RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG BINNENFLÜCHTLINGE
Fern von Bomben und Raketen Die Stadt und die Region Czernowitz im Südwesten der Ukraine spielen eine wichtige Rolle bei der Aufnahme von Binnenflüchtlingen. Auch ein orthodoxes Kloster bietet Obdach. Von Keno Verseck (Text und Fotos)
S
ie kannte den Krieg schon. Vor acht Jahren gingen Granaten und Raketen auf ihre Heimatstadt Kramatorsk nieder. Monatelang wurde immer wieder gekämpft. Doch sie blieb. Auch diesmal wollte Tatjana Marinitsch nicht weg. Einen Monat lang hielt sie den Beschuss aus. Dann fielen Phosphorbomben auf die Stadt. Es war der Augenblick, als sie sich zur Flucht entschloss. Kurz darauf bestieg sie mit ihren Kindern einen Evakuierungszug. So erzählt die 46-Jährige die Geschichte ihrer Flucht aus Kramatorsk im Osten der Ukraine. Tatjana Marinitsch leitete dort ein Textilgeschäft. Nun sitzt sie mehr als tausend Kilometer weiter westlich in einem Gebäude, das zu einem orthodoxen Kloster gehört. »Ich weiß nicht, wie
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es weitergehen soll«, sagt sie leise. Sie hat eine sanfte Stimme, weiche Gesichtszüge und traurige hellblaue Augen. Immer wieder versucht sie zu lächeln, aber es gelingt ihr nicht. Das orthodoxe Mönchskloster Banceni liegt im Südwesten der Ukraine. Es ist ein weiträumiger Komplex mit einer großen Kirche, Wohnanlagen, einem Kinderheim, Wirtschaftsgebäuden und einer Bäckerei inmitten von Hügeln. Das Gebäude, in dem Tatjana Marinitsch wohnt, beherbergt normalerweise Pilger*innen und Urlauber*innen. Doch jetzt leben hier Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten der Ukraine. Rund 600 sind es, vor allem Frauen und Kinder. Die orthodoxen Kirchen haben keine ausgeprägte karitative Tradition, viel hängt von Initiativen einzelner Priester
ab. In Banceni war es der Gründer des Klosters, Bischof Mihail Jar Longhin, der nach Beginn des russischen Angriffs beschloss, Flüchtlinge und Waisenkinder aus anderen Landesteilen aufzunehmen. Der 56-jährige Geistliche, der als Kind in einem Heim aufwuchs, ist in der Ukraine seit Langem für seine Kinderhilfsprojekte bekannt. Bisher fanden mehr als 12.000 Flüchtlinge zumindest zeitweilig Obdach im Kloster. Tatjana Marinitsch und ihre Söhne Ilja, 12, und Tihon, 8, kamen Anfang April nach Banceni. Wenige Tage später wurde der Bahnhof von Kramatorsk, wo sie in den Zug gestiegen waren, von russischen Raketen beschossen. Dabei starben 57 Menschen, unter ihnen fünf Kinder. Marinitsch schüttelt fassungslos den Kopf, wenn sie daran denkt. »Ich habe keine Erklärung für diesen Angriff, ich verstehe diesen ganzen Krieg gegen die Ukraine nicht«, sagt sie. »Die Notwendigkeit einer Entnazifizierung ist erfunden. Niemand ist diskriminiert worden«, sagt sie. »Wir haben alle zusammen ein friedliches Leben gelebt.« Ihr Textilgeschäft ist geschlossen. Die Wohnung, in der sie lebte, steht noch. Sie ruft jeden Tag einige ältere Nachbarn an, die nicht weggehen wollen, und erkundigt sich, ob das Haus noch steht. Ab und zu hat sie Kontakt zu ihrem geschiedenen Mann, der ebenfalls in Kramatorsk geblieben ist. In Banceni wohnt sie in einem schmucklosen Raum von 25 Quadratmetern, zusammen mit einer Frau aus Mykolajiw und deren beiden Kindern. Ein Priester im Altarraum der Klosterkirche in Banceni, April 2022.