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Botanik: Wie steht es um die Artenvielfalt?
from ERKER 08 2022
by Der Erker
Wie steht es um die Artenvielfalt im Wipptal?
von Julia Strobl, Eurac Research
Sie sind meist schön anzusehen, können sehr zart sein oder auch wuchtig und groß – und sie haben manchmal lustige Namen wie „Buntes Läusekraut“, „Zottiger Klappertopf“, „Trollblume“ oder „Thymian-Seide“. Die Rede ist von Gefäßpflanzen. Der Botaniker des Biodiversitätsmonitorings Südtirol von Eurac Research Simon Stifter war 2021 u. a. im Wipptal unterwegs, um diese an verschiedenen Standorten zu untersuchen. Seine Kollegen untersuchten indes das Vorkommen von Vögeln, Heuschrecken, Fledermäusen, Tagfaltern und Bodenorganismen.
Plebejus argus: Der Argus-Bläuling kam auf einer Weide in Pflersch vor.
Gemeinsam erhebt das Forscherteam das Arteninventar in den wichtigsten Lebensräumen unseres Landes. Im Wipptal untersuchte es im Vorjahr je zwei alpine Punkte an den Telfer Weißen und am Schlüsseljoch, zudem eine Wiese in Pfitsch, eine Weide und drei Waldtypen in Pflersch sowie eine Streuobstwiese bei Thuins und ein Kräuterfeld bei Wiesen. Das Erhebungsjahr 2021 wartete mit zahlreichen spannenden Funden auf. Interessant für den Vogelexperten Matteo Anderle war etwa die Wiese in Pfitsch, wo drei bedrohte Vogelarten erhoben wurden: der Bluthänfling, die Goldammer und das Braunkehlchen. Auf der extensiven Weide in Pflersch kamen 17 Vogelarten vor, darunter der Baumpieper, die Zippammer oder der EU-weit geschützte Grauspecht. Auf derselben Weide konnten auch 22 Tagfalterarten erhoben werden, u. a. der seltene Doppelaugen-Mohrenfalter, der Schlüsselblumen-Würfelfalter oder der Argus-Bläuling. Die Weide ist ebenso botanisch interessant: Die Feuer-Lilie mit ihren auffälligen Blüten, die Thymian-Seide, eine Schmarotzerpflanze auf dem Thymian, die grünliche Waldhyazinthe, die im Wipptal nur hier anzutreffen ist, oder die Kartäuser-Nelke, eine typische Pflanze von sehr mageren Wiesen
„Die Klimakrise ist ein Gerechtigkeitsproblem“
Der Planet erhitzt, die Ozeane versauern, das Ökosystem bröckelt. Der hausgemachte Klimawandel kommt nicht, er ist schon längst da. Der Erker im Gespräch mit Eurac-Präsident und Limnologe Roland Psenner.
Interview: Renate Breitenberger
Erker: Herr Psenner, können Sie nachts noch ruhig schlafen?
Roland Psenner: Ich wache in der Nacht öfters auf. Wenn ich an den Klimawandel denke, dreht sich sofort das Gedankenkarussell und ich kann nur schwer aussteigen. Ich weiß, Pessimismus bringt mich nicht weiter. Vielleicht schaffen wir es wirklich nicht mehr, die Kurve zu kriegen.
Nicht einfach, optimistisch zu bleiben, wenn man sich tagtäglich mit Szenarien auseinandersetzt, die viele Menschen nicht zu interessieren scheinen.
Interesse ist durchaus da. An den acht Informationsabenden zur Nachhaltigkeit in Südtirol im März und April haben rund 1.200 Leute teilgenommen, rund 1.000 haben bei den Umfragen mit ihrem Handy abgestimmt. Ihre Aussagen sind allerdings nicht repräsentativ, da vor allem jene Bürger anwesend waren, die von vornherein interessiert und gut informiert sind. Auf den Talferwiesen in Bozen treffe ich regelmäßig junge Südtiroler, die mit der „Fridays for Future“-Bewegung protestieren. Viele wissen genau, um was es geht, sie durchschauen das System und halten kluge Reden mit klaren Forderungen. Ich kann mich gut in sie hineinfühlen. Auch ich bin mit 16 Jahren aufgewacht und habe gegen die Ungerechtigkeit der Welt protestiert.
