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Mischwesen der Gegenwart. Vom gottesfürchtigen Menschen der Antike zum emanzipierten Cyborg der Neuzeit

Pascal Kaufmann

Der Mensch als Mängelwesen bricht mit seiner göttlichen Herkunft und versucht, künstliche Menschen zu schaffen. Allerdings scheitert das Menschengeschlecht immer wieder daran und beginnt nun, sich selbst als Mensch zu verändern und in ein Mischwesen aus Technologie und Biologie zu verwandeln. Antrieb ist dabei der unbändige Wissens- und Überlebensdrang, um jeden Preis. Seit der Antike hat der Mensch sich die Welt unterworfen wie keine andere Spezies zuvor. Der Mensch hat die Natur gebändigt, die Tierwelt gezügelt, alle Kontinente und abgelegenen Flecken der Erde kartografiert, selbst die entferntesten Galaxien und Planeten erkundigt der Mensch heute. Mit der Schaffung der ersten Cyborgs als Mischwesen aus Mensch und Maschine setzt der Mensch nun auf das letzte aller grossen Rätsel an, das nicht in entfernten Galaxien oder unentdeckten Kontinenten liegt, sondern in uns selbst: Wer sind wird? Was macht den Menschen aus? Was ist das Wesen unserer Intelligenz und Schaffenskraft? Wie grenzen wir uns nicht nur von Tieren, sondern auch von Maschinen ab?

Der Mensch als Mängelwesen wächst über sich hinaus – Der Siegeszug der Wissenschaft und der Technologie

In der Neuzeit schaffte es der Mensch, nicht nur die Erde vollends zu erkunden, sondern die Grenzen des Bekannten immer weiter auszudehnen bis in die entferntesten Regionen des Weltalls. Ein Kentaur, der in den Wäldern des antiken Griechenland lebte, war bedrohlicher als eine unbekannte Spezies auf einem Planeten in einer anderen Galaxie. Der wilde Kentaur als meist unkultiviertes Mischwesen gab sich zügellos den Lastern hin und definierte damit den kultivierten Menschen als Gegensatz, der Dank seiner eigenen Kultur eine funktionierende Gesellschaft schuf.

Arnold Gehlen prägte den Begriff des Mängelwesens in seinem Hauptwerk aus 1940 «Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt». Der Mensch als Mängelwesen wird im Tieruniversum fast in allen Eigenschaften übertroffen. Zu den körperlichen Mängeln gehören zum Beispiel das Fehlen von Angriffsorganen (Klauen, Gebiss), das Fehlen eines Körperbaus, der eine schnelle und ausdauernde Flucht ermöglichen könnte (z.B. durch vier Beine oder eine hohe Sprungkraft), sowie seine Schutzlosigkeit gegenüber der Witterung (durch unzureichende Körperbehaarung). Als psychische Nachteile führt Gehlen den «fast lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten» auf.

Die genannten Mängel zwangen den Menschen schliesslich dazu, sich zu entlasten, das heisst die Mängelbedingungen seiner Existenz in Chancen zu wandeln. Anstatt sich seiner Umwelt anzupassen, was aufgrund seiner physischen Eigenschaften oft nicht möglich war, veränderte der Mensch seine Umgebung, sodass diese seinen Zwecken dienlich wurde. Der Mensch konnte durch die Zügelung und die Beherrschung der Natur überleben,

indem er diese kultivierte und sich diese unterwarf. Der Mensch erhielt durch das Bändigen des Feuers nicht nur eine Technologie, um die Natur zu beherrschen, sondern er kreierte immer mächtigere Werkzeuge, um schliesslich auch die Natur des Menschen zu analysieren, zu sezieren, zu verstehen und durch Technologie zu erweitern.

Sein Wissensdrang führte zur Gründung der Philosophie, der Naturwissenschaften und der Ingenieurskunst. Der Wunsch nach Optimierung und Effizienzsteigerung, nicht zuletzt auch um Milliarden von Menschen zu ernähren und immer neue Entdeckungen zu machen, weckten im Menschen schliesslich den Wunsch nach immer mächtigeren Werkzeugen und Instrumenten.

Der emanzipierte Mensch bricht mit den Göttern – Die Erschaffung künstlicher Menschen

Gemäss Hesiod entwendet Prometheus den Göttern das Feuer und bringt es den Menschen. Er wird auf Befehl des Göttervaters gefesselt und im Kaukasusgebirge an einen Felsen festgeschmiedet, wo ihn regelmässig ein Adler aufsucht und von seiner Leber frisst. Ein positives Bild des Titanen zeichnet der Dichter Aischylos, der Prometheus als Wohltäter der Menschheit und Gegenspieler des tyrannischen Zeus darstellt.

