Beiträge aus der Sicht der Bundeswehr, NATO und EU
Zeitenwende für die Bundeswehr General Eberhard Zorn, Generalinspekteur der Bundeswehr
General Eberhard Zorn
Foto: Bundeswehr
Am 24. Februar 2022 hat Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Diese völkerrechtswidrige und durch nichts zu rechtfertigende Aggression wird unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik, unsere Bundeswehr, unsere Gesellschaft und Deutschland als Ganzes verändern.
D
ieser Krieg richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen unsere Prinzipien, unsere Werte und die regelbasierte internationale Friedensordnung, die uns in Europa über Jahrzehnte Freiheit, Sicherheit und Wohlstand beschert hat. Wir haben sowohl national als auch in der EU und NATO den russischen Aufmarsch über Monate verfolgt. Das Szenar des nun erfolgten Angriffs wurde durch manche – auch langfristig – vorhergesagt. Ich sage ehrlich: Wir in Deutschland haben es uns nicht vorstellen können. Die Bewertung der russischen Handlungsoptionen erfolgte durch „unsere Brille“; im Rückblick haben wir Putin unterschätzt: Wie auch immer dieser Krieg ausgeht, er wird unser Denken und unsere Beziehungen zu Russland und vor allem dem Putin-Regime auf lange Zeit prägen. Innerhalb weniger Tage nach Angriffsbeginn wurde offensichtlich, dass Putin die politischen Ziele seines Krieges nicht erreichen konnte. Im Gegenteil. Auf allen Ebenen hat er durch die militärische Aggression seine Absichten konterkariert. Erstens: Die Ukrainer leisten einen im Angesicht der russischen Eskalationsdominanz beeindruckend tapferen militärischen und zivilen Widerstand. Eine stabile russische
18
Herrschaft über die Ukraine ist mit Stand Mitte April 2022 in weiterer Ferne als jemals zuvor. Zweitens: Die NATO und die EU stehen geschlossen gegen Russland. Politisch ist Russland bis auf wenige Ausnahmen isoliert, wie zum Beispiel das Votum der VN-Generalversammlung und die beispiellosen Sanktionen der EU zum Ausdruck gebracht haben. Die NATO hat ihre regionalen Verteidigungspläne aktiviert und eine Reihe von Alarmmaßnahmen ausgelöst, insbesondere zur Verkürzung der Zeiten zum Herstellen der Verlegebereitschaft der NATO Response Force (ca.13.700 deutsche Soldatinnen und Soldaten inklusive nationaler Unterstützungskräfte) und zur Beschleunigung der militärischen Mobilität. Zudem hat ein signifikanter Aufwuchs der NATO-Truppen an der Ostflanke begonnen, u. a. durch die Erhöhung der Anzahl der Battlegroups und die Stärkung der Luftverteidigung. Wir sind bereit, willens und in der Lage, das NATO-Territorium zu verteidigen.
Schwerpunkt bei der Landes- und Bündnisverteidigung Die NATO wird auf dem Gipfel Ende Juni 2022 in Madrid endgültig entscheiden, wie sie sich perspektivisch an der Ostflanke aufstellen wird. Diese Überlegungen werden auch in das überarbeitete Strategische Konzept sowie die bereits laufende Diskussion zur Zukunft der NATO-Russland-Akte einfließen. Auch Deutschland hat seinen Beitrag schnell und substantiell über bereits eingemeldete Kräfte hinaus erhöht, u. a. durch die Verstärkung der Battlegroup Litauen und einen Beitrag zur Battlegroup Slowakei. Erneut haben wir uns dabei als verlässlicher Bündnispartner erwiesen und unsere Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Drittens: Deutschland hat sich in der jüngeren Vergangenheit als ein Vermittler zwischen Russland und dem Westen verstanden. Spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim war jedoch für die Bundeswehr eine Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung unausweichlich. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist das Bewusstsein für die Bedeutung der eigenen militärischen Handlungsfähigkeit in der Bevölkerung angekommen. In diesem Kontext ist auch die durch Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag eingeleitete „Zeitenwende“ zu verstehen.
Frieden, Sicherheit, Nachhaltigkeit – Beiträge zu einer gesellschaftspolitischen Debatte