Amnesty Journal Juli/August 2022

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RASSISMUS

»Viele verleugnen ihre Herkunft« Antiziganismus ist in Deutschland weit verbreitet. Rassistische Stereotype gegen Sinti*zze und Rom*nja bestehen fort, sagt Mehmet Daimagüler. Der Menschenrechtsanwalt ist seit Mai der erste Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung. Hier erzählt er, was er auf diesem Posten vorhat. Interview: Hannah El-Hitami

Was sind die Besonderheiten des Antiziganismus im Vergleich zu anderen Formen des Rassismus? Wir haben beim Antiziganismus das Problem, dass das eine Form des gesellschaftlich akzeptierten Rassismus ist und deswegen bestritten wird, dass es überhaupt Rassismus ist. Aber eine Mehrheit kann die Mitte des Landes abbilden und trotzdem extremistisch sein. Für andere Formen des Rassismus gibt es inzwischen eine bestimmte öffentliche Aufmerksamkeit. Bestimmte krass antisemitische Bilder und Worte zum Beispiel können heute immerhin in der demokratischen Mitte nicht mehr einfach so verwendet werden. Das ist beim Antiziganismus anders. Die Pflege und die Konservierung des Bildes vom Kriminellen, der der Gesellschaft schadet, ist nach wie vor eine große Gefahr. Woher kommt dieses Bild? Das hat mit einer Ursünde unserer Gesellschaftsordnung nach dem Krieg zu tun. Deutschland hat einen Völkermord an den Sinti und Roma begangen, in dem eine halbe Million Menschen ums Leben gekommen sind. Nach dem Krieg haben die Täter es geschafft, das Narrativ zu bestimmen und eine Täter-Opfer-Umkehr vorzunehmen. Sie behaupteten, dass Sinti

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und Roma nicht aus rassistischen, sondern aus kriminalpräventiven Gründen in die Lager gekommen seien und sogar, dass Sinti und Roma in Auschwitz an der eigenen mangelnden Hygiene gestorben seien. Das negative Bild von Sinti und Roma musste gezeichnet und aufrechterhalten werden, damit man sich selbst als unschuldig verkaufen konnte. Die Gaskammern wurden also stillgelegt, aber die Verfolgung ging weiter. Die Ethnifizierung sozialer Probleme ist ein Mittel der politischen Propaganda, das auch heute noch existiert. Dieses Bild vom kriminellen Sinto oder Rom begegnet uns im Diskurs um vermeintliche Einbrecherbanden aus Osteuropa. In welchen Situationen werden Sinti*zze und Rom*nja heute vor allem diskriminiert? Staatsapparat, Polizei und Justiz sind Schwerpunkte. Ich habe als Anwalt in den vergangenen Jahren immer wieder Menschen aus der Community der Sinti und Roma vertreten: häufig Menschen, die Opfer von Hasskriminalität wurden, oft auch von Polizeigewalt. Ein anderes großes Thema sind Sozialbehörden. Man schafft dort künstliche Barrieren, um den Menschen Zugang zu Dienstleistungen zu verwehren, die allen zustehen. Wir haben im Schulbereich eine massive Benachteiligung von Migranten: Kinder werden einfach so als nicht lernfähig klassifiziert und auf Förderschulen abgeschoben. Davon sind Sinti und Roma besonders be-

troffen. Der ganze Bereich der öffentlichen Hand ist extrem rassismusanfällig. Das setzt sich in der Privatwirtschaft fort. Ich hatte als Anwalt einen Mandanten, der Betriebsrat in einer großen Firma war und dort als Sinto »geoutet« wurde. Daraufhin wurde er massiv von Kolleginnen und Kollegen gemobbt, und das wurde von der Geschäftsleitung nicht nur gedeckt, sondern auch gefördert. Sie sagen, er wurde als Sinto »geoutet«. Das heißt, viele Sinti*zze und Rom*nja wollen lieber nicht, dass jemand von ihrer Herkunft weiß? Sehr viele verleugnen oder verheimlichen öffentlich ihre Herkunft, aus der gut begründeten Furcht vor rassistischen Stereotypen. Ich stelle mir das furchtbar vor, wenn man etwa seinen Kindern erklären muss, dass sie in der Schule nicht verraten sollen, dass man zu Hause eine andere Sprache spricht oder andere Feste feiert. Die Verleugnung eines wichtigen Teils des eigenen Seins führt zu psychischem Dauerstress. Viele Kinder wachsen mit einem angegriffenen und schwankenden Selbstwertgefühl auf. Als einzige positive Entwicklung sehe ich, dass viele

»Viele Kinder wachsen mit einem angegriffenen Selbstwertgefühl auf.«


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