Das Thema Klima hat Sie schon früh fas-
ziniert.
Ja. Seit den 1970er Jahren beschäftige ich mich mit ökologischen Themen wie Gewässereutrophierung, saurem Niederschlag, UV-Strahlung, der Verbreitung und Anreicherung hormonell aktiver Verbindungen (PCB) in unseren Seen und Mikroplastik. In den 1980er Jahren, also schon vor 40 Jahren, konnten wir belegen, dass sich die Seen verändern und die Niederschlagsversauerung auch vom Klima gesteuert wird. Unsere Forschungsergebnisse wurden 1992 im Fachmagazin „Nature“ publiziert und haben es 1997 auf das Titelblatt geschafft. Dass sich der Planet erwärmt, weiß die Wissenschaft seit einem halben Jahrhundert. Nobelpreisträger Syukuro Manabe hat genau beschrieben, was passieren wird, wenn wir die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre verdoppeln: Die Troposphäre wird wärmer, die Stratosphäre kälter, die Meeres- und Luftströmungen transportieren die Hitze zu den Polen, der Wassergehalt der Atmosphäre erhöht sich und die Rückstrahlung verringert sich, weil Eis und Schnee schwinden. Seine Vorhersagen sind eingetroffen.
Hat Manabe auch von möglichen Folgen gesprochen?
Nein. Laut seinen Berechnungen erhöht sich die Temperatur um 3 °C. Die Frage, ob das Klima stabil bleiben oder chaotisch sein wird, konnte er nicht beantworten. Das können
wir heute auch nicht. Ich vermute aber, dass das Klima für Chaos sorgen wird, jedenfalls so lange, bis sich ein konstanteres wärmeres Klima eingependelt hat, das allein aus physikalischen Gründen energiereicher, also heftiger und extremer werden wird.
Und wie lange wird das dauern?
Das Klimasystem der Erde ist träge, man rechnet also in Jahrzehnten. Dabei muss © www.eurac.edu man jedoch bedenken, dass wir die Konzentration der Treibhausgase ständig weiter erhöhen, d. h. dass ein möglicherweise stabiler Endzustand in weite Ferne rückt. Was wir heute erleben, haben wir vor einem halben Jahrhundert in Gang gesetzt. Wir bestimmen heute, wie die Welt im Jahr 2100 aussehen wird.
Die weltweite Politik hat inzwischen verstanden,
Roland Psenner: „Wir bewegen uns auf ein dass gemeinsam etwas gewalttätiges Klima zu.“ unternommen werden
muss, um den Planeten zu retten.
Bei der Pariser Konvention 2015 haben sich alle Staaten verpflichtet, die Weltwirtschaft auf klimafreundliche Weise zu verändern. Die beschlossenen Maßnahmen reichen sicher nicht aus. Wir müssen mehr tun, vor allem weil wir – die industrialisierten Länder – die Verursacher sind. Am 29. Juli, dem World Overshoot Day, haben wir alle Ressourcen der Welt verbraucht und leben den Rest des Jahres auf Kredit. Jedes Jahr rückt dieser Tag im Kalender um einige Tage vor. Wir verbrauchen mittlerweile mehr als einen Planeten. In Österreich fällt der Welterschöpfungstag heuer auf den 8. April, in Italien auf den 15. Mai. Dass wir nicht
schon längst schlimmere Folgen des Klimawandels zu spüren bekommen, haben wir den armen Ländern zu verdanken, die weniger verbrauchen, als ihnen nach unseren imperialen Begriffen „zustehen“ würde. Die Klimakrise mag ein physikalisches Problem sein. In Wahrheit aber ist es ein Gerechtigkeitsproblem. Ein Prozent der Bewohner der reichen Länder verbraucht überdurchschnittlich viele Ressourcen, die 50 Prozent der Bevölkerung der armen Länder dagegen sehr wenige. Leider wird mit jeder neuen Krise das System ungerechter, weil ausgerechnet diejenigen, die wenig oder gar nicht zu dieser Krise beitragen, am meisten darunter leiden – was auch für die Bevölkerung der reichen Länder gilt.
