chilli cultur.zeit

Page 7

KULTUR CITY-TOUR MIT

ZUKUNFTSBLICKE BEIM

FREIBURGER FILMFORUM

PETER KALCHTHLER MUSIK INS NACHTLEBEN MIT ELLA STRACCIATELLA LEINWAND

Das Münster

FAST 40 JAHRE IM DIENST DER MUSEEN: EIN SPAZIERGANG MIT DEM

STADTHISTORIKER PETER KALCHTHALER

W als Lebenszentrum

er mit Peter Kalchthaler durch Freiburgs Innenstadt geht, kommt nur langsam voran. Alle paar Meter spricht ihn jemand an, ihm unbekannte Passanten, Kollegen, Mitarbeiter der Institutionen, mit denen er in seiner Zeit als Leiter des Museums für Stadtgeschichte und stellvertretender Direktor des Augustinermuseums zu tun hatte. Eine ältere Frau will wissen, ob seine nächste Stadtführung in Amsterdam mit Besuch der Vermeer-Ausstellung denn schon ausgebucht sei. Der Malermeister aus den Museumswerkstätten erkundigt sich, wie er mit seinem frisch angetretenen Ruhestand zurechtkomme. Und sichtlich gerührt versichert ihm kurz darauf ein im kulturellen Sektor tätiger Mann von der Sparkasse, dass er ihn „jetzt schon vermisse“.

Es ist zu spüren, dass der Historiker sich über derlei Begegnungen freut, dass er es genießt, ein integraler Teil dieser Stadt zu sein. Das war er schon immer: Kalchthaler ist gebürtiger Freiburger, er hat hier stu-

diert, seine Familie gegründet – und er arbeitete 39 Jahre lang bei den Städtischen Museen. Obwohl er ursprünglich Lehrer werden wollte. Dass er es nicht wurde, hat er „keinen Tag bereut“, sagt er. Im Gegenteil: Als er während seines Kunstgeschichte-Studiums im Augustinermuseum jobbte, habe ihn diese Tätigkeit bald so fasziniert, dass Museumsarbeit für ihn zur Berufung wurde. Das klingt überzeugt – und überzeugend.

Kein Wunder: Wir verweilen im Innenhof des Wentzingerhauses, das seit 1994 das Museum für Stadtgeschichte beherbergt und seither Mittelpunkt seines kunsthistorischen Wirkens war. Einer der Orte also, die für ihn „von ganz wesentlicher Bedeutung“ sind. Wentzingers Jahreszeiten-Skulpturen stehen um ihn herum, beschattet von gerade grünenden Bäumen – eine stille Oase mit plätscherndem Brunnen und Vogelgezwitscher mitten in der Stadt.

Ein „regelrechtes Kleinod“ sei dieses 1761 erbaute Haus „Zum schönen Eck“,

von Erika Weisser
Fotos: © ewei, iStock.com/RossHelen 48 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2023 KULTUR

findet Kalchthaler, und erinnert sich an die Mühen der Sanierung des Baudenkmals, das „eines der wenigen im Originalzustand erhaltenen Künstlerhäuser des Spätbarock in Deutschland“ sei.

Von heute aus gesehen, sinniert er, während der wenigen Schritte hinüber zum Münster, seien die damaligen Bauarbeiten so etwas „wie eine Vorwegnahme der Probleme gewesen, die wir heute im Augustinermuseum haben“. Denn in historischen Gemäuern, die man sanieren müsse, wenn man sie erhalten wolle, „ist immer mit Überraschungen zu rechnen“.

Museumsmensch und Geschichtsvermittler

Das sei ja auch beim Münster so, sagt er und betrachtet mit Wohlgefallen den in jahrelanger Arbeit gesicherten filigranen Turm. Schon seit Kindertagen spiele dieses Bauwerk in seinem Leben eine zentrale Rolle, „nicht nur als Katholik“. Für ihn war deshalb die große Ausstellung „Baustelle Gotik“ im Jahr 2014 nicht nur beruflich, sondern auch ganz persönlich ein besonderes Highlight.

„Ungeheuer wichtig“ sei für ihn auch die Ausstellung von 2016 über

die NS-Zeit in Freiburg gewesen, erzählt er auf dem Weg durch die Franziskanergasse, und bleibt kurz stehen am „wunderbaren Sparkassenbau“ mit der Meckelhalle, wo er auch etliche Ausstellungen organisierte. Er sei froh, dass es ihm zusammen mit Tilman von Stockhausen gelungen sei, „die Stadtverwaltung davon zu überzeugen, dass der geeignete Ort für das NS-Dokuzentrum das ehemalige Verkehrsamt ist“, sagt er einigermaßen stolz, als wir am Rathaus ankommen, wo sein Vater Alfred Kalchthaler jahrzehntelang als Stadtrat wirkte.

