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Neuer Kreativort für die Tanzszene
Die drei von der „Tanz Station - Barmer Bahnhof“: Angela Köneke, Thusnelda Mercy und Pascal Merighi
Mit der „Tanz Station – Barmer Bahnhof“ bereichern Thusnelda Mercy, Pascal Merighi und Angela Köneke seit Kurzem die „Tanzstadt Wuppertal“ – mit internationaler Ausstrahlung
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Alles fing damit an, dass Thomas Leipoldt, kultursinniger Inhabers des Café Joliso im Barmer Bahnhofsgebäude und Schwager des Besitzers Kurt Rydl, eines Tages Thusnelda Mercy und Pascal Merighi an die Hand nahm und sagte: „Ich will euch mal was zeigen.“
Dass es an dieser Stelle überhaupt eine Tür gibt in der gekachelten Bahnhofshalle, ist vermutlich bisher kaum jemandem aufgefallen. Sie führt in ein Treppenhaus, das mit seiner bunten Glasbausteinwand und dem 70er-JahreGeländer einen gewissen Retrocharme hat. Und dann war da dieser Raum im ersten Stock, der seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden war und auch so aussah. Aber ganz klar: mit großem Charme. Zwölf Meter lang, siebeneinhalb Meter breit, fünf Meter Deckenhöhe, Holztäfelung. Schöne Proportionen. Mit wunderbaren bodentiefen Rundbogenfenstern, die zum Bahnhofsvorplatz hinausgehen. Ein Raum im Dornröschenschlaf. Thusnelda Mercy und Pascal Merighi, beide langjährige ehemalige Ensemblemitglieder des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, die 2018 ihre eigene Kompanie merighi | mercy gründeten, waren begeistert. Für sie stand sofort fest: „Hier muss Tanz rein.“
Zwei Jahre lang blieb es dann allerdings dabei. Zu aufwändig, zu kostspielig, um als freie Kulturschaffende einen solchen Raum herzurichten und zu betreiben. Fahrt nahm das Ganze erst auf, als die beiden im August 2020
Angela Köneke kennenlernten. Merighi und Mercy brachten eine Vision und das Wissen um einen wunderschönen Raum mit, Angela Köneke als erfahrene Projektentwicklerin im Kulturbereich das Handwerkszeug, die Ideen in die Realität zu überführen. Denn natürlich brauchte es außer dem vorhandenen Kreativpotenzial zunächst einmal vor allem eines: Geld. Mithin ein ausformuliertes, tragfähiges Konzept und das Erschließen entsprechender Fördermittel.
Und das mitten in der Pandemiezeit, in der an Tanzprojekte überhaupt nicht zu denken war? „Es ist ein bisschen verrückt, aber was uns mit der Tanzstation vorschwebte, passte gerade genau zu der Situation“, sagt Thusnelda Mercy. Alles, was im Zusammenhang mit Aufführungen stand, wurde logischerweise erstmal nicht mehr gefördert. „Aber wir wollten ja keinen Veranstaltungsraum im klassischen Sinne betreiben.“ Sondern?
„Es soll ein Raum sein für Entwicklung und Begegnung“, sagt Angela Köneke. „Das wollen wir ermöglichen. Und Formate bereitstellen, die das unterstützen.“ Mit dem Tanz im Zentrum, aber immer auch im Austausch mit anderen Künsten. „Sounddesign, Videodesign, Text, Schauspiel, Bühnenbild, Kostüm – einfach mit allem, was sich damit verknüpfen kann“, führt Thusnelda Mercy aus.
Mit ihrem Konzept konnten sie überzeugen. Das erste Jahr erhält die „Tanz Station – Barmer Bahnhof“ Fördermittel aus dem Programm „Tanzpakt Reconnect“, einem Hilfsprogramm für die deutsche Tanzszene im Rahmen des Rettungs- und Zukunftsprogramms „Neustart Kultur“ der Beauftragten der Bunderegierung für Kultur und Medien. Mit dieser Hilfe und dank der großzügigen Unterstützung der Eigentümerfamilie Rydl konnten sie den Raum wachküssen. Jetzt ist er nicht nur frisch renoviert und hat einen „1a Tanzboden“ (Mercy), sondern auch eine erstklassige technische Ausstattung mit Licht, Ton, Aufnahmetechnik, mit der sich digitale Formate ebenso umsetzen lassen wir analoge; mobil genug, um damit auch einmal nach draußen gehen zu können. Und, ganz wichtig: eine an den Tanzraum angrenzende Küche. Die dient nicht nur der leiblichen Versorgung, sondern hält an einem hohen Tisch auch zwei gegenüberliegende Arbeitsplätze vor. Raum für „Co-Creating“, wo gemeinsam an Projekten gearbeitet werden kann. Wenn man die verglaste Balkontür öffnet, steht man unversehens direkt über den Bahngleisen. Hier fällt es leicht, Ideen auszuspinnen und die Gedanken auf die Reise zu schicken.