Welche planetarischen Belastungsgrenzen haben wir bereits überschritten bzw. in welchen Bereichen sind die
Stabilität des Ökosystems und die Lebensgrundlage der Menschen gefährdet?
Wir gehen davon aus, dass die Versauerung der Ozeane die Belastungsgrenze noch nicht erreicht hat. Wenn der Gehalt von CO2 in der Luft steigt, sinkt der pH-Wert in den Ozeanen, weil das Wasser CO2 aufnimmt. Zum Glück tut es das, sonst würde sich noch mehr CO2 in der Luft sammeln. Die Folge ist aber, dass im Wasser Kohlensäure entsteht und die Versauerung Organismen wie Algen, Muscheln und Krustentiere daran hindert, Schalen und Skelette aufzubauen. Inwieweit dieser Prozess die Meeresorganismen dauerhaft schädigen wird, ist noch weitgehend unklar.
Wie steht es um die Erwärmung der Ozeane?
Hier haben wir die Grenzen eindeutig überschritten. Der Ozean erwärmt sich in jeder Sekunde mit der Energie von fünf Hiroshima-Bomben. Die Erderwärmung steckt nur zu einem Prozent in der Atmosphäre, aber zu 93 Prozent im Ozean, vier Prozent stecken in der Eisschmelze, zwei Prozent in der Landoberfläche. Wird das Wasser zu warm, stoßen Korallen ihre Algenbewohner ab. Ohne Algen verlieren die Korallen ihre Primärproduzenten, die sie ernähren. Sterben Korallen ab, brechen Nahrungsketten zusammen, Ökosysteme verschwinden. Gut möglich, dass dieser Prozess wieder rückgängig gemacht werden kann, denn es gibt durchaus Korallen, die auch höhere Temperaturen aushalten. Insgesamt ist die Belastungsgrenze aber schon längst erreicht. Wir müssen deshalb alle Hebel in Bewegung setzen, um die CO2-Konzentration und die Treibhausgase jedes Jahr um fünf Prozent zu senken. Schaffen wir das nicht innerhalb 2030, entgleitet uns die Situation. Auch beim Kreislauf von Stickstoff und Phosphor sind die dem Planeten zumutbaren Grenzen überschritten, genauso wie bei der Anwendung bestimmter Chemikalien.
„Was wir heute erleben, haben wir vor einem halben Jahrhundert in Gang gesetzt.“
Zurzeit sind so viele Prozesse gleichzeitig in Bewegung, deren Folgen wir noch nicht abschätzen können. Wir wissen aus Studien, dass sich Mikroplastik auf die meisten Meeresbewohner negativ auswirkt, dass es bereits in unserem Blutkreislauf zirkuliert ... ... und dass jeder von uns pro
Woche eine Kreditkarte verspeist.
Von der Menge her ist es so, ja. Meine Kollegen an der Universität Innsbruck messen auch den Zusammenhang zwischen Mikroplastik und Schadstoffen wie Glyphosat, die sich gegenseitig in der Wirkung auf kleine Planktonkrebse verstärken. Mehrere Arbeiten laufen auch über Mikroplastik in Schnee und Eis.
Bedenklich ist auch die Biodiversitätskrise.