Dessen Engagement habe ihn „sehr geprägt“, da habe er „mitgekriegt, wie demokratische Entscheidungsprozesse laufen und wie kompliziert sie manchmal sind“. Doch wir gehen nicht die Turmstraße hinunter, zu diesem gerade im Umbau befindlichen Dokuzentrum am Rotteckring, das Kalchthaler als „Meilenstein in der Freiburger Museumslandschaft“ bezeichnet.

Der Weg führt zu einem anderen für ihn wichtigen Ort: zur Uni, wo er sich die Grundlagen für seinen beruflichen Werdegang als „Museumsmensch“ und Geschichtsvermittler aneignete. Und wo – im riesigen Foyer des KG I – seine allererste Ausstellung ihren Platz hatte.

Um die Runde zu schließen, strebt Kalchthaler nun in Richtung Augustinermuseum – und hat bald an jeder Ecke eine Geschichte zu erzählen. Er kennt die Namen der Häuser, die ihrer einstigen Besitzer und ihre Bestimmung; es ist wissensvermittelndes Vergnügen, mit ihm durch die Stadt zu gehen, die wohl nur ganz wenige so gut kennen und kaum einer so erklären kann wie er.

Beim „Augustiner“ angekommen, ist wieder diese Freude zu spüren, die er an seiner Arbeit hatte und die er auch angesichts des Bauwerks empfindet, das „historische und moderne Elemente harmonisch verbindet“. Wenn das Museum für Stadtgeschichte in zwei Jahren hierher umziehe, sagt er, könne er sich „gut vorstellen“, wieder eine Weile hier mitzuarbeiten – mit einem Rentner-Werkvertrag.

KULTURNOTIZEN

IKF wird neu ausgerichtet

Die Internationalen Kulturbörse Freiburg (IKF) wird neu ausgerichtet und wird deswegen erst 2025 wieder an der Messe Freiburg laufen. Die veranstaltende Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH & Co. KG (FWTM) will damit auf die sich wandelnde Kulturbranche und neue Anforderungen an die Fachveranstaltung reagieren und die IKF zukunftsfähig aufstellen. Die 1989 gegründete IKF ist die größte Fachmesse für Bühnenproduktionen, Musik und Events im deutschsprachigen Raum. Im vergangenen Jahr feierte sie ihre 35. Auflage. Die FWTM musste sie aber nach chilli-Informationen jedes Jahr mit einem fünfstelligen Defizit in der Bilanz buchen.

Carp mit neuer Aufgabe

Der Intendant des Theater Freiburg Peter Carp wurde als neues Mitglied in die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste (DADK) gewählt. „Ich freue mich sehr über die Aufnahme in die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste und auf die damit verbundenen neuen Aufgaben“, so Carp. Die DADK wurde 1956 in Hamburg als gemeinnütziger Verein mit dem Ziel gegründet, durch Diskussionen, Stellungnahmen und Veranstaltungen zu aktuellen Themen und Entwicklungen Zeichen und Maßstäbe für das kulturelle Leben zu setzen.

Partizipativ über Grenzen

Das Freiburger Aktionstheater Panoptikum hat eine erste Kooperation mit dem Kulturzentrum Art’Rhena auf der Rheininsel zwischen Breisach und Neufbrisach beschlossen. Das Stuttgarter Kunstministerium fördert das partizipative, grenzüberschreitende Tanz- und Theater-Projekt „Empreintes/Abdrücke“ mit 30.000 Euro. bar

Peter Carp: Intendant des Theaters Foto: © Birgit Hupfeld Unterwegs in den Unruhestand: Peter Kalchthaler im Innenhof des Museums für Stadtgeschichte, umgeben von Wentzingers Jahreszeiten-Skulpturen.

Info

Festival of Transcultural Cinema, 12. – 21. Mai 2023, Kommunales Kino Freiburg freiburger-filmforum.de

Blick in die Zukunft

DIE 20. AUSGABE DES FREIBURGER FILMFORUMS: FESTIVAL OF TRANSCULTURAL CINEMA

In diesem Monat jagt im Kommunalen Kino ein Filmfestival das andere: Gerade ist das 30. Cinelatino zu Ende gegangen, da folgt auf dem Fuß die 20. Ausgabe des hauseigenen Freiburger Filmforums, das inzwischen als „Festival of Transcultural Cinema“ gehandelt wird. Am Freitag, 12. Mai geht’s los – heuer wieder vor Ort im Alten Wiehrebahnhof und mit etwa 30 internationalen Gästen. Den Auftakt macht Rafiki Fariala aus der Zentralafrikanischen Republik: Er präsentiert seine Dokumentation „Nous, étudiants!“.

