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Mischwesen in der Popkultur
Mitten unter uns. Mischwesen in der Popkultur
Pascale Roth
Antike Mischwesen «leben» auch heute noch unter uns. Besonders im letzten Jahrhundert erlebten sie einen enormen Aufschwung und sind Teil unserer Popkultur geworden. So kommen sie in Büchern, Filmen und Fernsehserien vor oder sind Protagonisten in Videospielen. Die Mischwesen variieren dabei jedoch in ihrer Erscheinung, durchlaufen ikonografische Veränderungen und werden in neuen Rollen wahrgenommen.
Eines der bekanntesten und ältesten Mischwesen ist wohl der Menschenlöwe, den man als Sphinx bezeichnet. Im alten Ägypten mit Löwenkörper und menschlichem Kopf als Personifikation der königlichen Macht dargestellt, war die Sphinx ein Machtsymbol, das unter anderem die Ruhestätte des Pharaos Chephren schützen sollte. Das Motiv des menschenköpfigen Raubtiers wurde später auch von den Griechen übernommen. Während der Dichter Hesiod noch über ihr Aussehen schweigt, beschreibt sie Apollodor als ein Wesen mit dem Gesicht einer Frau, der Brust, den Füssen und dem Schwanz eines Löwen sowie den Flügeln eines Vogels. Nebst dem veränderten Aussehen schlüpft sie im thebanischen Sagenkreis in die Rolle der Rätselstellenden, die falsche Antworten mit dem Tod bestraft. Die beiden unterschiedlichen Funktionen und Darstellungen können in der Popkultur entweder voneinander unabhängig oder miteinander verschmolzen angetroffen werden. So zeigt der Film «Die unendliche Geschichte» (1984) zwei geflügelte Löwenfrauen mit ägyptischen Uräus-Schlangen auf ihrem Haupt, die als Wächterinnen einen Durchgang flankieren. Im Videospiel «Assassins Creed: Odyssey» (2018) und dem Film «Gods of Egypt» (2016) stellt die Sphinx den Held*innen jeweils ein Rätsel (Abb. 45).
Dabei wird das Mischwesen im Game mit einem weiblichen Gesicht, gefiederter Brust, Flügeln und Klauen ruhig sitzend dargestellt, während die Sphinx in «Gods of Egypt» von einem überdimensionierten, aufbrausenden Löwen aus bröckeligem Sandstein mit männlichem Gesicht verkörpert wird (Abb. 46).
◁ Abb. 45
Die rätselstellende Sphinx im Videospiel «Assassins Creed: Odyssey» (2018)
© Ubisoft
Gerade letzteres Beispiel zeigt die Verbindung von ägyptischer Ikonografie und Funktion des griechischen Mythos – die Grenzen sind heute fliessender als im Altertum.
Eine Figur, die sowohl in der Antike als auch in heutiger Zeit einen hohen Bekanntheitsgrad geniesst, ist die Gorgo Medusa. Ihre Geschichte wurde uns von verschiedenen Autoren überliefert, angefangen mit dem griechischen Schriftsteller Apollodor. Bei ihm handelt es sich um drei Gorgonen, allesamt mit Schlangenhaaren, Fangzähnen und Flügeln, die mit ihrem Blick versteinern können. Ihm wie auch Hesiod zufolge ist Medusa die einzige der drei Schwestern, die sterblich war. Die Erzählung Ovids, die den Mythos der von Poseidon vergewaltigten und anschliessend von Athena zur Bestrafung verwandelten Priesterin wiedergibt, wurde zur klassischen Geschichte. Im Laufe der Zeit wurde ihre Figur gleichermassen als Gegnerin wie als Verbündete interpretiert und von Intellektuellen als Metapher verwendet, um Theorien zu illustrieren: Während Sigmund Freud in ihr die Personifikation der männlichen Angst vor der Kastration sieht, wird das Mischwesen von Hélène Cixous als Störung des männlichpatriarchalen Systems interpretiert. Die Frauenrechtlerin stellt den tödlichen Blick der Medusa in Kontrast zum schwachen Blick der normalen Frau, sieht ihr geköpftes Haupt als Symbol der weiblichen Macht, die von der männlichen Ordnung unterdrückt wird. Medusa repräsentiert sowohl in der Antike als auch in der Moderne das, was die Männer am meisten fürchten – eine starke Frau. Der abgetrennte Kopf der Gorgo wird somit zum apotropäischen Symbol und greift in gewisser Weise auch die Tradition auf, den Kriminellen den Kopf abzuschlagen und diesen als Warnung für andere auszustellen.
