4 minute read
Von Corona überschattet Position des Präsidiums des Wirtschaftsrates
Von Corona überschattet
Die Europäische Union kann gestärkt aus der Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen hervorgehen, wenn sie sich auf die Stärken der Sozialen Marktwirtschaft besinnt und die Weichen auf Wachstum stellt.
Die Pandemie und ihre massiven wirtschaftlichen Folgen haben die ohnehin schon übervolle Agenda für die deutsche EU-Präsidentschaft auf den Kopf gestellt. Das wurde bei der außerordentlichen Sitzung des Präsidiums des Wirtschaftsrates überdeutlich, die ursprünglich in Brüssel stattfinden sollte. Die Gesprächspartner, der Ständige Vertreter der Bundesrepublik bei der
EU, Michael Claus, und der Kabinettschef der EU-Kommissionspräsidentin, Björn Seibert, diskutierten mit den Mitgliedern des Spitzengremiums des Wirtschaftsrates über das
Verhältnis Europas zu den USA und zu China sowie über die in der Gemeinschaft ungelösten, teils hochstreitigen
Themen Klimapolitik, Migration und Brexit. Dabei teilten beide deutschen Spitzenvertreter in der – vertraulichen – Sitzung viele politische Einschätzungen mit dem Wirtschaftsrat.
Wie vorbelastete Patienten stärker an Corona erkranken, sind auch EU-Länder mit Strukturproblemen weit tiefer in die Krise geschlittert. Das EU-Hilfsprogramm für diese besonders betroffenen Partner und notwendige Bedingungen für sie, wurden in der Präsidiumssitzung kritisch erörtert. Dies mündete in fünf zentrale Forderungen des
Wirtschaftsrates an die EU-Kommission und die deutsche
Ratspräsidentschaft zur Ausgestaltung der Hilfen:
1. Transparenz: Den von der Corona-Krise betroffenen Staaten muss geholfen werden. Für die Vermittlung der immensen Summen gegenüber den Bürgern Europas, aber insbesondere in den Geberländern, ist absolute Transparenz notwendig. Der Einsatz der Mittel muss auf die Bewältigung der Folgen der Pandemie konzentriert werden. Schon der bisher geplante Verteilschlüssel und der späte Mittelabfluss größtenteils nach 2022 legen nah, dass alte Probleme gelöst und die Zustimmung erkauft werden sollen. So gewinnt Europa kein Vertrauen.
2. Konditionalität: Es müssen verbindliche Bedingungen für die Mittelvergabe festgelegt und diese streng eingehalten werden. Eine Reihe von Staaten hat so erhebliche Strukturprobleme, dass Hilfen nur durch umgesetzte Reformen wirksam werden können. Deshalb sollten zuerst einmal keine Zuschüsse ausgezahlt, sondern Kredite ausgereicht werden. Wenn die Einhaltung der Reformzusagen kontrolliert wurde, können die Kredite in verlorene Zuschüsse umgewandelt werden.
3. Stagnation überwinden: Europa muss wieder auf den mit dem "Europäischen Semester" angedachten Weg zurückgeführt werden. Von den zwischen 2011 bis 2017 insgesamt 823 ausgesprochenen länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters haben die Mitgliedstaaten ganze elf Empfehlungen – also nur ein gutes Prozent – vollständig umgesetzt, in den letzten vier Jahren wurde zum Teil keine einzige Umsetzung mehr vorgenommen. Was anfangs gut gedacht war, ist zu einem Armutszeugnis verkommen.
4. Zukunftsprojekte: Überzeugende gemeinsame Innovationsfelder für die Zukunft sind der Schlüssel für die Akzeptanz des Wachstumsprogrammes. Diese Zukunftsfelder müssen definiert und mit konkreten Projekten unterfüttert werden: Wasserstofftechnologie, Digitalisierung, Gesundheit – hier etwa Pharma-Kompetenz, Krebsforschung, Seuchenbekämpfung – grenzübergreifende Infrastrukturen sowie der Bereich Luft- und Raumfahrt.
