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Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion? Lucia Puttrich MdL
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank offenbart das Ungleichgewicht zwischen Währungs- und Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union. In den Finanzhilfen der Coronakrise könnte die Chance für eine Veränderung liegen.
Selten hat eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so die Gemüter bewegt. In Deutschland, aber auch innerhalb der Europäischen Union (EU) gehen die Meinungen über das Urteil zu dem Anleihekaufprogramm Public Sector Purchasing Programme (PSPP) der Europäischen Zentralbank (EZB) weit auseinander. Viele Menschen blicken in der Krise zur EU, doch zur Lösung der Probleme fehlen ihr oftmals die Zuständigkeiten. Daran hat das Bundesverfassungsgericht erinnert. Die vielfach zu vernehmende Urteilsschelte ist deshalb fehl am Platz. Mehr noch: Sie ist schädlich, weil sie den Blick auf die eigentlichen Fragen versperrt. Brauchen wir einen mutigen Schritt nach vorn? Brauchen wir einen substanziellen Integrationsschritt, wie ihn einst Schuman, Kohl und Mitterrand in die Wege geleitet haben?
Lucia Puttrich MdL
Hessische Landesministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten
Zweifelsfrei stellt die Entscheidung einen Einschnitt in der Bewertung europäischen Handelns dar. Denn sie weist auf ein immer deutlicher zu Tage tretendes Manko der europäischen Verträge hin: das Ungleichgewicht zwischen Währungs- und Wirtschaftspolitik. Während die Mitgliedstaaten ganz wesentlich für die Wirtschaftspolitik zuständig sind, wurde die Währungspolitik mit der Einführung des Euro vollständig auf die europäische Ebene übertragen. Die Folge ist, dass wirtschaftliche Schieflagen bei einzelnen Euroländern immer auch alle anderen betreffen. Können oder wollen die Staaten die Missstände nicht beseitigen, fehlt es an einem Mechanismus der verpflichtenden Kurskorrektur? Das Motto, wenn wir unseren europäischen Partnern helfen, helfen wir uns selbst, stimmt natürlich. Doch was ist, wenn die Partner sich nicht helfen lassen wollen? Wir sitzen in einem Boot, doch es fehlt der gemeinsame Kurs?
Die Finanzkrise war ein deutliches Warnzeichen, dass dieses Ungleichgewicht ganz erhebliche Risiken, auch für den europäischen Zusam
menhalt, mit sich bringt. Die Lösung über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) gelang zwar, dem Kernproblem wurde aber nicht abgeholfen. Im Gegenteil. Das Vorgehen hat tiefe Narben hinterlassen und die Formel „Hilfe gegen Reformen“ derart unpopulär gemacht, dass der ESM trotz Coronakrise und selbst bei Verzicht auf reformerische Gegenleistungen kaum noch Zuspruch findet.
Die Währungspolitik ist deshalb einer der wenigen korrektiven Ansätze europäischen Handels, ein unscharfes Instrument, welches nur begrenzt eingesetzt und nur indirekt wirken kann. Dass mit dem PSPP auch wirtschaftliche Effekte beabsichtigt waren, wird sich schwerlich verleugnen lassen. Im EZB-Beschluss zum Programm selbst wird unter anderem das
Ziel einer „weiter[en] Lockerung der monetären und finanziellen Bedingungen – einschließlich der Finanzierungsbedingungen für die Wirtschaft und Privathaushalte“ formuliert. Ziel war es, dem Finanzsektor der Eurostaaten Liquidität durch den Ankauf von Staatsanleihen zur Verfügung zu stellen. Der Umfang des Programms ist mit über 2.000 Milliarden Euro derart umfangreich, dass die entfachte Nachfrage die Zinsen für Neuemissionen deutlich senkte. Sinkende Zinsen fanden sich auch in Geschäftsund Privatkundenkrediten wieder und erfüllten so die Zielstellungen des Programms. Das Problem: Marktwirtschaftliche Bewertungen, die sich letztlich in den erhöhten Zinssätzen ausdrücken, werden dadurch weniger berücksichtigt. Der Reformdruck
Foto: AdobeStock©EwaStudio
wird gesenkt, Sparer werden belastet und volkswirtschaftliche Risiken letztlich in die Haftung der EZB überführt. Neben diesen bedenklichen Effekten wurden auch Anreize für eine höhere Staatsverschuldung gesetzt. Seit der Einführung des PSPP ist festzustellen, dass überproportional hochverschuldete Euroländer profitieren. Bereits im Jahr 2018 wurden über das Programm rund 20 Prozent der Staatsverschuldung der Eurozone gehalten. Das ist mehr als die gesamte Staatsverschuldung Deutschlands.
Der Preis für die indirekten wirtschaftlichen Effekte ist also sehr hoch. Zu hoch, wie das Bundesverfassungsgericht befand, denn die Ermöglichung zinsgünstiger Kredite durch Investitions- oder Hausbanken gehört in den Bereich der Wirtschaftspolitik, die in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegt.
Ein unauflösliches Problem? Keinesfalls! Einen Hinweis hat das Bundesverfassungsgericht selbst gegeben. Die Geldwertstabilität muss das vorrangige Ziel des Handelns der EZB bleiben und auch bei laufenden Programmen muss dies regelmäßig überprüft werden. Darüber hinaus müssen die Höchstgerichte in Europa zu einem echten Kooperationsverhältnis finden. Einer Zusammenarbeit, bei der Abgrenzungsfragen nicht als Machtfragen verstanden werden und bei der man sich gegenseitig in den jeweiligen Rollen respektiert.
Kurzfristig wird die EZB einen gesichtswahrenden Weg finden müssen, ihr Handeln besser zu begründen. Mittelfristig muss die Politik die Rahmenbedingungen ändern, um solche kompetenzrechtlichen Zusammenstöße zu vermeiden. Ziel der Währungsunion war es immer, eine echte Währungs- und Wirtschaftsunion zu sein. Was wir im Bereich der Währungspolitik durch die Maastricht-Kriterien erreicht haben, fehlt uns im Bereich der Wirtschaftspolitik. Ein gemeinsamer Binnenmarkt bedeutet noch lange nicht ein gemeinsames wirtschaftspolitisches Vorgehen.
Die Karlsruher Entscheidung sollte deshalb Ausgangspunkt für eine Debatte sein, ob wir lieber im Krisenmodus beharren und notgedrungen Lösungen wie den europäischen Wiederaufbauplan unterstützen oder ob wir einen beherzten Schritt nach vorn gehen und die Idee eines eigenständigen und starken Europas weiter verwirklichen. Eines Europas, welches wirtschaftlich in der Lage ist, mit globalen Fragen, etwa mit Blick auf China, Russland oder den USA umzugehen und einer Wirtschaftspolitik, die ein Eingreifen der EZB zumindest unwahrscheinlicher macht. Der richtige Ort für eine solche Diskussion ist die Zukunftskonferenz der EU. Die finanzielle Mobilisierung, die wir derzeit erleben, kann eine Chance sein. Wann, wenn nicht mit Rückenwind dieser gigantischen Kraftanstrengung sind Reformen möglich? l