Besonders bei visuellen Wiedergaben kann über die Jahrhunderte hinweg eine Evolution vom Monster zum schönen Opfer festgestellt werden, die nahe an der Femme fatale steht. So kann ihre Attraktivität in der Popkultur durch ihre insofern monströse Andersartigkeit erklärt werden, besonders in gewissen Soziokulturen wird sie zur rebellierenden Ikone, sei dies in Form von Tattoos, Hairstyles oder Piercings. So wählt auch das Modehaus Versace ihren Kopf aufgrund der Reputation als sein Markenzeichen. Medusa repräsentiert klassische Schönheit vor ihrer Verwandlung in ein Monster ebenso wie Faszination und Verführung. Sie
◁ Abb. 46
Die Kreatur im Film «Gods of Egypt» (2016) verbindet die Ikonografie des ägyptischen Sphinx mit dem griechischen Mythos des rätselstellenden Mischwesens.
© Thunder Road Pictures
ziert nebst Haute Couture und Uhren auch feinstes Geschirr, jedoch mit einer gänzlich anderen Bedeutung als auf den griechischen Vasen. In der Filmwelt wird eine unterschiedliche Herangehensweise an den Mythos um Medusa deutlich: In «Clash of the Titans» (1981) wird die Gorgo bewusst hässlich mit komplett geschupptem Leib und Schlangenschwanz als Monster dargestellt. Sie lebt in einer düsteren Behausung am Rand der Unterwelt, wo sie sich mit Pfeil und Bogen sowie mit ihrem tödlichen Blick bewaffnet einen Kampf gegen den Helden Perseus liefert. In der 30 Jahre späteren Neuverfilmung von 2010 wird Medusa in der Unterwelt gezeigt, die im Vergleich aber mehr wie ein Gefängnis als ein Zuhause wirkt. Noch immer als bewaffnete Gegnerin dargestellt, fällt nun eine starke Veränderung in ihrer physischen Repräsentation auf. Ein stark stilisiertes weibliches Gesicht ohne Fangzähne sowie ein betontes Dekolleté lassen sie klar weiblicher wirken. Als eine stark idealisierte, attraktive Frau stellt sie zudem eine grössere physische Herausforderung dar und ist somit gleichermassen feminin als auch bedrohlich monströs. Während sich im Film von 1981 also das Geschlecht der Monstrosität unterordnet, weichen die
monströsen physischen Qualitäten in «Clash of the Titans» von 2010 dem sexualisierten Bild von Medusas Körper. Im Unterschied dazu steht die Interpretation im gleichzeitig erschienenen Film «Percy Jackson: Diebe im Olymp» (2010). Die in einem Statuengarten lebende Medusa erscheint hier auf den ersten Blick als elegant gekleidete Frau, anstelle eines Schlangenkörpers tritt ein sie komplett einhüllender Ledermantel. Ihre Bedrohlichkeit liegt nun nicht in der Sexualisierung, sondern in der Autorität einer Erwachsenen gegenüber den Teenager-Helden. Bis auf die Schlangenhaare und den gefährlichen Blick kann die zeitgenössische Manifestation also nicht als kohärent angesehen werden, die Grenze zwischen Mensch und Schlange – zwischen Schönheit und Monstrosität – ist beweglich. Dies zeigen auch zahlreiche Videospiele, wie «Dungeons and Dragons», «Final Fantasy» und «God of War», in denen Medusa in verschiedensten Formen auftaucht, jedoch immer mit der Kraft ihres versteinernden Blickes. In sämtlichen Fällen steht der Kampf zwischen weiblichem Monster und männlichem Held im Mittelpunkt – ein Konflikt zwischen Mann und Frau. Dabei wird der eigentliche Mythos bis auf das narrative Element der Enthauptung entweder ignoriert, erwähnt und heruntergespielt oder nur angedeutet und dessen Kenntnis von den Produzent*innen vorausgesetzt. «Percy Jackson» bringt das Thema der abgelehnten älteren Frau und der damit verbundenen Rache mit ein. Medusa verkörpert somit gleich zwei negative weibliche Stereotypen des 21. Jahrhunderts.
