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Sirene

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Literatur

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Sirene

«Woher habt ihr, Töchter des Acheloos, Füsse wie Vögel und Flaum, da ihr tragt ein jungfräuliches Antlitz?»

Ovid, «Verwandlungen» 5, 551 (spätes 1. Jh. v. Chr.)

Zu den wohl berühmtesten Episoden aus den Epen Homers zählt die Geschichte der Sirenen. Im 12. Buch der Odyssee (Verse 39–54 und 166–200) berichtet Homer, wie Odysseus und seine Gefährten aus den jenseitigen Gefilden kommend an der Insel der Sirenen vorbeisegeln. Diese auf einer blumigen Wiese sitzenden Wesen versuchen, die Vorbeifahrenden mit betörenden Gesängen und dem Versprechen von Allwissenheit anzulocken und ins Verderben zu stürzen, wie die vielen verwesenden Körper bezeugen, inmitten derer sich die Sirenen befinden. Auf Anraten der Kirke lässt sich Odysseus an den Mast des Schiffes fesseln, um den Tönen lauschen zu können, ohne sich jedoch in tödliche Gefahr zu begeben. Seinen Gefährten verstopft er die Ohren mit Wachs, um sie so zu schützen. Diese Episode aus der Odyssee, die wohl im späten 8. Jahrhundert v. Chr. sprachlich geformt wurde, bildet den ältesten literarischen Beleg für die Sirenen. Homer verrät uns jedoch nichts über das Aussehen dieser Todesdämoninnen, ausser dass es sich um weibliche Wesen handelt.

Seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. hat sich die Darstellung der Sirenen als Mischwesen aus Mensch und Vogel etabliert. Obschon die allermeisten Sirenen, die aus Griechenland überliefert sind, Vögel mit Frauenköpfen zeigen, zählen zu den frühesten Vertretern dieser Bilder durchaus auch männliche Darstellungen (Abb. 30). Das plastisch modellierte Gefäss aus Korinth zeigt einen Vogelkörper mit fein gegliedertem und differenziertem Federkleid und einen bärtigen, also männlichen Kopf. Weitere Beispiele männlicher Sirenen des frühen 7. Jahrhunderts v. Chr. stammen aus Kreta und Rhodos. Das Auftauchen und die Verbreitung solcher der griechischen Kunst bis anhin unbekannter Motive erfolgte in einer Zeit, die als die Orientalisierende Phase der griechischen Kunst bezeichnet wird und die sich durch die Übernahme nahöstlicher Bildformeln in das Repertoire griechischer Kunsthandwerker auszeichnet. Durch Handelskontakte und

kulturellen Austausch mit dem syro-phönizischen Raum wanderten vermutlich zahlreiche Mischwesen, wie eben die Sirenen, aber auch Sphinx oder Greif, gen Westen. Konkret lassen sich als Vorbild für unsere männlichen Sirene nordsyrische Henkelattaschen anführen (Abb. 31, 32). Solche Beschläge in Form von männlichen Flügelwesen schmückten grosse Bronzekessel, die zwar im syro-phönizischen Raum entstanden, jedoch auch als Votivgaben für griechische Heiligtümer und etruskische Fürstengräber gestiftet wurden und so als Vehikel für exotische Bildmotive fungierten. Zweifelsohne entstammt das Mischwesen VogelMann dieser nahöstlichen Bildwelt, wo es in Form von bärtigen Flügelgenien auf eine jahrtausendealte Tradition zurückblickte und Werke wie das plastische Gefäss aus Korinth beeinflusste. In der Folge der homerischen Episode, in der die Sirenen als weiblich bezeichnet werden, scheint sich deren Bild als Kombination von Vogelkörper und männlichem Kopf in der griechischen Kunst nicht durchgesetzt zu haben. Dies geschah erst, als sich die Vorstellung der Sirene als weibliches Wesen festigte. Vermutlich wurde im 7. Jahrhundert v. Chr. zunächst auf die vorderorientalischen männlichen Vorbilder zurückgegriffen, ohne diese Bildformel jedoch spezifisch auf die Sirenen anzuwenden. Dies war mitunter deshalb möglich, weil die Flügeldämonen auf den erwähnten Bronzekesseln, wo sie als Befestigung der Tragevorrichtung Verwendung fanden, den griechischen Betrachtern als kontextlos erschienen und so problemlos auf ihre eigenen Vorstellungen appliziert werden konnten. Erst als sich die Sirenen im kollektiven Bewusstsein als weibliche Dämoninnen etabliert hatten, wurden die männlichen Sirenen allmählich von ihren weiblichen Pendants in der Kunst verdrängt (Abb. 33, 34).

Abb. 30 ▷

Ein bärtiger Kopf auf einem Vogelköper

Gefäss in Form einer männlichen Sirene. Plastisches Gefäss aus gebranntem Ton, frühes 6. Jh. v. Chr., Korinth | Inv. BS 1407 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin

△ Abb. 31

Die Attaschen, an denen ursprünglich die Henkel befestigt waren, präsentieren sich in der Gestalt von bärtigen Vogelmenschen.

Kessel aus Bronze, spätes 8. Jh. v. Chr., Nord-Syrien | Inv. BS 548 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Andreas F. Voegelin

△ Abb. 32

Bärtiger Vogelmensch als Henkelattasche

Kessel aus Bronze, spätes 8. Jh. v. Chr., Nord-Syrien | Inv. BS 548 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin

Abb. 33 nächste Doppelseite links ▷

Figuren- und Tierfries mit Sirenen, Panthern und Widder. Die weisse Farbe charakterisiert die Sirenen als weibliche Wesen.

Weingefäss (Amphora) aus gebranntem Ton, frühes 6. Jh. v. Chr., Athen | Inv. BS 466 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin Abb. 34 nächste Doppelseite rechts ▷

Eine Sirene entfaltet ihre grossen Flügel.

Weingefäss (Amphora) aus gebranntem Ton, mittleres 6. Jh. v. Chr., Athen | Inv. Lu 17 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin

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