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Der Sozialismus lebt Ralf Schuler

Der Sozialismus

lebt Dreißig Jahre Deutsche Einheit sollten uns daran erinnern, einmal wieder über die Gründe des Scheiterns der DDR nachzudenken. Denn nicht die Nutzbarmachung von Ökonomie für politische Ziele ist das Problem, sondern die Verkennung der Hierarchie zwischen beidem.

Es traf sich, dass ich nach jahrelangen politischen Querelen, die einer Zulassung zum Studium im Wege standen, ausgerechnet im Herbst 1989 an der

Ost-Berliner Humboldt-Uni ein Fernstudium – Literatur- und Kulturwissenschaften – beginnen konnte. Zum

Fächer-Kanon gehörte in der DDR zwingend das Fach „Politische Ökonomie“, welches das Kernproblem des realen Staatssozialismus bereits im

Namen trägt: Die Indienstnahme der

Ökonomie für politische Ziele.

Je mehr nüchterne Bilanzen der

DDR-Wirtschaft damals bekannt wurden, desto heftiger waren die Reaktionen unserer „PolÖk-Profs“, bis hin zu Weinkrämpfen und sichtlicher

Verzweiflung, weil mit der ökonomischen Basis auch die sozialistische

Utopie, an die viele geglaubt hatten, in sich zusammenbrach. Wie sich später zeigen sollte, war die wirtschaftliche

Ralf Schuler

Leiter der Parlamentsredaktion Bild-Zeitung Kompetenz in der SED-Spitze freilich so gering ausgebildet, dass man sich selbst beim desaströsen Bilanzbericht von Planungschef Gerhard Schürer (†2010) um die Hälfte zu Ungunsten der DDR bei den Valuta-Schulden verrechnet hatte.

Auch wenn die Dramatik jener Tage im Laufe von 30 Jahren Deutscher Einheit ein wenig verflogen ist, lohnt doch auch heute immer wieder ein Blick auf das Scheitern von damals. Denn nicht die Nutzbarmachung von Ökonomie für politische Ziele per se ist das Problem, sondern die Verkennung der Hierarchie zwischen beidem. Das von der SED immer wieder machtvoll beanspruchte „Primat der Politik“ kann immer nur für die Regeln des Wirtschaftens gelten, nicht für die Verfügbarkeit von Ressourcen oder gar den Ertrag. Die Binsenweisheit, dass nur verteilt werden kann, was zuvor erwirtschaftet wurde, muss leider auch heute immer und immer wiederholt werden, obwohl sie nicht zuletzt durch das Scheitern des Realsozialismus dramatisch unter Beweis gestellt wurde.

Man sollte deshalb „Sozialismus“ weniger als einen Kampfbegriff verstehen, sondern vielmehr als eine geistig-

„Das notorische Ignorieren der wirtschaftlichen Grundrechenarten mit Blick auf den Publikumsgeschmack wird sich verheerend auswirken.“

politische Rutschbahn hin zu einem Weltbild, in dem das Wünschbare über dem Möglichen steht. In diesem Sinne muss man leider sagen: Der Sozialismus lebt. Und genau an diesem Punkt beginnt bei mir, der ich den Zusammenbruch des letzten Versuchs miterlebt habe, ein mulmiges Unbehagen beim Blick in die Landschaft der deutschen und europäischen Politik zu wachsen.

Die Corona-Krise hat auf unheilvolle Weise die Liste der politischen Wunsch-vor-Wirklichkeit-Projekte verlängert: Da ist nicht nur die langfristige Zahlung von Kurzarbeitergeld, die zwar sozial nachvollziehbar und emotional begründbar ist, aber im Grunde Sozialismus aus dem Lehrbuch entspricht: volle Bezahlung für einen Bruchteil der eigentlichen Wertschöpfung. Kreditfinanzierte Milliarden-Hilfen in Deutschland und der Europäischen Union (EU) lindern den aktuellen Schock, werden aber absehbar nicht zu Investitionsrenditen führen, die ihre künftige Tilgung ohne Einschnitte ermöglicht.

Bislang fehlt auch jeder Hinweis darauf, warum die über Gemeinschaftsschulden finanzierten Milliarden-Zuweisungen der EU an überschuldete Länder diesmal zu einem Investitionsschub führen sollten, der das wirtschaftliche Gefälle innerhalb der Gemeinschaft zumindest mildert, wenn die bisherigen Hilfsprogramme – mit entsprechenden Reformauflagen – dies schon nicht vermochten. Ein Blick auf die Target-Salden weckt eher gegenteilige, ungute Vorahnungen einer weiteren Kapitalflucht von Süd- nach Nordeuropa.

Der Ausstieg aus Kernenergie und Kohle oder Verkehrs- und Agrarwende sind ebenfalls Projekte, bei denen die Zukunft per Beschluss „geplant“ wird, anstatt auf evolutionären Wandel zu setzen, wie es die Schlussfolgerungen aus dem Untergang des Staatssozialismus eigentlich nahelegen. Ein geradezu utopisches Lieferkettengesetz, dass deutschen Unternehmen gewissermaßen eine Weltzuständigkeit und Weltverantwortung zuweist, ist in meinen Augen ebenso alarmierend irreal, wie

das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Grundrechteschutz des deutschen Grundgesetzes auf die ganze Welt ausweitet und damit dem Bundesnachrichtendienst weltweit Augen und Ohren verschließt. Um auch ein Beispiel aus dem nicht-ökonomischen Bereich zu nennen. „Mit Ordnungspolitik gewinnt man keine Wahlen“, hat Angela Merkel hinter verschlossenen Fraktionstüren einmal gesagt, als es um die Frage ging, ob Managergehälter per Gesetz oder in Selbstorganisation der Unternehmen reglementiert werden sollen. Da ist zweifellos etwas dran. Das notorische Ignorieren der wirtschaftlichen Grundrechenarten mit Blick auf den Publikumsgeschmack wird sich allerdings früher oder später ebenfalls verheerend auswirken. Womit sich der Kreis zum 30. Jubiläum der Deutschen Einheit schließt. Verantwortungsvolle Politik besteht gerade darin, keine Schattenökonomie aufzubauen und jeden Verstoß gegen ordnungspolitische Prinzipien, auch als ausnahmsweisen Regelverstoß

Foto: Jens Schicke

zu registrieren und nicht in Serie zu wiederholen. Verantwortliche Politik traut sich zu, Mehrheiten vom Richtigen und Möglichen zu überzeugen, statt nur Wahlgeschenke zu überbringen.

Und verantwortliche Politik spart heikle Themen, wie etwa den Anteil von Migration an den Kosten unseres Sozialsystems nicht aus. Fakt ist, dass die Fachkräfte-Lücke der deutschen Wirtschaft seit dem Migrationsherbst 2015 weiter gewachsen und nicht etwa kleiner geworden ist. Migration in Sozialsysteme aber drückt nicht nur auf den Haushalt, sondern gefährdet auch Integration und sozialen Zusammenhalt – gerade in Krisen-Zeiten.

Das Jubiläum der Einheit sollte nachdrücklich daran erinnern, dass man der ökonomischen Realität weder mit gedrucktem Geld noch mit Beschlüssen, Beschwörungen oder guten Intentionen entkommt. Auch gut gemeinte Luftbuchungen müssen irgendwann in der Realwirtschaft beglichen werden. l

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