4 minute read
Der ewige Kampf um Zivilisation
Laurent Gorgerat
«Ja, die Helden waren die stärksten der lebenden Erdbewohner, Waren selber die Stärksten und kämpften nun wider die Stärksten, wider Kentauren der Berge, und übten grimmig Vernichtung.»
Homer, «Ilias» 1, 266–267 (spätes 8. Jh. v. Chr.)
Gewisse Landschaften, so wie sie uns in den frühen Bildern der griechischen Kunst erscheinen, stellen also eine Welt dar, die die Griechen in Randgebieten des ihnen bekannten Lebensraums situierten, deren Gefährlichkeit durch die Präsenz hybrider Kreaturen noch verstärkt wurde. Sei es die Chimaira, die im fernen Lykien lebte, die Gorgo Medusa, die jenseits des Meeres vermutet wurde oder der Kyklop Polyphem, dessen Insel am Rande des Meeres lag, immer bewegten sich diese Mischwesen in Randzonen. Dies galt überdies auch für weniger entfernt lebende Wesen, wie die Kentauren, die sich in den Bergwäldern Thessaliens aufhielten. Diese periphere, potenziell gefährliche Welt galt es, wenn nicht gänzlich zu bezwingen, so doch in Schach zu halten, denn sie stellte eine existenzielle Gefahr für die griechische Gemeinschaft dar. Zahlreich waren näm-
◁ Abb. 54 vorherige Seite links
Herakles fängt die Hirschkuh der Göttin Artemis ein.
Gipsabguss einer römischen Kopie nach einem griechischen Bronzeoriginal, spätes 4. Jh. v. Chr., Inv. SH 279 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin
lich die wilden Tiere oder die Mischwesen, die die bebauten Felder verwüsteten und somit die Nahrungs- und Lebensgrundlage der Menschen bedrohten, wie der Nemeische Löwe, der Eber des Berges Erymanthos oder die Kerynitische Hirschkuh (Abb. 54). In diesem Kontext müssen die im späten 8. und vor allem im 7. Jahrhundert v. Chr. erstmals schriftlich überlieferten und bildlich dargestellten Mythenbilder gedeutet werden. Dominierendes Thema dieser ersten narrativen Kunst sind die Kämpfe der griechischen Helden gegen mannigfaltige Mischwesen. Allen voran ist Herakles zu nennen, der im Rahmen seiner berühmten Taten eine Vielzahl von Ungeheuern zu bekämpfen hatte und als gängigster Protagonist frühgriechischer Mythenbilder gilt. Dass es sich bei diesen tradierten Geschichten um weit mehr als nur um die blosse Darstellung eines Kampfes zwischen einem «menschlichen» Helden und wilden Kreaturen handelte, dass dabei auch ganz zentrale gesellschaftliche Werte vermittelt werden sollten, zeigt die Geschichte um Herakles und Pholos. Als Herakles in den entfernten Bergregionen Arkadiens den Erymanthischen Eber jagte, wurde er vom Kentauren Pholos zunächst gastfreundlich empfangen und bewirtet. Doch die rohe Natur der unzivilisierten Kentauren – gekoppelt mit übermässigem Weinkonsum – sollte zum Ausarten des behaglichen Zusammenseins und zu einer Bedrohung für Herakles führen, die schliesslich in einem Kampf endete. Kulturgeschichtlich betrachtet verteidigte Herakles mit der Niederschlagung des Kentauren nicht nur seine eigene Haut, vielmehr stand er für die Verteidigung kultureller Normen ein. Das Symposion und die damit assoziierte Gastfreundschaft galten nämlich bei den Griechen als zentrales Element gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es gehörte zum normierenden Element einer kulturellen Identität. Herakles kämpfte also nicht primär für sich, sondern verteidigte damit eine wichtige menschliche Errungenschaft, die durch die wilden, kulturfremden Pferdemenschen bedroht war. Eine ähnliche Geschichte, in der die Kentauren dieselbe bedrohliche und unzivilisierte Rolle einnahmen, soll sich bei der Hochzeit des Lapithen-Königs Peirithoos ereignet haben. Die zum Festmahl eingeladenen Kentauren verloren aufgrund ihres triebhaften Wesens die Kontrolle über ihr Verhalten und vergriffen sich an der Braut und den anwesenden Frauen. Die daraus resultierende fürchterliche Schlacht zwischen Kentauren und den Lapithen, die vom Helden Theseus unterstützt wurden, sollte nicht nur das Leben und die Ehre der Lapithinnen bewahren, sondern ganz allgemein die für die Griechen so wichtige Institution der Ehe verteidigen. Es ging in dieser
Auseinandersetzung also ebenfalls um die Wahrung zivilisatorischer Normen. Auch wenn die Kentauren in erster Linie negativ konnotiert waren und als Gegenpol zum vernünftigen Handeln der Griechen standen, gab es doch eine Ausnahme. So galt der Kentaur Chiron als besonders weise und gerecht, wurde ihm doch als Freund der Götter die Ausbildung zahlreicher Helden, unter anderen Achilleus, anvertraut.
