Beiträge aus gesellschaftspolitischer Sicht
Demokratie braucht langen Atem – Was die creatio continua mit dem Alltag in Berlin zu tun hat Jörn Thiessen, ev. Theologe und ehem. SPD-Bundestagsabgeordneter, heute Abteilungsleiter „Heimat“ des Bundesministeriums des Innern und für Heimat
Jörn Thiessen
Foto: Fulmidas Medienagentur GmbH
„Die Rente, der Wald und der Frieden – Das Gewissen im täglichen Einsatz.“, so lautete ein Aufsatz, der vor zwanzig Jahren erschien. Eine breite Reaktion darauf gab es nicht und von heute aus betrachtet, hat die Welt auch ohne diese Gedanken gut leben können. Da dieser Text jedoch aus meiner Feder stammte, erlaube ich mir, daran anzuknüpfen.
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amals stand Deutschland in Afghanistan in Auseinandersetzungen, die damals nicht als „Krieg“ bezeichnet werden sollten. Der Einsatz im Kosovo war intensiv und bis heute nicht beendet. Die deutsche Gesellschaft war damals auf kriegerische Handlungen nicht vorbereitet, groß waren nach dem Fall des Eisernen Vorgangs die Hoffnungen auf eine dauerhaft friedliche Welt gewesen, „von Freunden umzingelt“ wähnte uns der Bundespräsident Rau noch Jahre später. Wir hofften auf Prosperität (die uns bis heute trägt), Wandel durch Handel, strategische Partnerschaften und Dialoge weltweit. Dass zu ökonomischer Stärke auch militärische kommen muss, dieser Gedanke war vielen unangenehm und nicht mehrheitsfähig im Parlament. Die Welt außerhalb unserer komfortablen Zonen aber sah anders aus, als viele es wahrhaben wollten.
Safety und Security Als ich 2005 in den Verteidigungsausschuss einzog, war die Bundeswehr engagiert im Kosovo, in Afghanistan, in Mazedonien, am Horn von Afrika, der Einsatz im Kongo zeichnete
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sich ab. Über 60 Bombenanschläge weltweit zählt die Chronik, darunter mit London und Madrid in europäischen Metropolen. Dennoch lebten wir in Hamburg, München und Berlin in Sicherheit. Unsere Sorge galt zu wesentlichen Teilen dem sozialen Zusammenhalt, der Gesundheitsversorgung, steigenden Kraftstoffpreisen und möglicher Arbeitslosigkeit. Nicht so sehr „Safety“ war das vorherrschende Problem, sondern „Security“. Im Sinne umfassender Sicherheit sind dies zwei Aspekte, die uns im Alltag begegnen und bestimmen. „Safety“ heißt hier, dass die übergroße Mehrheit der Menschen bei uns die Gesetze befolgt, dass die Polizei funktioniert und respektiert wird, dass Fahrstühle im Regelfall nicht abstürzen und wir vor Terror im Inneren beschützt werden. „Security“ meint mehr: Dass die Renten sicher sind und das Armutsrisiko von Alleinerziehenden verringert wird, dass Gleichberechtigung nicht nur im Gesetz steht und Bildung für alle verfügbar ist. Zudem bedeutet umfassende Sicherheit auch die Organisation gesellschaftlicher Debatten in einer Demokratie der Aushandlung, die auf Zusammenhalt zielen und es möglichst verhindern, dass einzelne Themen – so wichtig sie auch immer sein mögen – den Diskurs über Monate und Jahre dominieren: Nicht alles ist Klima, nicht alles ist Pandemie – so folgenreich diese Ereignisse auch immer sein mögen – der kluge Diskurs einer aufgeklärten Gesellschaft muss sich einen strategischen Blick auf die Dinge erhalten. Im Bundesministerium des Innern und für Heimat werden Aspekte umfassender Sicherheit zusammen gesehen. Hier stehen Ordnungen nach dem Gesetz und Ordnungen der Gesellschaft nebeneinander und sind miteinander verbunden. „Heimat“ bedeutet hier die Gestaltung vieler Formen zivilgesellschaftlichen Zusammenhalts, sei es in der Förderung gleicher Lebensverhältnisse, dem Schutz deutscher Minderheiten im In- und Ausland, der Integration von Geflohenen und deren Spracherwerb oder dem Kampf gegen gezielt verbreitete Desinformationen, die unsere Gesellschaft verunsichern und beeinflussen wollen. Für uns sind Rassismus und Antisemitismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung aller Minderheiten Phänomene, denen sich Staat und Zivilgesellschaft gleichermaßen zuwenden müssen und zu ihrer Bekämpfung beitragen. Zwei Mal steht das Wort „Kampf“ im vorherigen Absatz. Kampf ist Gewalt und kein einfühlsamer Dialog auf Augenhöhe. Wenn der Staat davon spricht, etwas zu bekämpfen, ist Staatsgewalt gemeint, also die Delegierung von Macht-
Frieden, Sicherheit, Nachhaltigkeit – Beiträge zu einer gesellschaftspolitischen Debatte