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QUARTIER-MIX
BÜCHER AUS DEM BREITSCH
Fiebrige Grüsse aus der Küche Der kommende 16. März 2021 steht für zwei einschneidende Ereignisse: 50 Jahre zuvor wurde das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene formell eingeführt. Am selben Datum verhängte die Landesregierung letztes Jahr den CoronaLockdown. Heidi Kronenberg und Samuel Geiser veröffentlichen je ein Buch zu beiden Ereignissen. Martin Jost
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ieber ist ein Zustand erhöhter Körpertemperatur, Fieber steht ebenfalls für einen Zustand starker seelischer Erregung. «Fieber» heisst auch das Buch von Samuel Geiser. Ein persönlicher Blick auf die Ereignisse rund um die Pandemie als Tagebuch, mit dem ersten Eintrag am 16. März 2020. Heidi Kronenberg, die Partnerin von Samuel Geiser, grüsst zum Jubiläum des Frauenstimmrechts aus der Küche. Zusammen mit Rita Jost als Mitherausgeberin veröffentlichte sie den Band «Gruss aus der Küche». Es ist keine gutbürgerliche Küche im herkömmlichen Sinn, welche die beiden auftischen, dafür eine mit reicher Auswahl. Dreissig Autorinnen zwischen 28 und 80 erforschen und beschreiben ihr alltägliches Leben als Frausein im Zusammenhang mit der Einführung der politischen Gleichberechtigung. Mit dem Ergebnis einer ungebändigten Mischung aus Texten. Texte, die gemäss den Kapiteltiteln beispielsweise zum Anstossen anregen. Oder es wird gegart und nachgereift, einkassiert wird ebenfalls. Ist es Zufall, dass zwei Bücher von dem Paar aus dem Breitenrain praktisch zeitgleich erscheinen? «Das Buch von Rita Jost und mir war von langer Hand geplant und wir arbeiteten zwei Jahre daran», sagt Heidi Kronenberg, «aber Corona war nicht geplant.» Gegenseitige Unterstützung Der Zufall, dass beide Ereignisse auf das gleiche Datum fallen, sei allerdings schon verlockend gewesen, bestätigen die beiden, die seit langem journalistisch tätig sind und bereits mehrere Bücher verfassten. Es seien immer viele Ideen vorhanden und sie würden sich natürlich gegenseitig unterstützen. Eine dieser Ideen war diejenige von Samuel
Heidi Kronenberg ist Mitherausgeberin vom Buch «Gruss aus der Küche» mit Texten zum Frauenstimmrecht.
Zwei Bücher zu zwei einschneidenden Ereignissen: Heidi Kronenberg und Samuel Geiser. Bilder: Martin Jost
Geiser, ab Beginn des Lockdowns ein Tagebuch zu führen. Und zwar konsequent, kein Tag ohne Eintrag bis am 20. Juni. Mit «Fieber» ist ein Journal mit Fotos von Alexander Egger entstanden über die Zeiten der Pandemie und deren lokale und globale Auswirkungen. Aus der persönlichen, dezidiert linken Sicht des Autors. Es menschelt stark in dem Tagebuch. So, wie ein Mensch in einem Zeitraum von rund drei Monaten verschiedene Phasen durchlebt, so liest sich auch das Tagebuch: mal witzig und selbstironisch, mal trotzig, stachelig oder aufsässig. Vor allem jedoch hinterfragend. «Das war ein historischer Einbruch», blickt Samuel Geiser auf die Anfänge zurück, «niemand hat so etwas je erlebt. Zu Beginn der Einträge dachte ich, die Pandemie sei spätestens bis August vorüber.» Trotzdem erschienen ihm die vorgegebenen Massnahmen so markant, dass der Ausdruck eines historischen Ereignisses berechtigt war. Und damit auch die Niederschrift eines Tagebuchs. Die Lupe auf die Gesellschaft Die Botschaften, die hängen blieben, seien eindeutig gewesen: «Grenzen zu. Schulen zu. Geschäfte zu. Armee mobilisiert.» Viele Fragen, die zwar schon lange bekannt waren, seien plötzlich in einem neuen Licht aufgetaucht, eine Lupe sei auf die Gesellschaft gehalten worden. «Nicht nur aus einer linken Perspektive», sagt Samuel Geiser und ergänzt: «Auch in wirtschaftsliberalen Kreisen fragt man sich, ob wir so weiterfahren sollen, ob wir in fünf Jahren eine neue Pandemie mit dem alten System bewältigen können.» Es sei ein Lernprozess für die gesamte Gesellschaft und verlange nach grundlegenden Veränderungen. Damit spricht er etwas an, das möglich erscheint. Denn
die Menschheit kann Veränderung. Schliesslich hat es auch in den Küchen sehr lange Zeit gebrodelt und gegart, manchmal musste auch abgeschreckt werden. Ist heute alles so aufgetischt, um auf das Erreichte anzustossen? «Wir sind in der Phase des Nachreifens», antwortet Heidi Kronenberg, «auch wenn die Frauen heute deutlich präsenter sind und viel bewusster auftreten: Es gibt immer noch Baustellen, beispielsweise die Verdienstmöglichkeiten oder der Einbezug von Frauen in Kaderpositionen. Da gibt es noch einiges zum Einkassieren. Ich gebe jedoch nicht der Bewegung die Schuld, dass noch nicht alles erreicht ist.» Veränderung für Verbesserung Es könne Generationen dauern, sagt Heidi Kronenberg, bis sich ein emanzipatorisches Anliegen durchsetzt, und ergänzt diese Aussage mit ihrer eigenen Erfahrung: «Mit 18 lebte ich vorübergehend im Tessin in einem Haushalt mit vier Kindern. Ich war Hausfrau. Und weit weg von der Politik.» Im Kontrast zum fehlenden Bewusstsein nahm sie allerdings wahr, dass die bestimmenden Personen in den Familien Frauen waren. Das Frauenstimmrecht war bereits seit einigen Jahren eingeführt, als
Mit «Fieber» verfasste Samuel Geiser ein Journal in Zeiten von Corona.
Bern, 13. Januar 2021 sich bei Heidi Kronenberg die Sensibilität zum Feminismus entwickelte. Sie erinnert sich an die erste feministische Aussage, die sie bewusst wahrnahm. «Eine Lehrerin in England war es, die auf die Frage, ob ihr Mann im Haushalt mitarbeite, antwortete: Nein, er hilft nicht mit; er macht die Hälfte.» Allein zum Erreichen der Hälfte von Verbesserungen braucht es die Veränderung als ersten Schritt. Veränderungen drängen sich auf, davon ist Samuel Geiser überzeugt. Im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Pandemie tauchen für ihn alte Fragen in einer anderen Wahrnehmung auf. Fragen zur Internationalisierung, zum Umgang mit der Natur und zur Wirtschaft. Und vor allem die Frage, ob das bestehende System den Erwartungen der Menschen gerecht werden kann. Ob Pandemie oder Gleichstellung der Frau, die wichtigste Parallele der beiden Bücher aus dem Breitsch ist offensichtlich: Letztendlich ist sehr vieles eine Frage der Gerechtigkeit.
INFO
Heidi Kronenberg/Rita Jost (Hg) Gruss aus der Küche Texte zum Frauenstimmrecht Illustrationen: Nora Ryser Rotpunktverlag www.rotpunktverlag.ch > Kronenberg
Samuel Geiser Fieber Ein Journal in Zeiten von Corona Fotos: Alexander Egger Stämpfli Verlag AG www.staempfliverlag.com > Samuel Geiser