ANTIZIGANISMUS
»Ich wurde von fünf Frauen gestillt, das hat mich gestärkt« Gianni Jovanovic wuchs als schwuler Sohn einer Roma-Familie in Hessen auf. Er musste die Sonderschule besuchen und wurde mit 14 zwangsverheiratet. In seiner Biografie erzählt er, wie er sich aus Benachteiligung und patriarchalen Strukturen befreite – und zum queeren Polit-Aktivisten wurde. Von Lena Reich
G
ianni Jovanovic streicht über die grobe Struktur der lila Tapete mit den knallroten Klecksen. Seine dunklen Augen strahlen. »Geil!« Er deutet auf die Bar, die in Regenbogenfarben schimmert. Mit der Journalistin Oyindamola Alashe sucht er gerade in Berlin nach einer Spielstätte für ihre neue gemeinsame Veranstaltungsreihe: eine Empowerment-Show. Das Genre sei in Deutschland noch weitgehend unbekannt, stellt Jovanovic fest. »Es ist eine Mischung aus Gala, Lesung, Konzert, politischer Talkshow und echtem Austausch mit einem queer-interessierten Publikum, ohne dramaturgische Grenzen. Es gehe darum, einen Denkraum zu schaffen und gemeinsam zu fühlen: We are beautiful!« Als schwuler Rom, der gegen Rassismus und patriarchale Machtstrukturen kämpft, steht Jovanovic auf besondere Weise für Selbstbehauptung. Im Frühjahr ist seine Biografie »Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit« erschienen. Gemeinsam mit Oyindamola Alashe erzählt er
68 AMNESTY JOURNAL | 04/2022
darin vom Kraftakt der Selbstermächtigung. Aufgewachsen in den 1980er Jahren in Hessen, erlebte er als einziger Sohn serbischer Geflohener Gewalt und Rassismus. Neonazis verübten einen Brandanschlag auf die Unterkunft in Darmstadt, in der seine Familie lebte, und bewarfen die fliehenden Frauen und Kinder mit Backsteinen. Gianni war da vier Jahre alt, die Narbe auf der Stirn ist ihm geblieben. Bis heute sind die Täter unbekannt. Ein Jahr später wurde das Haus des Onkels von der Stadt abgerissen, während dieser mit seiner Familie einige Wochen verreist war, was der damalige SPD-Oberbürgermeister mit angeblicher Seuchengefahr begründete – sein Amtsvorgänger hatte der Familie die leerstehende städtische Immobilie vermietet. Die dritte Unterkunft und einen Wasserhahn teilten sie sich fortan mit 50 Menschen. Es gab keine Heizung, Jovanovic war häufig krank. Sobald das Schulamt bei der Eingangsuntersuchung erfuhr, dass das Kind mit dem schwarzen Lockenkopf Rom war, stand fest: Er würde – wie so viele Rom*nja – die Sonderschule besuchen. Auf diese Zeit blickt Jovanovic mit großer Wut zurück. »Schon damals hat Romani
Rose als Vorsitzender des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma von Rassismus gesprochen, der dann in den 1990er und 2000er Jahren im Westen und Osten regelrecht aufblühte. Aber einem Rom wird in diesem Land kein Gehör geschenkt! Stattdessen läuft die Stigmatisierung weiter.« Dass Sinti*zze und Rom*nja in Europa seit Jahrhunderten verfolgt werden und während des Nationalsozialismus mehr als 500.000 von ihnen ermordet wurden, hat Jovanovic weder in der Schule gelernt – bis heute fehlt dieses Thema in den Lehrplänen – noch wurde darüber jemals in seiner Familie gesprochen. Porajmos heißt diese mörderische Zeit in seiner Muttersprache Romanes: das Verschlingen. An den Genozid erinnert das »Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma« neben dem Reichstag in Berlin: ein kreisrundes schwarzes Becken, in
»Einem Rom wird in diesem Land kein Gehör geschenkt!« Gianni Jovanovic