Digitalisierung
Die Corona-Pandemie kann als Beschleuniger für Digitalisierungsprojekte fungieren. Sie hat die Notwendigkeit digitaler Projekte offenbart. Nun muss es heißen, gemeinsame Standards zu schaffen und dabei zusätzliche Regulierungen zu vermeiden. Insbesondere die teils kritische Haltung gegenüber Schlüsseltechnologien wie etwa Künstlicher Intelligenz, gefährdet die Innovationsmöglichkeiten europäischer Unternehmen. Statt der Risiken neuer Technologien sollten die Chancen hervorgehoben werden.
Finanzmarkt- und Währungspolitik
Europäische Weltmarktführer brauchen eine wettbewerbsfähige Finanzinfrastruktur. Daher muss der „digitale Euro“ als Ergänzung zum bisherigen Geldsystem vorangetrieben und Transaktionskosten eingespart werden. Aufgrund massiver Konkurrenz aus den USA und
China besteht hier dringender Handlungsbedarf.
Gesundheitspolitik
Besonders in Krisenzeiten zeigt sich, dass im
Gesundheitsbereich eine stärkere Zusammenarbeit in der EU von enormer Bedeutung ist. Lieferengpässe bei
Arzneimitteln, die Sicherstellung von Lieferketten sowie die Vermeidung von Abhängigkeiten bei der Wirkstoffherstellung müssen grundsätzlich vermieden werden.
Energiepolitik
Bei der Stärkung innovativer Schlüsselbereiche sollte der Weichenstellung für eine europäische digitale
Echtzeit-Energiewirtschaft einer konsequente Marktintegration hohe Priorität zukommen. Zudem brauchen
5. Generationengerechte Tilgung: Mit der beabsichtigten Tilgung erst nach 2028 für den Wiederaufbaufonds ver schiebt die Mehrheit der politisch Verantwortlichen den Start hinter ihre eigenen Amtszeiten. Auch die dreißig jährige Laufzeit von 2028 bis 2058 ist eine ungeheuerliche Lastenverschiebung auf unsere Kinder und Enkel. Eine glaubwürdige Tilgung muss stattdessen schon am 1.1.2024 vor der nächsten Europawahl beginnen und nach zwanzig
Foto: AdobeStock©Aintschie
Wachstumsfelder für Europa
Der Wirtschaftsrat hat diese Themen als entscheidend für neues Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union identifiziert:
Jahren 2044 beendet sein. wir einen Marktrahmen für die wirtschaftliche Produktion und Abnahme klimaneutraler Gase in Europa.
Binnenmarkt
Die internationale Handelsordnung ist durch die Corona-Krise massiven Umstrukturierungen und einer grundlegenden Neuordnung unterworfen. Es gilt nun nachhaltig die Lieferkettensicherheit für Unternehmen aus Deutschland zu stärken, in strategischen Bereichen auch parallel Kapazitäten in Europa aufzubauen, größere Wettbewerbsgleichheit zwischen unterschiedlichen Wirtschaftssystemen zu verankern und die Globalisierung als Katalysator für die Überwindung der Krise zu nutzen. Höchste Priorität sollte angesichts der drohenden Rezession auch dem bevorstehenden Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und das mit ihm geplante Handelsabkommen eingeräumt werden. Die Einführung eines Lieferkettengesetzes und seine Priorisierung in der deutschen Ratspräsidentschaft lehnt der Wirtschaftsrat strikt ab.
Sicherheitspolitik
Die außen- und sicherheitspolitischen Vorhaben der deutschen Ratspräsidentschaft sind sehr ambitioniert. Ein stärkeres weltweites Engagement der EU ist sicherheitspolitisch unumgänglich. Allerdings droht aktuell eine Überlastung der Kapazitäten der europäischen Armeen. Zudem stehen viele strittige Themen im Programmentwurf, wie etwa eine Weiterentwicklung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Bisher gilt das Einstimmigkeitsprinzip. Daher sollte eine stärkere Akzentuierung auf die Entwicklung der PESCO, der ständig strukturierte Zusammenarbeit, mit mehr Flexibilität der Mitgliedsstaaten durch Mehrheits- bzw. Freiwilligenprinzip erfolgen. l