Geiste Beethovens« beschworen: unausgesprochen aber präsent hier die Kritik an Gustav Mahlers freier musikalischer Interpretation – und Regisseur Erich von Wymetal nahm diesmal auch die durch Mahler/Roller eingeführte Trennung des 1. Bildes in zwei Schauplätze – ein Zimmer und den Gefängnishof – zurück. Die Bedeutung des Fidelio für das NS-Regime zeigt sich auch daran, dass schon drei Jahre darauf wieder eine Premiere stattfand, diesmal unter Wilhelm Furtwängler. In Summe erklang Fidelio in den Jahren des NS-Regimes häufiger als in den Jahren zuvor. Nach der Befreiung Österreichs spielte man am 6. Oktober 1945, zur Wiederöffnung des Theaters an der Wien (als Spielstätte der Wiener Staatsoper) erneut Fidelio: »Die Festvorstellung fünf Monate nach Kriegsende war für uns ein Signal, dass wir die Nazi-Zeit, die Vernichtung von Menschen, wirklich überstanden hatten. Es gab bei dieser Aufführung keine Abendkleider, eher russische Uniformen im Zuschauerraum, wir alle hatten Hunger und wussten, dass wir nachher durch eine Trümmerlandschaft würden heimgehen müssen. Aber wir erlebten das Fidelio-Finale so intensiv wie kaum jemals in späteren Jahrzehnten. Dieses Finale war für uns damals kein politisches, sondern ein menschliches Manifest, und ich denke, Beethoven wäre mit dieser Wirkung mehr als zufrieden gewesen«, schrieb der 87
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Zeitzeuge Karl Löbl. Die Freiheitsoper hatte ihre tatsächliche Bedeutung wiedererhalten – was auch in den Zeitungen thematisiert wurde: »Heute können wir sagen: Jawohl, diese Freiheitsklänge, sie haben ewige Bedeutung und ewige Geltung und gelten auch für den heutigen Tag. Wir scheuen uns nicht, dieses edelste Manifest der Freiheitsgesinnung in Beziehung zu bringen mit dem Zeitgeschehen. Beethoven hat den Sang der Freiheit auch für uns gesungen, die wir aus dem Joch der schmählichsten Versklavung endlich an die Pforte einer neuen Zeit gelangten, und wir empfinden es als stolze und erhebende Beglückung, dass wir in den Freiheitschor heute als freies Volk mit einstimmen dürfen«, schrieb das Neue Österreich. Und im Neuen Kurier erinnerte man sich zurück: »Als der Fidelio vor drei Jahren in der Staatsoper neuinszeniert erschien – in einer sehr guten Aufführung –, da hätte man trotz aller Kunst am liebsten sein Antlitz vor Scham verhüllt, denn dieses Verdikt für einen des Denkens Verdächtigen: ›Ein Stoß – und er verstummt‹ gab es nicht in der Oper allein, sondern in der Wirklichkeit des Dritten Reiches, und diese Gefangenen waren nicht Phantasien, sondern lebten, waren Fleisch und Blut. Und indem man zuhörte und zuschaute, fühlte man sich fast mitschuldig an der Verlogenheit, die eine Fidelio-Aufführung in Hitler-Europa bedeutete.« Schatten der Vergangenheit blieben: Den Fidelio zur Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper am 5. November 1955 dirigierte Karl Böhm, der letzte Staatsoperndirektor in der Nazi-Zeit und absurderweise der erste der wiedereröffneten Staatsoper, ein Dirigent, der mehr als nur ein Mitläufer gewesen war; Hans Tietjen, der Regisseur der Galapremiere, war politisch ebenso stark belastet. Dass man gerade diesen Künstlern das Freiheitswerk, dessen Aufführung 1955 als Symbol für das wiedererstandene Österreich gesehen wurde, in die Hand gab, ist mehr als nur Unachtsamkeit. Es zeigt, auf wie viele Arten die musikgewordene Idee der Freiheit missbraucht werden kann: durch Tun, aber auch Schweigen – und Verschweigen.