Als letztes Beispiel mythologischer Kämpfe möge der berühmte Kampf zwischen Theseus und dem Minotauros angeführt werden. Als Strafe für das frevelhafte Verhalten des Königs Minos und seiner Frau Pasiphaë, die sich geweigert hatten, den Göttern zu opfern, verfügten diese, dass sich Pasiphaë in den kretischen Stier verlieben sollte. Aus dieser widernatürlichen Verbindung entstand die halb menschengestaltige, halb stierförmige Kreatur. Ihre Genealogie allein widersprach schon jeglicher kulturellen Norm. Darüber hinaus stellte der Minotauros aufgrund seiner gefährlichen Natur eine derartige Bedrohung dar, dass er im Labyrinth eingesperrt und mit menschlichen Opfern besänftigt werden musste. Dieses Wesen stand als Pervertierung jeglicher geltenden Ordnung für eine Bedrohung der menschlichen Gesellschaft. Erst dem athenischen Helden Theseus sollte es mithilfe der listigen Königstochter Ariadne gelingen, die Bedrohung abzuwenden.
Die bedeutende Anzahl mythologischer Kämpfe, die uns in solchen Bildern begegnen und in denen nicht nur die Lebensgrundlagen, sondern auch kulturelle Werte verteidigt werden, lässt sich in einen historischen Kontext einbetten und so erklären. Dies gilt insbesondere für die frühen Mythenbilder des 7. Jahrhunderts v. Chr., in denen sich vor allem die Taten eines Herakles, aber auch eines Theseus grosser Beliebtheit erfreuten. Diese Mythen und ihre Darstellungen fallen in eine Zeit, die von der Entstehung und Festigung der Stadtstaaten, der griechischen Poleis, als dominierendes Gesellschaftsmodell geprägt war. Charakteristisch und in einem gewissen Masse überlebenswichtig war die Notwendigkeit, diese städtischen Gemeinschaften (Kultur) gegenüber dem Fremden, Bedrohlichen und gar Gefähr-
Abb.55 ▷
Ein Flügelgenius bekämpft einen Löwen.
Knopfbecher aus Bronze, frühes 1. Jt. v. Chr., Luristan (Iran) | Inv. Su 4 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Ruedi Habegger
lichen (Natur) abzugrenzen und so die Lebensgrundlage für die Mitglieder der Gesellschaft zu garantieren. Konkret hiess dies, dass die Städte, die als kulturelles, politisches und religiöses Zentrum fungierten, sich in einer teils bedrohlichen Umwelt (wilde Tiere, Feinde, Naturphänomene) behaupten und absichern mussten. Ideologisch wurde dieses Bestreben mit den Kämpfen zwischen Helden und Tieren oder Mischwesen illustriert und untermauert. In diesem Sinne dienten die Mythen – ob mündlich, schriftlich oder bildlich überliefert – als identitätsstiftende Metaphern, deren Ziel es war, den Gegensatz zwischen Natur und Kultur fassbar zu gestalten (Abb. 55).