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Mischwesen der klassischen Antike
Mischwesen der klassischen Antike. Vom «wilden Tier» zum mythologischen Protagonisten
Laurent Gorgerat
«Die Chimaira hatte nämlich das Vorderteil eines Löwen und den Schwanz eines Drachen und den dritten, mittleren Kopf einer Ziege, durch den es Feuer hervorblies. Einerseits machte es das Land zuschanden, andererseits vernichtete es das Weidevieh, denn die eine Natur hatte die Macht von drei Tieren.»
Apollodor, «Bibliothek» 2, 31 (2. Jh. v. Chr.)
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Tierfries mit Sphingen, Vogel, Raubkatzen und Ziegenbock
Kanne (Oinochoe) aus gebranntem Ton, mittleres 7. Jh. v. Chr., Korinth | Inv. Lu 11 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin
Monster, Ungeheuer, Misch- oder Fabelwesen beflügeln seit jeher die menschliche Fantasie. Auch heute zählen zu den grossen Blockbustern der Filmindustrie Geschichten, deren Protagonisten gegen allerlei Unwesen aus prähistorischer Zeit, der Zukunft, dem Weltall oder den Tiefen des Meeres zu bestehen haben.
Im Gegensatz zu Ägypten, wo Gottheiten sehr oft, aber nicht ausschliesslich in der Mischgestalt von Tier und Mensch in Erscheinung traten, stellten die Griechen und Römer ihre Götter mit rein menschlichen Zügen dar. Nichtsdestotrotz bevölkerten zahlreiche Mischgestalten die Bild- und Vorstellungswelt der klassischen Antike. Diese hybriden Wesen zeigen die verschiedensten Kompositionen, allen voran das Zusammenfügen einzelner Tierkörper. Auch die Kombination von tierischen Elementen mit Menschenkörpern fand Verbreitung (Abb. 20). Dabei scheinen – analog zu Ägypten – in erster Linie die Charaktereigenschaften, die man einem Tier zuschrieb, sein Wesen oder seine dem Menschen überlegenen Fähigkeiten die Wahl der Motive bestimmt zu haben. Mischwesen der griechischen Kunst erlebten zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. eine Blütezeit. Obschon sie zu dieser Epoche auch als Einzelwesen in Erscheinung treten konnten, tauchen sie hauptsächlich in den Tierfriesen der damals dominierenden Vasenmalerei Korinths auf. Die hybriden Kreaturen dieser Frühzeit waren noch keiner Normierung unterworfen, sodass zahlreiche Kombinationen der Darstellungen möglich waren. Auch wurden die Mischwesen innerhalb der Tierfriese des 7. Jahrhunderts v. Chr. noch nicht in einen spezifischen narrativen Kontext eingebunden. Wir stehen also nicht vor der Darstellung einer bestimmten mythologischen Szene, wenn wir in einem Tierfries einer Sphinx oder einer Sirene begegnen (Abb. 19). Das soll aber nicht heissen, dass diese Tierfriese, ob mit oder ohne Mischwesen, eine rein ornamentale Funktion bekleideten. Das Bild, das diese Tierfriese wiedergaben, galt vielmehr als Illustration einer zwar exotischen, aber durchweg als real anzunehmenden Tierwelt. L. Winkler-Horaček spricht dabei von einer «fiktionalen Wirklichkeit», also einer Welt, die aufgrund der Präsenz von realen Tieren der heimischen Natur, erweitert um exotische Tiere und fantastische Wesen, als durchaus plausibel gelten durfte (Abb. 21). Die Frage, ob Sphingen und Sirenen tatsächlich real waren, ist dabei zweitranging. Sie wurden in
Bilder, in denen Panther und Löwen – die antike Betrachter wohl ebenso wenig aus eigener Erfahrung kannten – integriert und so Teil einer zwar wilden, aber möglichen Welt. Ihre Funktion galt also zunächst der Erweiterung der Wildnis, deren Gefährlichkeit und Fremde sie unterstreichen sollten. Die auf den Vasenbildern derart dargestellten Landschaften, in denen einheimische, exotische und fantastische Wesen vereinigt sind, suggerierten also, dass diese Gegenden nicht Teil der unmittelbar erfahrbaren Welt waren, sondern dass es sich um mögliche Grenzgebiete am Rande der bekannten Welt handelte.
Es ist sicher kein Zufall, dass solche Bildkontexte gerade in einer Zeit entstanden, in der – historisch betrachtet – die Griechen ihren Lebensraum oder, allgemeiner formuliert, die ihnen bekannte Welt durch Erkundungs- und Handelsfahrten sowie Koloniegründungen zu erweitern suchten. In den entferntesten Gegenden der Welt wurden nicht nur exotische Tiere, wie Elefanten und Löwen, sondern eben auch hybride Kreaturen vermutet. In einem direkten Zusammenhang zu dieser Horizonterweiterung der Griechen im frühen 1. Jahrtausend v. Chr. ist auch die Übernahme fremder Bildelemente in das Repertoire der griechischen Künstler und Handwerker zu sehen. Besonders mit der Wende zum 7. Jahrhundert v. Chr., die gemeinhin als Beginn der Orientalisierenden Periode der griechischen Kunst bezeichnet wird, wurden nahöstliche Vorbilder, die meist in der Gestalt von Importstücken nach Griechenland gelangten, übernommen. So sind die «klassischen» Mischwesen, wie beispielsweise die Sphinx (Mensch und Löwe), die Sirene (Mensch und Vogel) und der Minotauros (Mann und Stier) – so wie wir sie aus der Bildwelt der Antike kennen –, nicht ex nihilo entstanden. Selten bilden sie in ihren Erscheinungsformen genuin griechische Erfindungen, sondern stellen eine Rezeption und Adaptation von Bildkompositionen aus Ägypten und vor allem aus dem alten Orient dar.
Ob nun von aussen inspiriert und übernommen oder gänzlich neu geschaffen, ist diesen frühen Mischwesen gemeinsam, dass sie zunächst anonym, das heisst ohne klar erkennbaren narrativen Rahmen, in der Bildwelt der Griechen erschienen, auch wenn sie keine ausschliesslich ornamentale Funktion bekleideten. Erst gegen Ende des
Abb.20 ▷
Kauernde Gorgo Medusa mit Schlangenhaaren und Eberzähnen
Plastisches Gefäss aus gebranntem Ton, mittleres 7. Jh. v. Chr., Tarent (?) | Inv. Lu 80 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin
8. Jahrhunderts v. Chr. schufen griechische Künstler die ersten klar identifizierbaren Mythenbilder. Es mag kein Zufall sein, dass im selben Zeitrahmen zunächst rein mündlich tradierte Mythen und Geschichten zum ersten Mal in eine verschriftlichte Fassung gebracht wurden. Für die Mischwesen bedeutet dies, dass ihnen im Bild erstmals eine konkrete, visuelle Identität verliehen wurde. Auch anhand der Kentauren, Sphingen und Greifen liesse sich hervorragend aufzeigen, dass sie zunächst als neutrale Gestalten der Natur gezeigt und erst in einem zweiten Schritt mit Wesen der unterschiedlichen Heldensagen assoziiert wurden. Dabei wurden bereits bestehende, oft aus der Bildwelt des Vorderen Orients importierte oder inspirierte Formeln rezipiert, adaptiert und vor allem mit neuen, auf die eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen angepassten Inhalten versehen.
▽ Abb. 21
Applike in Form eines geflügelten Löwen
Ost-Griechenland, spätes 5. Jh. v. Chr. Leihgabe P. Steinmann, Binningen © Peter Hauck, Basel