Sehr viele Arten sind bereits ausgestorben, viele sind extrem gefährdet. Bei der genetischen Biodiversität, der Anzahl der Arten, ist die Belastungsgrenze bereits überschritten. Keine genauen Angaben gibt es bislang bei der funktionalen Biodiversität, d. h. ob eine Art die Funktion einer ausgestorbenen Art übernehmen kann. Weltweit gibt es 30.000, in Europa etwa 700 Wildbienenarten, wir wissen aber nicht, wie viele bereits ausgestorben sind. Über ein Biodiversitätsmonitoring versuchen wir gemeinsam mit dem Naturmuseum, Daten über möglichst viele Tierarten zu erheben. Über einige Organismengruppen wie Säugetiere wissen wir mittlerweile relativ gut Bescheid und einige große Säugetiere haben sich in den Alpen dank funktionierender Schutzmaßnahmen wieder erholt. Wenig Wissen konnten wir bisher über Vögel und Insekten sammeln. Gerade weil wir so viele Folgen noch nicht vorhersagen können, konzentrieren wir uns zunächst darauf, die Klimaerwärmung und den Ausstoß der Emissionen zu verringern. Damit wäre bereits ein großer Schritt getan, und die sogenannten „nature-based solutions“, also Maßnahmen, die mit der Natur anstatt gegen sie arbeiten, helfen uns dabei. Heute geht man davon aus, dass wir etwa 30 Prozent der Meeres- und der Landfläche unter Schutz stellen müssen, um einerseits die Geschwindigkeit des Artensterbens zu verringern und andererseits Kohlenstoff langfristig zu speichern und damit dem Kreislauf zu entziehen. All das jedoch funktioniert nur, wenn wir „aufhören, Dinge zu verbrennen“, wie manche Forscher es formulieren.
Sie sagen, wir bewegen uns
Studierende der Uni Innsbruck untersuchen den Gletscherbach am zerfallenden Rotmoosferner.
auf ein energievolles, gewalttätiges Klima zu.
Mit jedem Grad steigt der Energiegehalt in der Atmosphäre. Es ist statistisch nachgewiesen, dass Stürme und Niederschläge stärker, Trockenperioden länger und Feuersbrünste größer werden. Wir stecken also schon mitten im Klimawandel. In Südtirol und in der Schweiz ist es bereits 2 °C, in Grönland über 3 °C wärmer. In besorgniserregender Weise steigen die Temperaturen in der Antarktis und in der Arktis gleichzeitig. Die flächenmäßig größten Veränderungen wurden auf dem arktischen Ozean festgestellt. Bildete sich in den 1970er Jahren noch mehrjähriges Eis, gibt es heute fast nur noch einjähriges Eis, das leicht zerbricht. Die Ausdehnung des Eises ist auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Wird es wärmer, kommen weitere Prozesse in Gang, welche die Wärmeeinstrahlung erhöhen. Die Eisoberfläche wirkt wie ein reflektierender Spiegel, Wasser hingegen wie eine fast perfekte Strahlungsfalle. Der Rückgang des Eises führt zu einer positiven Rückkopplung, also zu einer sich selbst beschleunigenden Erwärmung. Ähnliches erleben wir bei unseren Gletschern: Ziehen sich Gletscher zurück, werden mehr dunkle Flächen freigelegt, die Wärme aufnehmen. Fehlt im Sommer die weiße Firndecke, schmelzen die dunklen Eisflächen vermehrt ab.
Viele Schäden sind reversibel. Warum dauert es trotzdem oft Jahrzehnte, bis der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden kann?
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Lange wurde darüber gestritten, wer schuld an saurem Regen und versauerten Gewässern ist. Nach zehn Jahren Forschung stand eindeutig fest, dass die Verbrennung schwefelhaltiger fossiler Brennstoffe der Grund dafür ist, in Europa kommen noch Stickstoffverbindungen aus der Landwirtschaft und dem Verkehr dazu. Doch anstatt ihr Verhalten zu ändern, haben die Verantwortlichen Gegenargumente vorgebracht, weil sie Interesse daran hatten, ihre Produktionsweise fortzusetzen und die ökologischen und gesellschaftlichen Kosten auf andere abzuwälzen. So kann es gelingen, die Veränderung über Jahre aufzuhalten. Kommt man dann endlich ins Tun, müssen wir erkennen, dass wir eine jahrhundertelange Versauerung nicht innerhalb eines Jahres rückgängig machen können.
Im Bereich Verkehr hätten
Sie eine schnelle Lösung mit sofortiger Wirkung parat.
