Beiträge aus gesellschaftspolitischer Sicht
Sicherheit – Fundament unserer Lebensform Prof. Dr. Wolfgang Koch, Chief Scientist des Fraunhofer-Instituts für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie FKIE
Prof. Dr. Wolfgang Koch
Foto: Fraunhofer FKIE
„Uns gefällt die Welt von Kant, aber wir werden uns darauf einstellen, in der Welt von Hobbes zu leben“ konstatiert Josep Borrell als EU-Außenbeauftragter im November 2021.
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eit dem 24. Februar 2022 ist jeder in dieser Welt aufgewacht. Wie sehr äußere Sicherheit alle anderen individuellen, gesellschaftlichen, politischen oder weltökologischen Ziele erst ermöglicht, zeigen uns die Bilder aus der Ukraine mit brutaler Wucht. Innere Sicherheit zu wertschätzen, lehrten uns zuvor islamistischer Terror, aber auch organisierte Kriminalität und politische Radikalisierung. Aber so selbstverständlich, wie wir glauben möchten, ist das Sicherheitsbedürfnis vielleicht doch nicht. Für Friedrich Nietzsche, den Propheten verhängnisvoller Geistesströme, war es nicht erstrebenswert: „Denn – glaubt es mir – das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss vom Dasein einzuernten, heißt gefährlich leben!“, formuliert seine „Fröhliche Wissenschaft“, eine Weltsicht, die politische Hasardeure auch heute von imperialer Größe träumen lässt: „Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit Euch selbst!“ Die Analogien zwischen dem Russland der Gegenwart und dem Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 fahren uns in die Knochen. Prophetisch antizipiert Nietzsche die deutsche Russlandschwärmerei eines Jahrhunderts. Seine „Götzen-Dämmerung“ nennt Russland „die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann
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– ‚Russland‘, der Gegensatzbegriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität“. Von Thomas Manns ‚Unpolitischen Betrachtungen‘ über „die Verwandtschaft in dem Verhältnis der beiden nationalen Seelen zu ,Europa‘, zum ,Westen‘, zur ,Zivilisation‘, zur Politik, zur Demokratie!“ reicht der Bogen bis in die jüngste Vergangenheit bundesdeutscher „Russlandversteher“. Wie das Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint heute Russland stärker als andere europäische Länder, aber zu schwach als Hegemonialmacht, die es wünscht zu sein. Aufgeschreckt erlebt die Öffentlichkeit, welch ein wahrhaft „nachhaltiges“, kostbares und zu hütendes Gut „Sicherheit“ ist, ohne das auch geistige Freiheit und kulturelle Früchte vergehen. Schiller, der Dichter der europäischen Hymne, schreibt von ihr: „Das, wonach ich mich schon so lange ich lebe auf aufs feurigste gesehnt habe, wird jetzt erfüllt – Sicherheit, die längst gewünschte Unabhängigkeit.“ Und Beethoven, nach dessen Melodie das vereinte Europa singt, verfasst eine „Ode an die Sicherheit“: „Es muss das Bestreben und das Ziel jedes wahren Künstlers sein, sich eine Lage zu erwerben, in welcher er sich ganz mit der Ausarbeitung größerer Werke beschäftigen kann und nicht durch […] mangelnde Sicherheiten davon abgehalten wird.“ Auch die Garantie materieller Sicherheit gehört offenbar ganz wesentlich zum Sicherheitsgedanken. Keine kalkulierbaren wirtschaftlichen Prozesse ohne äußere und innere Sicherheit, kein stetiger Zufluss von Rohstoffen, keine robusten Lieferketten für unsere Exportnation, keine Daseinsvorsorge, keinen sozialen Ausgleich. Auch ohne sichere Technik, ja ohne Versicherung, würden moderne Gesellschaften instabil, die ja auch von intrinsisch riskanter Technik abhängen.
Wie sich dem Begriff „Sicherheit“ annähern, wie umfassende Sicherheit gewährleisten? Überraschenderweise wurzelt die gedankliche Präzisierung von Unsicherheit im Recht. „Subjektive Wahrscheinlichkeiten“ und ihre Verknüpfung, Bayesian Reasoning, kennt bereits die rabbinische Rechtsprechung des 12. und 13. Jahrhunderts. Wie geht man mit unsicheren Aussagen methodisch sauber um? Wie akkumuliert man Wahrscheinlichkeiten, um ein sichereres Urteil zu gewinnen? Diese Fragen der Rabbiner, lange vor dem presbyterianischen Pfarrer Thomas Bayes gestellt, sind zeitlos.
Frieden, Sicherheit, Nachhaltigkeit – Beiträge zu einer gesellschaftspolitischen Debatte