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Thusnelda Mercy und Pascal Merighi in ihrem Tanzraum
„Wie können wir in dieser komischen Zeit trotzdem weitermachen, trotzdem Begegnung schaffen – das war unsere Grundmotivation von Anfang an“, sagen Thusnelda Mercy und Pascal Merighi, die in dieser „komischen Zeit“ auch noch Eltern geworden sind. Manches konnten sie digital bzw. als hybride Mischform umsetzen, was in Nach-Pandemiezeiten (auch) analog stattfinden soll: zum Beispiel die „Bahnhofsgespräche“, eine „salonartige“ Gesprächsrunde zu verschiedenen Themen. Zum Einstieg in die Reihe trafen Mercy und Merighi Kulturschaffende, die ebenfalls Kulturangebote in Bahnhofsgebäuden machen. Per Zoom findet jeden Montagvormittag Tanztraining von Profis für Profis statt; und es gibt Workshops zu verschiedenen Tanztechniken. In Zukunft soll es solche Angebote auch für Amateure geben.
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Der Raum für Co-Creating
Ein Herzstück des Programms sind die Residenzen. Bei dem Format „Residenz Plus“ können Künstlerinnen oder Künstler die Tanzstation drei Wochen lang zur Entwicklung eigener Projekte nutzen, verbunden mit einer Workshop-Präsentation am Ende. Der Wuppertaler Choreograf
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Blick aus dem Tanzraum durch den Raum für Co-Creating auf die Gleise Blick auf das Bahnhofsgelände
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und Tänzer Jan Möllmer, der einst über Pina Bauschs „Kontakthof mit Teenagern ab 14“ zum Tanz kam, war mit einem kleinen, internationalen Team der erste Resident. „Das war unglaublich schön, wie der Raum mit Leben gefüllt war und zu sehen, was hier entstanden ist,“ schwärmt Thusnelda. „Dafür machen wir das.“ Die Werkstattpräsentation musste coronabedingt dieses Mal noch ausfallen, für die kommende Residenz-Präsentation aber steht der neue „Insel“-Verein im Café Ada als Kooperationspartner bereit.
Das zweite Format „Tanz meets“ verbindet Residenten oder Residentinnen, die vom Tanz kommen, mit Künstlerinnen und Künstlern anderer Disziplinen. In der ersten Runde kamen so die argentinische Tänzerin Nicole Michalla und der spanische Sounddesigner Mikel R. Nieto über alle räumlichen Distanzen hinweg zusammen. Gerade abgeschlossen ist die zweite Residency, bei der Tänzer und Choreograf Frederico Mendes Teixeira, die Tänzer Jan Pollert und Viola Cantù und Designer Lukas Tobiassen sich damit befasst haben, wie visuelle Kommunikation einen tanzkompositorischen Prozess kreativ unterstützen kann.
Aber solche kreativen Prozesse innerhalb der eigenen „Community“ anzuzetteln und zu unterstützen reicht dem Kreativteam der Tanzstation nicht. „Wir wollen auch mit Ideen, die hier drinnen entwickelt werden, nach draußen in den Stadtraum gehen, an andere Orte, und uns mit lokalen Institutionen und Akteuren vernetzen“, betont Pascal Merighi. Weithin sichtbar wurden sie im Stadtraum jüngst mit den „Soli-Cuts“ in Kooperation mit dem Wuppertaler Verein Tanzrauschen e.V.: 16 Tänzerinnen und Tänzer haben auf ihre Einladung hin in der Tanzstation einminütige Tanz-Videoclips entwickelt. Sie wurden zu einer 20-minütigen digitalen Präsentation zusammengefasst und zunächst an zahlreichen Stellen gut sichtbar im Stadtgebiet, seit Anfang Juni dann in einem leerstehenden Ladenlokal am Barmer Werth 12 dauerprojiziert und führen Besuchern wie Einheimischen unübersehbar vor: Wuppertal ist eine Tanzstadt. Und die „Tanz Station - Barmer Bahnhof“ hat sich darin in kürzester Zeit als wichtiger Mitspieler etabliert.
Aber wie geht es weiter? Das Förderprogramm, das dies alles möglich gemacht hat, läuft Ende Oktober 2021 aus. „Das Ganze war von Anfang an nur für den Projektzeitraum von einem Jahr gesichert“, erklärt Angela Köneke und wirkt dabei überraschend entspannt. „Nach dem Antrag ist vor dem Antrag“, sagt sie heiter. Der Folgeantrag ist schon auf dem Weg. „Es gibt immer eine nächste Förderung, aber sicher ist sie nie“, ist ihre Erfahrung – mit dem Risiko müsse man leben, und ob man das wolle sei eine Persönlichkeitsfrage. Auch Thusnelda Mercy und Pascal Merighi sind zuversichtlich. „Wir haben ja beide in großen Institutionen gearbeitet und sind ganz bewusst in die freie Szene gewechselt“, erklärt Pascal. „Das war eine Entscheidung für die Unsicherheit, um eigene Ideen verwirklichen zu können.“ Aber dadurch, dass man nicht immer schon weiß, wie es weitergeht, schaffe man auch neue Möglichkeiten. „Es ist fantastisch, wie viel dabei in Bewegung gerät“, strahlt Thusnelda. Und mit Bewegung kennen sich die beiden ja nun wirklich aus.
Anne-Kathrin Reif Fotos: Willi Barczat
Der dritte Teil der Soli-Cuts heißt Soli-Cuts Urban und wird am 24. August 2021 in Wuppertal in verschiedenen Leerständen mit Tänzerinnen und Tänzern der freien Tanzszene stattfinden, sowie am 23. und 25. August in Remscheid.