Das Emanzipieren von den Göttern nahm in der Antike seinen Anfang und kulminierte in der Renaissance anno 1504 mit der Schaffung von Michelangelos David, der den Menschen erstmals wie einen Gott riesenhaft, nackt und entfesselt darstellte. Er entledigt sich der Tyrannei der Religion des Mittelalters und beginnt, die letzten Geheimnisse zu ergründen. Das Sezieren von Leichen war zu Zeiten Michelangelos und Leonardo Da Vincis noch streng verboten, doch brachen auch hier die neuen Universalgelehrten mit den hiesigen Gesetzen und versuchten zuerst die Anatomie, später die Physiologie und in neuester Zeit auch die Baupläne des Menschen zu entschlüsseln und zu verstehen. Leonardo soll schliesslich um 1500 einen künstlichen Ritter geschaffen haben, welcher rein durch Mechanik betrieben wurde und sich selbstständig einige Schritt fortbewegen konnte (Abb. 48). Im Jahre 1774 wurden von Jaquet-Droz menschenartige Automaten oder Roboter geschaffen, die den Menschen derart ähnlich waren, dass die Schaffung von künstlichen Menschen nur noch als Frage der Zeit betrachtet wurde (Abb. 49).

Seither ist ein regelrechter Hype um Roboter ausgebrochen. Allerdings erscheint die Robotik um die Jahrtausendwende inhaltlich und konzeptionell nur wenig weiterentwickelt, denn noch immer fehlt allen Robotern jedwede Intelligenz, Motivation oder Initiative. Roboter bestehen im Jahre 2021 zwar nicht mehr aus Zahnrädern und Pumpen, sondern aus Computerchips und faszinierender Sensorik und Motorik, doch noch immer scheint ein autonom handelndes, planendes und agierendes künstliches Wesen in weiter Ferne. Es scheint, als dass der biologische Mensch mit seiner Intelligenz und Auffassungsgabe an Grenzen stösst und seine Intelligenz nicht ausreicht, die Prinzipien des eigenen Denkorgans zu ergründen und künstliche Intelligenz resp. ein künstliches Lebewesen zu schaffen. Die Motivation, die menschliche Natur zu erweitern und die Wissenschaft zu beschleunigen und durch Technologie besser und mächtiger zu machen, ist damit gegeben, der Weg ist geebnet für eine neue Spezies Mensch – die Cyborgs.

Abb. 48 ▷

Rekonstruktion des mechanischen Roboters Leonardo da Vincis

© Heinz Nixdorf MuseumsForum, Paderborn

△ Abb. 49

«Le Dessinateur» (1774) und «La Musicienne» (1774). Automaten von Henri Louis JaquetDroz, La Chaux-de-Fonds

© Musée d’art et d’histoire de Neuchâtel / Foto : Stefano Iori

Der Cyborg als erweiterter Mensch und mächtiges Werkzeug – Mischwesen aus Mensch und Maschine

Der technologische Fortschritt, insbesondere um die Jahrtausendwende, ermöglichte es einer immer grösseren Zahl an Menschen, sich «zu enhancen» und sich in Cyborgs zu verwandeln. Der Begriff des Cyborgs bezeichnet ein Mischwesen aus Biologie und Maschine. Zumeist werden damit sogenannt erweiterte Menschen beschrieben, deren Körper dauerhaft durch künstliche Bauteile ergänzt werden.

Der Name ist abgeleitet vom englischen «cybernetic organism». Die ersten Beschreibungen eines Cyborgs (ohne den Begriff zu verwenden) stammen von Edgar Allan Poe aus dem Jahre 1843 in «The Man That Was Used Up», wo er einen Mann beschreibt, der sich durch zahlreiche Prothesen quasi verbessert.

Edmond Hamilton beschrieb Cyborgs seit den 1920er-Jahren und führte den Begriff erstmals explizit 1962 ein. Er ist Schöpfer der Romanfigur Prof. Simon Wright, der als sprechendes Hirn eines berühmten Wissenschaftlers künstlich am Leben erhalten wird und in einer Plexiglasschale in einer Verschmelzung aus Technologie und Biologie dem berühmten Comichelden Captain Future zur Seite steht (Abb. 50). Damit ist das Konzept des Cyborgs eingeführt und einer grossen Leserschaft auch visualisiert zugänglich.

