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Die gezähmte Natur
Laurent Gorgerat
Mit der Domestikation – der zielgerichteten Umwandlung einzelner Wildtierarten in Haustiere – gelang es dem Menschen ein Stück weit, die wilde Natur zu bändigen und für seine Zwecke nutzbar zu machen. Dieser komplexe Prozess fand in der Jungsteinzeit (Neolithikum) um ca. 10’000 v. Chr. im Gebiet des «Fruchtbaren Halbmondes› zwischen der syrischen Wüste und Mesopotamien statt. Er wurde von denselben Populationen betrieben, die auch die ersten Kulturpflanzen anbauten. Diese beiden Errungenschaften stellten einen entscheidenden Schritt in der Menschheitsgeschichte dar, da mit ihnen erstmals eine produzierende Wirtschaft entstehen konnte, die Sesshaftigkeit und Vorratshaltung ermöglichte. Man bezeichnet diesen epochalen Wechsel daher auch als Neolithische Revolution. Der Mensch war fortan nicht mehr lediglich Teil der Natur und ihr gänzlich ausgeliefert, sondern nahm mehr und mehr einen dominierenden Part ein.
◁ Abb. 15
Das Axtblatt entspringt dem Rachen eines Löwen. Vier Eberköpfe zieren die Tülle.
Prunktaxt aus Bronze, spätes 2. Jt. v. Chr., Luristan (Iran) Inv. Su 21 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Ruedi Habegger
Domestizierte Tiere wie Schafe, Rinder und Schweine dienten in den antiken Kulturen in erster Linie als Nahrungs- und Rohstofflieferanten. Tierische Erzeugnisse wie Fleisch, Milch, Wolle, Bälge und Sehnen gehörten neben pflanzlichen Produkten zur Grundversorgung. Für die meisten Menschen bestand jedoch nur ein kleiner Teil ihrer Nahrung aus Fleisch. Rinder wurden hauptsächlich als Pflug- und Transporttiere verwendet (Abb. 17). In der bildenden Kunst lässt sich, was die Darstellungen domestizierter Tiere betrifft, ein deutlicher Unterschied zwischen dem alten Orient und der griechischen Welt ausmachen. In der altorientalischen Kunst lag der Fokus in erster Linie auf Darstellungen domestizierter Tiere, wohl um deren für den Menschen existenzieller Bedeutung gerecht zu werden. Selbst wenn wilde Tiere, allen voran der Löwe, dargestellt wurden, dann meist unter dem Aspekt der Bedrohung von Herdentieren. In der griechischen Kunst dominierten hingegen Bilder wilder, gefährlicher
Tiere und Darstellungen der gezähmten Tierwelt waren im Vergleich weniger oft vertreten. Ähnlich wie in der Kunst des alten Orients, in der wilde Tiere die Bedeutung domestizierter Tiere unterstreichen sollten, wurden Letztere in der griechischen Kunst als Gegenspieler wilder Tiere herangezogen, um deren Gefährlichkeit zu betonen.
◁ Abb. 16
Stehender Löwe
Salbölgefäss (Aryballos) aus gebranntem Ton, spätes 7. Jh. v. Chr., Korinth | Inv. Lu 12 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin ▽ Abb. 17
Ochsengespann mit Wagen
Statuette aus Bronze, 3. Jt. v. Chr., Nord-Syrien |Inv. AME 06 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Ruedi Habegger