→ Camilla Nylund als Leonore
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Karl Löbl
POLITIK UND LIEBE
Eine »Austrian Coronation« war angekündigt. Nicht als monarchischer Akt, sondern als republikanisches Ereignis. Gefeiert werden sollte der im Mai 1955 abgeschlossene »Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreichs«. So der offizielle Titel jenes Dokuments, das zehn Jahre nach Kriegsende dem Land die Freiheit bestätigte, also auch den Abzug der Besatzungsmächte verkündete. Die Eröffnung der wieder aufgebauten Wiener Staatsoper im November 1955 sollte dieses politische Ereignis »krönen«, meinte damals Bundes theaterchef Ernst Marboe, auch in Erwartung der ausländischen Diplomatie. Als Eröffnungsvorstellung war Mozarts Don Giovanni zur Diskussion gestanden, denn mit diesem Stück hatte man 1869 die neu erbaute Hofoper eingeweiht. Aber Staatsoperndirektor Karl Böhm hatte für Beethovens Fidelio plädiert und das erwies sich zu dem Zeitpunkt angesichts der aktuellen Ereignisse als richtige Wahl. Denn Fidelio ist auch ein politisches Stück. Darin wollte Beethoven die Idee von Freiheit und Brüderlichkeit verkünden, nicht nur das Ideal der Gattenliebe. Dieser politische Aspekt ist bis heute aktuell. (So findet sich beispielsweise im Entwurf des Koalitionsvertrags von CDU und SPD nach den deutschen Wahlen 2013 ein Passus, dass der 2020 bevorstehende 250. Geburtstag Beethovens eine »nationale Aufgabe« sei.) K A R L LÖBL
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In Wien war im November 1955 noch ein medialer Effekt hinzugekommen: Die Wiedereröffnung der Staatsoper war als erste große Livesendung des erst seit August versuchsweise aktivierten Österreichischen Fernsehens vorgesehen. Man holte dafür den österreichischen Journalisten Heinz Fischer-Karwin, der zuvor seine Erfahrungen in London und Paris gesammelt hatte und als Radio- und Wochenschau-Moderator der Staatsvertragsunterzeichnung schon damals in der Öffentlichkeit zum »Starreporter« avanciert war. Jetzt kommentierte er also mit markanter Stimme die Operneröffnung. Es gab zwar nur wenige Fernsehapparate, aber Interessierte und Neugierige wussten, welche öffentlichen Lokale sich den Luxus dieser Anschaffung bereits geleistet hatten. Als 25-jähriger Kulturjournalist war ich bei dieser »Austrian Coronation« dabei. Frack, Smoking, Abendkleid schienen eine Selbstverständlichkeit. Der Auftritt der politischen und kulturellen Prominenz des In- und Auslandes war ein gesellschaftliches Ereignis, gab den zahlreichen Zaungästen das Gefühl, nahe der »großen Welt« zu sein, und schürte maximale Erwartungen, die naturgemäß nicht eingelöst werden konnten. Denn die Spannung im Zuschauerraum und in den Nebenräumen der Oper, die wieder zugänglich gewordenen Kunstwerke an Wänden und in Nischen, die Pracht der Feststiege – all das imponierte mehr als eine insgesamt schöne Fidelio-Vorstellung. Warum mich ein anderer Fidelio zehn Jahre zuvor stärker beeindruckt hatte? Weil die »Festvorstellung zur Eröffnung des Hauses« im Theater an der Wien am 6. Oktober 1945, also fünf Monate nach Kriegsende, für uns ein Signal war, dass wir die Nazi-Zeit, die Vernichtung von Menschen, wirklich überstanden hatten. Es gab bei dieser Aufführung keine Abendkleider, eher russische Uniformen im Zuschauerraum, wir alle hatten Hunger und wussten, dass wir nachher durch eine Trümmerlandschaft würden heimgehen müssen. Aber wir erlebten das Fidelio-Finale so intensiv wie kaum jemals in späteren Jahrzehnten. Dieses Finale war für uns damals kein politisches, sondern ein menschliches Manifest, und ich denke, Beethoven wäre mit dieser Wirkung mehr als zufrieden gewesen. Er wurde ab diesem Oktobertag des Jahres 1945 in Wien endlich nicht mehr missbraucht. Wie etwa sieben Jahre zuvor. Am 9. Februar 1938 hatte die letzte Fidelio-Aufführung an der Staatsoper stattgefunden vor dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich. Auf dem Theaterzettel war korrekt vermerkt: Inszenierung, Regie und Spielleitung Lothar Wallerstein. Die nächste Aufführung von Beethovens Werk am 27. März 1938 war eine »Festvorstellung aus Anlass der Anwesenheit des Ministerpräsidenten Generalfeldmarschall Hermann Göring«, wie der Theaterzettel kundtat. Der Jude Wallerstein war auf diesem nicht mehr genannt, sondern als Spielleiter ein Herr Stefan Beinl. Fidelio frei zum Missbrauch für jede politische Ideologie. Diese mögliche Verfälschung seiner humanistischen Idee ist Beethoven nicht erspart geblieben. 91
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Johann Wolfgang von Goethe über Beethoven
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Impressum Ludwig van Beethoven FIDELIO Wiederaufnahme Spielzeit 2022/23 (Premiere der Produktion: 24. Mai 1970) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Oliver Láng, Andreas Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Miwa Meusburger Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Lektorat: Martina Paul Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Handlung (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 1991/2018; englische Übersetzung: Andrew Smith) – Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Axel Kober: Schlaglichter auf die Fidelio-Musik – Bernstein hat geweint: Gespräch mit Otto Schenk (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 2018) – Diana Kempff: Ein trügerisches Bild (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 1970) – Oliver Láng: Die Rettungsoper als Modellvorlage für den Fidelio (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 2018) – Robert Quitta: Leonora und Leonore (Übernahme aus dem Fidelio-Urfassung-Programmheft der Wiener Staatsoper 2020) – Walter Dobner: Beethovens erster Opern-Librettist (Übernahme aus dem Fidelio-Urfassung-Programmheft der Wiener Staatsoper 2020) – Robert Quitta: Beethovens 53 Opern (Übernahme aus dem Fidelio-Urfassung-Programmheft der Wiener Staatsoper 2020) – Johanna Doderer: Die Sprache jenseits des Wortes (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 2018) – Konrad Paul Liessmann: »Wer ein solches Weib errungen…« (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 2018) – Gustav Schörghofer: Extreme Existenzen (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 2018) – Klaus Adam: Mutmaßungen über Florestan (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 1970) – Andreas Láng: Pizarro ist kein Baron Scarpia (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 2018) – Oliver Láng: Keine Vergleichung – und unbegreiflich himmlisch (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 2018) – Alexandra Steiner-Strauss: Durch Nacht zum Licht (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 2018) – Oliver Láng: Fidelio und die Politik (Übernahme aus dem Fidelio-Urfassung-Programmheft der Wiener Staatsoper 2020) – Karl Löbl: Politik und Liebe (Übernahme aus dem Fidelio-Programmheft der Wiener Staatsoper 2018)
BILDNACHWEISE Coverbild: View of the sea through a porthole by Rizky Panuntun / Getty Images Szenenbilder Seite 2, 3, 15, 16, 32, 33, 56, 57, 65, 69, 72, 89: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Seite 44: akg-images Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
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