Nicht zuletzt wird eine Verbindung des Mythos mit der Realität hergestellt durch die Dezember-Edition des Männermagazins «British GQ» von 2013 (Abb. 47). Die Sängerin Rihanna wird mit Schlangenhaaren, Reptilienaugen und einer Python um den Hals abgelichtet. Nebst der visuellen Schönheit – als offensichtlicher Hauptverkaufspunkt – wird Rihanna mit der Identität Medusas als bekanntestes Opfer von sexueller Gewalt bewusst ins Zentrum der Diskussion über häusliche Gewalt gerückt, wobei beide Figuren für Akzeptanz und Überwindung eines vergangenen Missbrauchs stehen.
Die Sirenen hingegen sind ein Beispiel für Mischwesen, deren Erscheinungsbild sich nicht erst in moderner Zeit veränderte. In der Archaik wurden sie ursprünglich den Harpyien ähnlich als Vögel mit menschlichen Köpfen dargestellt und behausten auf Inseln aus den Knochen ihrer Opfer gebaute Nester. Wie auch die Gorgo Medusa durchlebte die Sirene eine Wandlung, im Zuge derer sie menschlicher wurde und ihr monströses Aussehen verlor.
Die Sirene erhielt nicht nur einen weiblichen Oberkörper, sie verlor spätestens im Mittelalter auch ihre Flügel und wurde zu einem Hybrid aus Frau und Fisch, ähnlich einer Nereide.Die Sirene erhielt nicht nur einen weiblichen Oberkörper, sie verlor spätestens im Mittelalter auch ihre Flügel und wurde zu einem Hybrid aus Frau und Fisch, ähnlich einer Nereide.
Diese maritime Form der Sirene existierte dann parallel zur geflügelten, die besonders in der Romantik Verwendung fand. Im 21. Jahrhundert wurde sie aber auch Gegenstand diverser Games wie «Witcher: The Wild Hunt oder World of Warcraft». Hier erscheint die Sirene als mehr oder minder gefiederte und meist stark stilisierte Frau, deren Arme durch Klauen und Flügel ersetzt werden.
▽ Abb. 47
Die Sängerin Rihanna als Gorgo Medusa auf der Titelseite des Magazins «British GQ» (2013)
© Condé Nast Inc.
Grund für diesen ikonografischen Wandel ist bereits Homers Schweigen über das Aussehen seiner Sirenen in der Odyssee. Denn er beschreibt sie lediglich als weibliche Wesen, die in Meeresnähe leben, und gesteht ihnen nebst dem verlockenden Gesang auch allumfassendes Wissen und die Macht über das Meer zu. Erst Apollonius Rhodius charakterisiert die Sirenen als Mischwesen aus Vögeln und jungen Mädchen. Durch ihre zahlreichen Morde an Seemännern werden sie aber dennoch mit Seeungeheuern verglichen. Obwohl die Sirene besonders in der christlichen Kultur als Personifikation der Versuchung durch das weibliche Geschlecht galt, entwickelte sich gegen Ende des 11. Jahrhunderts die Vorstellung der gutartigen Sirene, die nun mehr der Welt der Menschen als derjenigen der Tiere angehört. Von ihr geht keine Gefahr mehr aus, sie eilt den Seemännern in Not zur Hilfe oder wird gar selbst zur Hilfsbedürftigen. Diese Interpretation wird in der Filmwelt der Popkultur am häufigsten in Form der Meerjungfrau angetroffen, sei dies in Walt Disneys Animationsfilm «Arielle die Meerjungfrau» (1989) oder dem Film «Splash» (1984). Die Sirene wird mit farbig schillerndem Fischschwanz, Muschel- und Perlenketten sowie wallendem Haar gezeigt. Doch auch die Ambivalenz zwischen verführerischem Raubtier und Mensch kommt in «Fluch der Karibik: Fremde Gezeiten» (2011) sowie der Serie «Mysterious Mermaids» (2018) zum Ausdruck. Hier werden die unschuldig wirkenden Meerjungfrauen mittels Krallen und Fangzähnen wieder zu todbringenden Monstern, ihre Haut ist meist mit dunklen Schuppen übersäht und die Haare gleichen Seetang. Dem Aspekt der Verlockung hat sich das Unternehmen Starbucks gewidmet und sich diesen zunutze gemacht: So ziert eine zweischwänzige Sirene ihr Logo, die laut den Gründern die Kaffeeliebhaber*innen dazu verleiten soll, den Kaffee bei ihnen zu konsumieren.
So treffen wir auch abseits der bewegten Bilder in der Popkultur auf antike Mischwesen, wobei sie in unterschiedlichsten Formen rezipiert werden – angefangen bei ihrer äusseren Erscheinung bis hin zur Deutung ihrer Wesen und Funktionen.