Amnesty Journal Juli/August 2022

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RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG VERBRECHEN AN FRAUEN

Kontinuum des Leids In der Ukraine häufen sich Berichte über Vergewaltigungen durch russische Armeeangehörige. Sexualisierte Gewalt ist inzwischen als Kriegsverbrechen anerkannt – wenn sie bewiesen werden kann. Von Cornelia Wegerhoff

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arta Havryshko sucht nicht lange nach Worten. »Ich denke, der Begriff, mit dem sich die Situation am ehesten beschreiben lässt, ist ›Horror‹.« Die Ukrainerin ist promovierte Historikerin. Seit Jahren erforscht sie sexualisierte Gewalt in Kriegen und Genoziden weltweit, insbesondere während des Holocaust in der Ukraine. Die grauenvollen Situationen, die damalige Zeitzeug*innen beschrieben haben, wiederholten sich jetzt, sagt die 37-Jährige erschüttert. »Es sind die gleichen Muster.« Wegen des russischen Angriffskrieges gegen ihr Land sei der »Horror« nun Teil der Gegenwart. Havryshko lehrte und forschte an der ukrainischen Nationalakademie der Wissenschaften. Anfang März floh sie mit ihrem neunjährigen Kind aus Lwiw in die Schweiz und arbeitet inzwischen an der Universität Basel. Vor Kurzem hat sie geflüchtete Frauen aus Mariupol getroffen. Diese hätten während der Belagerung der ukrainischen Hafenstadt nachts keine Sekunde geschlafen. Zu groß war die Panik, dass russische Soldaten die Dunkelheit nutzten, um ihre Töchter zu kidnappen oder sie selbst vor den Augen der Familie zu vergewaltigen. Ihre Nöte waren berechtigt, sagt die Historikerin. Berichte von Ukrainerinnen, die genau jene Gräueltaten beschreiben, häufen sich. Und auch die entblößten Leichen ermordeter Frauen in Butscha und andernorts bewiesen, »dass die russische Armee sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe« einsetze, klagt Havryshko an. Am 11. April erhob Kateryna Cherepakha, die Vorsitzende der Hilfsorganisa-

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tion La Strada Ukraine, vor dem UNO-Sicherheitsrat in New York den gleichen Vorwurf. Per Video zugeschaltet berichtete sie über Anrufe, die bei der Hotline von La Strada eingehen: »Allein heute – neun Fälle von Vergewaltigungen durch russische Soldaten in den vorübergehend besetzten Städten und Dörfern.« Cherepakha nannte die Orte, sprach von Traumatisierung und davon, dass diese Fälle nur »die Spitze des Eisbergs« seien. Denn die, die es geschafft hätten, an sichere Orte zu gelangen, könnten über das Erlebte meist nicht sprechen. »Sie brauchen zuerst Unterstützung, Therapie, Heilung«, sagte die ukrainische Aktivistin. Viele Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt kämen so nur schwer oder womöglich nie ans Tageslicht. »Das Thema ist extrem stigmatisiert«, bestätigt Monika Hauser, Gynäkologin und Gründerin von Medica Mondiale. Die deutsche Frauenrechtsorganisation setzt sich für ein Ende sexualisierter Gewalt ein und unterstützt weltweit Partnerorganisationen, die kriegstraumatisierten Frauen psychosoziale Hilfe anbieten. »In patriarchalen Gesellschaften wird den Frauen die Schuld zugeschoben. Man wirft ihnen vor, sie selbst hätten die ›Ehre‹ – in Anführungsstrichen, weil das patriarchales Denken ist – verletzt, und nicht etwa der Täter«, erklärt Hauser. Erst wenn diese Denkweise »aufgebrochen« werde, könne darüber gesprochen werden, dass Frauen schwerste Menschenrechtsverletzungen erlebt hätten, und dass sowohl die Familien als auch die gesamte Gesellschaft darum bemüht sein müssten, die Frauen wieder in ihre Mitte zu nehmen und nicht auszugrenzen. Hauser selbst hörte schon in jungen Jahren von ihrer Südtiroler Großmutter von sexualisierter Gewalt. Auch während

ihrer gynäkologischen Ausbildung sei das Thema in allen Kliniken präsent gewesen. Als sie 1992 von den Massenvergewaltigungen in den Balkan-Kriegen erfuhr, hätten die Medien das Thema zwar in reißerischen Schlagzeilen aufgegriffen, aber von Hilfe für die traumatisierten Frauen sei nirgends die Rede gewesen. Also reiste Hauser kurzerhand selbst ins Kriegsgebiet. Zusammen mit 20 bosnischen Fachfrauen baute die Ärztin das erste Frauentherapiezentrum in Zenica auf. »Der Mut der bosnischen Frauen hat viel zutage gebracht«, sagt sie heute. Der Internationale Strafgerichtshof bestätigte nach dem Bosnien-Krieg in wegweisenden Urteilen, dass hinter den Vergewaltigungen muslimischer Frauen das Ziel steckte, die bosnische Bevölkerung als Ethnie zu eliminieren. Es kam zu mehr als hundert Verurteilungen, allerdings blieb die Mehrheit der Täter straffrei. Sie zur Rechenschaft zu ziehen, sei schwer, bedauert Hauser. Und viele der betroffenen Frauen hätten sich dadurch, dass die Medien ihre Gesichter zeigten und ihre Namen nannten, erneut missbraucht gefühlt und sich traumatisiert zurückgezogen.

Überlebende brauchen Unterstützung Mit Blick auf die Lage in der Ukraine fordert Medica Mondiale, dass dortige Frauenrechtsorganisationen und Frauenrechtsaktivistinnen dringend unterstützt werden. Überlebende sexualisierter Gewalt im Krieg benötigten langfristige, ganzheitliche und sensible Unterstützung. Aus den Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre weiß Hauser, dass das staatliche Gesundheitspersonal und Mitarbeiter*innen von Beratungsstellen geschult werden müssen, um diese spezielle Gruppe traumasensibel unterstützen zu können. Sie kritisiert, dass auch über sexuali-


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