MUSIK AUS INDIEN
»Bei uns nehmen die Unterdrückten das Mikrofon in die Hand« Die indische Band The Casteless Collective mischt westlichen Pop mit Gaana, der traditionellen Musik der marginalisierten Dalits. Ihr Ziel: eine kastenfreie Gesellschaft ohne Unterdrückung. Bandleader Tenma über Stolz, Fortschritt und die egalisierende Wirkung von Anzügen. Interview: Thomas Winkler
In Liedern Ihrer Band geht es um den Sozialreformer B. R. Ambedkar, die Quotenregelung für Dalits oder den allgegenwärtigen Sexismus. Versteht sich das Casteless Collective in erster Linie als Musikprojekt oder als Gruppe politischer Aktivist*innen? Wir sind schon in erster Linie eine Band. Wären wir nicht alle Musiker*innen, hätten wir nicht zusammengefunden. Wir sind Instrumentalist*innen, Komponist*innen, Sänger*innen, Rapper*innen und Schreiber*innen, aber wir sind uns auch dessen bewusst, was um uns herum los ist. Tatsächlich werden wir von der Öffentlichkeit nahezu ausschließlich als politisches Projekt wahrgenommen. In jedem Interview müssen wir uns zu politischen und gesellschaftlichen Themen äußern, niemand stellt uns spaßige Fragen wie: Welche Sneaker-Marke trägst Du am liebsten? Dann gleich mal eine Frage zu Klamotten: Wenn das Casteless Collective auf
72 AMNESTY JOURNAL | 04/2022
die Bühne geht, tragen alle denselben Anzug. Ist auch das eine Botschaft? Wir haben alle sehr unterschiedliche musikalische Hintergründe, kommen aber auch aus verschiedenen gesellschaftlichen Klassen. Mit den einheitlichen Anzügen, die wie eine Uniform wirken, wollen wir zeigen, dass uns eine Idee vereint. Und wir wollen nicht zuletzt daran erinnern, dass es einen Grund gab, warum Mahatma Gandhi seinen Anzug abgelegt hat – Ambedkar aber bewusst einen getragen hat. Dass wir Anzüge tragen, ist auch eine Verbeugung vor Ambedkar. B. R. Ambedkar kämpfte als Anwalt für die Rechte der Dalits, von denen er bis heute verehrt wird wie eine Ikone – mehr noch als Gandhi. Die meisten Musiker*innen des Kollektivs stammen aus genau den marginalisierten und unterdrückten Gruppen, für die Ambedkar gekämpft hat. Indem sie auf der Bühne nicht ihre Alltagskleidung tragen, sondern einen Anzug, legen sie den ihnen zugewiesenen Status ab und sorgen für Irritation im Publikum. Warum haben Sie Musik gewählt, um gegen das Kastensystem zu kämpfen?
Die Kunst ist seit Menschengedenken das Mittel, mit dem man gesellschaftlichen Fortschritt einleiten kann. Denken Sie an die Renaissance, das war nicht nur Malerei und Architektur, sondern auch eine Rebellion gegen die Kirche, die sozialen Wandel bewirkt hat. Punk oder HipHop haben nicht nur die Popmusik verändert, sondern auch die Gesellschaft – genauso Künstler wie Bob Marley oder Curtis Mayfield. Musik kann das Denken und in der Folge die Gesellschaft verändern. Bemerken Sie, dass das Casteless Collective etwas bewirkt? Traditionell sprechen in Indien meist Nichtunterdrückte für die Unterdrückten. Bei uns nehmen die Unterdrückten das Mikrofon in die Hand und sprechen für sich selbst. Damit haben wir schon viel erreicht. Wir waren und sind eine Art Blaupause für andere Bands und Künstler*innen, die heute in Indien widerständige, kritische Musik und Kunst machen. Liegt die politische Kraft allein in den Texten oder auch in der Musik? In beidem. Die Texte formulieren die Fragen, die die Musik stellt. Es gibt Gaana schon sehr lange, aber Dalit-Künstler*in-