Die Lösung ist so einfach, dass niemand daran denkt – oder denken will. Würden wir auf der Autobahn nur noch 80 statt 130 km/h fahren, würde jeder von uns ein Viertel weniger Treibstoff verbrauchen, auf den Straßen gäbe es weniger Tote und Unfälle, weniger Stau, weniger Reifenabrieb, weniger Abrieb von Bremsbelägen, weniger CO2- und NO x -Ausstoß und die Autobahn würde ihre maximale Transportkapazität erreichen. Der einzige Nachteil ist, dass man für eine Fahrt von Sterzing nach Bozen zehn Minuten länger braucht. Trotzdem und trotz aller Klagen über hohe Benzinpreise ist das für die meisten unvorstellbar. Südtirol ist ein verrücktes Land. Die Hälfte unserer Emissionen stammt aus dem Verkehr, und zwar hauptsächlich aus unserem eigenen Ziel-QuellVerkehr.
Schaffen Sie es eigentlich, zu 100 Prozent klimapositiv zu sein?
Das ist auch für mich schwierig. Ich fahre einmal pro Woche mit dem Zug von Innsbruck nach Bozen und zurück, verwende in der Stadt das Fahrrad, habe einen Pelletofen gekauft, da die Heizung bisher auf Gas lief, und bin mit meinen drei Mitbewohnern im Gespräch, eine Wärmepumpe für das ganze Haus zu installieren. Und nach neun Monaten Wartezeit habe ich ein Elektroauto bekommen. Mir ist schon klar, dass das nicht die Lösung ist, aber das E-Auto hat eine erzieherische Funktion: Man fährt weniger schnell, weniger oft und weniger weit.
Generell scheinen die Menschen mittlerweile sensibler auf das Thema Nachhaltigkeit zu reagieren.
Ja. Ich hoffe, dass Krisenzeiten zum Nachdenken anregen. Wer keine Krise erlebt hat, sieht kein Problem und macht unreflektiert weiter, auch wenn es für die Welt schädlich ist. Zurzeit überlagern sich Krisen. Die Pandemie kam über Nacht, wir mussten sofort darauf reagieren. Beim Klimawandel ist es schwieriger. Er ist schleichend gekommen, scheint noch so weit weg von uns und ist für viele in seinen Folgen schwer einzuordnen.
„Wir bestimmen heute, wie die Welt im Jahr 2100 aussehen wird.“
Werden Sie als Wissenschaftler mitunter für Ihre
Ansichten belächelt?
Ja, manchmal. Früher habe ich oft mit Klimaleugnern diskutiert. Bis vor zehn Jahren sprachen sogar manche Wissenschaftler noch von einer natürlichen Temperaturschwankung. Heute nicht mehr, denn die Zahlen belegen eindeutig, dass die Treibhausgase um 80 Prozent höher sind als vor der Industrialisierung und seit den letzten acht Warmzeiten, also seit mindestens einer Million Jahren. Mittlerweile leugnet kein vernünftiger Mensch mehr den Klimawandel. Viele aber sind erfinderisch in der Suche nach Ausreden, ihr Verhalten nicht umstellen zu müssen. „Ich habe keine Wahl, ich muss Auto fahren“, „Der Klimawandel wird übertrieben“, „Südtirol ist ja so winzig, das macht weltweit ja gar nichts aus“, „Ist ja angenehm, wenn es ein bisschen wärmer wird“. Derlei Aussagen höre ich oft. Man kann sich selber gut in den Sack lügen.
Werden wir irgendwann freiwillig umdenken?
Leider nicht. Es braucht Regeln und es braucht Sanktionen für diejenigen, die sich nicht an Regeln halten. Manchmal frage ich mich, was es noch braucht, um unser Verhalten auch nur geringfügig zu ändern, obwohl inzwischen alle, auch jene, die keine wissenschaftlichen Papers lesen, kapiert haben, was auf dem Spiel steht.
Wenn nicht jeder bei sich selbst anfängt, wer soll es dann tun?