In den 1970er-Jahren entwickelte der Schweizer Künstler Hans Ruedi Giger einen eigenen Stil, indem er biologisch-organische und technische Formen miteinander verschmolz. Die von ihm geschaffenen Figuren bezeichnet er als «Biomechanoide», die in bekannten Hollywood-Filmen wie «Alien» die Thematik einem breiten Publikum zugänglich machten (Abb. 51).

Ebenfalls bekannt aus den «Star Trek»-Serien der 1980er- und 1990erJahre sind die «Borgs». Diese entwickeln sich weiter, indem sie andere Spezies und ihre Technologien «assimilieren», das heisst deren Wissen und Erfahrungen in ihrer Gesamtheit in sich aufnehmen, um durch ein kollektives Bewusstsein die neuen Eigenschaften der Gemeinschaft hinzuzufügen und sich immerzu zu optimieren. Assimilierte Individuen werden dabei zu Drohnen transformiert, deren Körper mit Implantaten und Nanotechnologie aufgewertet sind. Dies stellt sich als paradiesischer Zustand für die Borg dar, weil das kollektive Bewusstsein («Hive-Bewusstsein») der assimilierten Spezies quasi unsterblich geworden ist. Borgs sind dabei mehr Rechner als Lebewesen (Abb. 52)

Eine neue Art von Cyborg wird durch die X-Prize Stiftung (USA) gefördert, wonach bis 2022 ein Mehrzweck-«Avatar» in Form eines Roboters konstruiert werden soll, der durch Menschen gesteuert werden kann und dem Menschen quasi als künstlicher Körper überall auf der Welt zur Verfügung stehen soll. Damit verschmelzen innerhalb eines Roboters der mechanische Körper einer Maschine mit der Intelligenz eines Menschen, sodass der Avatar als Mischwesen zwischen mechanischem Körper und menschlichem Geist betrachtet werden kann. Die Schweizer Robotikplattform «Roboy» rangiert dabei unter den gegenwärtigen Finalisten (Abb. 53).

△ Abb. 50

Edmond Hamilton, Prof. Simon Wright aus der Anime-Serie «Captain Future» (1978)

https://www.pinterest.ch/ pin/162340761538648209/ △ Abb. 51

«Biomechanoid» des Künstlers Hans Rudolf Giger aus dem Film «Prometheus» (2012)

© 20th Century Fox

Ausblick – Der Cyborg bestimmt unsere Zukunft

Der Körper als Mischwesen bestimmt, wie wir denken. Der Schweizer Robotik-Pionier Prof. Rolf Pfeifer zeigte in zahlreichen Beispielen auf, wie die Art des Denkens direkt durch den Körper bestimmt wird («How the Body Shapes the Way We Think», 2006). Das Feld der sogenannten «embodied cognition» im Bereiche der künstlichen Intelligenz beschreibt in zahlreichen Publikationen, dass Intelligenz nicht im Hirn stattfindet, sondern über den Körper hinweg verteilt und dezentralisiert ist, bis hin zu der Erkenntnis, dass der Mensch an sich ein Mischwesen aus Milliarden von Mikroorganismen ist. Etwa 96 Prozent allen Genmaterials eines Menschen ist nicht menschlichen Ursprungs, sondern liegt in Form von Bakterien oder Viren vor, die unseren Körper besiedeln und ausmachen.

Dabei wird immer klarer, dass Intelligenz als emergentes Phänomen aus der Zusammenarbeit verschiedenster Akteure entsteht und dass der Mensch nicht nur als Mischwesen per se, sondern als Super-Organismus oder auch «Holobiont» betrachtet werden muss: ein eindrückliches Zusammenspiel von Milliarden von Lebewesen, die vordefinierten Regeln gehorchen.

△ Abb. 52

Schauspieler Vernon R. Wilmer als «Borg»

https://intl.startrek.com/news/dont-be-the-borg △ Abb. 53

«Roboy»

© Rolf Pfeifer, Artificial Intelligence Lab, Universität Zürich, https://roboy.org/

Lagen in der Antike die Grenzen zwischen Bekanntem und Unbekanntem in fernen unentdeckten Gebieten der Erde, liegt eines der letzten grossen Rätsel quasi als noch unentdeckter Kontinent heute in uns selbst. Cyborg-Technologien, neueste Kollaborationstechnologien und neuartige Forschungsansätze bilden die Grundlage für einen Wettlauf um das Schaffen von künstlicher Intelligenz. Dabei wird das Vernetzen von unterschiedlichen Akteuren und Ansichten, Technologien, Robotern und Computer und die Symbiose zwischen Mensch und Maschine entscheidend sein im Verständnis um unsere eigene Natur. Die Entschlüsselung des Prinzips der Intelligenz soll dabei den Start in ein neues, goldenes Zeitalter bedeuten.

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