Es geht um die eigene, persönliche Einstellung. In welcher Zukunft möchte ich leben? Und welchen Beitrag kann ich dazu leisten? Diese Frage sollte sich jeder von uns stellen. Natürlich kommt man sich blöd vor, wenn man der einzige ist, der nachts das Licht im Schaufenster ausmacht, öffentliche Verkehrsmittel verwendet oder kein Fleisch mehr isst bzw. sich täglich fragt, welche Folgen sein Verhalten für das Wohl der Tiere und den Zustand des Planeten hat. Wenn man weiß, dass allein in Europa jedes Jahr Dutzende Millionen Schweine zu Tode gequält werden, fällt es vielleicht leichter, Ernährungsgewohnheiten umzustellen. Es braucht Leitlinien. Die Politik muss klar vorgeben, was sie will. Sie hat das Steuer in der Hand: Sie kann nachhaltiges Handeln fördern und umweltschädigendes Handeln erschweren oder teurer machen. Von alleine ändert sich der Mensch nicht. Wir alle brauchen gute Beispiele, realistische Ziele, Belohnung und – von Fall zu Fall – Bestrafung. Manchmal muss man Menschen zum Klimaschutz sanft oder weniger sanft „anschupfen“.
Pedicularis oederi: Das Bunte Läusekraut kommt am Schlüsseljoch aufgrund der dortigen Geologie vor.
Stiaccino - Saxicola rubetra: Das Braunkehlchen ist eine vom Aussterben bedrohte Vogelart, die auf extensives Grasland angewiesen ist. Euphydrias cynthia: Der Veilchen-Scheckenfalter ist eine seltene Tagfalterart, die am Schlüsseljoch vorkam.
und Weiden, sind nur einige der hier erhobenen 57 Arten. Am Schlüsseljoch fanden die Experten u. a. das Bunte Läusekraut und den seltenen Zweiblütigen Steinbrech, die beide aufgrund der besonderen geologischen Beschaffenheit hier vorkommen. Der geschützte Goldene Scheckenfalter, der seltene Doppelaugen-Mohrenfalter und der seltene Veilchen-Scheckenfalter konnten ebenso aufgenommen werden. Auf der Streuobstwiese bei Thuins stehen knorrige Apfelbäume mit großer Baumkrone und traditionellen Sorten in Kultur; daneben kommen hier 33 Gefäßpflanzen- und 16 Vogelarten vor.
Fazit
Die Ergebnisse zeigen dem Team einmal mehr, wie wichtig extensiv bewirtschaftete Lebensräume für die Artenvielfalt sind. Tatsächlich sind die Lebensräume, in denen besondere und gefährdete Arten gefunden wurden, genauso rückläufig wie die Arten selbst: Extensive Wiesen und Weiden sowie Streuobstwiesen werden zusehends aufgelassen, intensiviert oder verbaut. Umso wertvoller sind die noch bestehenden Lebensräume. Der Erhalt und ihre Bewirtschaftung sind sehr wichtig. Zusätzlich sind Schutzprogramme, etwa die Vergabe von Landschaftspflegeprämien, für deren langfristigen Erhalt wohl unverzichtbar.
Aussichten
Derzeit ist das Forschungsteam damit beschäftigt, die gesammelten Daten auszuwerten. Die neuen Erhebungspunkte für 2022 stehen bereits fest, das Forscherteam ist auch in diesem Jahr wieder im ganzen Land unterwegs, um die Artenvielfalt zu erheben. 2026 wird es an genau dieselben Punkte im Wipptal zurückkehren und sie untersuchen. So soll festgestellt werden, wie sich die Artenvielfalt verändert hat. Ziel des Monitorings ist es, durch diese Erhebungen eine wissenschaftlich fundierte Basis für politische Entscheidungen zu liefern.
Biodiversitätsmonitoring Südtirol
Auf Initiative der Südtiroler Landesregierung sind Forscher von Eurac Research seit 2019 im ganzen Land unterwegs, um die wichtigsten Lebensräume zu untersuchen. Diese reichen von Wäldern, alpinen Lebensräumen, Feuchtgebieten und Fließgewässern bis hin zu Wiesen und Weiden, Äckern und Dauerkulturen sowie Siedlungsräumen. 2021 machte das Forscherteam auch im Wipptal Halt. Eurac Research wird bei der Durchführung des Langzeitprojekts vom Naturmuseum Südtirol sowie den Abteilungen Landwirtschaft bzw. Natur, Landschaft und Raumentwicklung unterstützt.