Indessen haben die Macher·innen um Kurator Mike Schlömer viel gelernt aus dem jüngsten Filmforum 2021, das wegen pandemischer Einschränkungen nur online stattfand: Bei einigen Filmgesprächen sind die Regisseure oder Autoren zugeschaltet, und bei einem Teil des Programms haben Zuschauer·innen die Möglichkeit, die Filme über die Streamingplattform des Kinos zeitgleich mit den im Saal Anwesenden zu sichten.

Zudem entwickelte das fünfköpfige Kern-Team ein ganz neues Format, das es erlaubt, an verschiedenen analogen Orten synchron den gleichen Dokumentarfilm zu sehen. #Junctions nennen sie dieses Experiment, mit dem neue Rezeptionsformen erprobt werden sollen – „im „außereuropäischen Austausch“, wie Schlömer betont. Dabei sind Besucher des Unseen-Kinos in der kenianischen Hauptstadt Nairobi sowie Gäste des Conflictoriums im indischen Ahmedabad per Livestream mit dem KoKi-Publikum in Freiburg verbunden; alle sehen den gleichen Film und kommen hernach miteinander ins Gespräch. An fünf der insgesamt zehn Festivaltage gibt es Vorführungen innerhalb dieses #Junction-Programms.

Mike Schlömer ist gespannt, wie das neue Format ankommt. Ansonsten ist er froh, dass das Filmforum „endlich wieder Bodenhaftung“ hat. Auch wenn der diesjährige Themenschwerpunkt eher in den Sternen steht: Um die Zukunft geht es, also „um das, was uns noch erwartet, uns aber heute schon bestimmt, weil wir damit rechnen müssen, genau das zu erleben, was wir eigentlich verhindern wollen“. Dabei müsste es eigentlich „Zukünfte“ heißen, weil die Realitäten unterschiedlich seien – und damit auch das, was in den verschiedenen Weltgegenden auf die Menschen zukomme.

Dabei könnten Filmbilder der Gegenwart als Schnittstelle zur Zukunft dienen: „Hierzulande dystopisch anmutende Szenarien sind andernorts bereits Realität“, wie etwa in „Everything that breathes“ zu sehen sein wird. Dieses Thema sei derzeit so relevant, dass es neben dem Hauptprogramm und der bewährten Student’s Platform ein neues Format gibt: „Filming Futures“ heißt es.

Es gibt vier Kurzfilmprogramme, die wagemutig in die Zukunft blicken. Einige dieser Dokus sind beim Outdoor-Programm „Living Walls“ zu sehen, wenn am späten Abend des 16. Mai geeignete Freiburger Hauswände mit bewegten Bildern belebt werden.

Fotos: © Freiburger FilmForum
Paradise Reclamation
TerraMater
50 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2023 KINO
NeptuneFrost

DIE GESCHICHTE VOM HOLZFÄLLER

Finnland 2022

Regie: Mikko Myllylahti

Mit: Jarkko Lahti, Hannu-Pekka

Björkman u.a.

Verleih: eksystent

Laufzeit: 99 Minuten

Start: 11. Mai 2023

Das Alte stürzt ein

(ewei). Im Norden Finnlands ist nicht viel los. Auch in der Kleinstadt, in der Pepe mit seiner Familie lebt: Der einzige Treffpunkt ist die Bar, wo sich Groß und Klein, Alt und Jung versammeln und trinken, Billard spielen oder tanzen. Manchmal schweigen sich alle auch an; in dieser Region wird nicht viel geredet.

Pepe ist Holzfäller; sein Leben ist einfach und sorgenfrei. Er hat seinen besten Freund, auf den er sich hundertprozentig verlassen kann, eine verständnisvolle Frau und einen anhänglichen Sohn – Thomas, der ihm auf Schritt und Tritt folgt und sein Hobby teilt: Eisangeln.

Doch eines Tages wird unerwartet das Sägewerk geschlossen, in dem Pepe und mit ihm das halbe Städtchen arbeitet. Alle werden erst einmal arbeitslos. Zudem häufen sich bei Pepe private Schicksalsschläge. Doch während das alte Leben um ihn herum in sich zusammenfällt, macht er einfach stoisch weiter. Egal, was passiert. Schwarzhumorig, ein bisschen schräg – und auf besondere Art magisch.

DIE NACHBARN VON OBEN

Schweiz/Frankreich 2022

Regie: Ursula Meier

Mit: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi u.a.

Verleih: Piffl

Laufzeit: 103 Minuten

Start: 18. Mai 2023

Jenseits der Wut

(ewei). Margret neigt zu unkontrollierten Wutausbrüchen. Die 35-jährige Musikerin hat deshalb sämtliche Liebes- und Freundesbeziehungen in den Sand gesetzt. Als einzige Bezugspersonen bleiben ihr die als Solo-Pianistin tätige Mutter Christina und die kleine Schwester Marion. Wobei insbesondere das Verhältnis zur Mutter sehr belastet ist.

Als die beiden in einen heftigen Streit geraten, verletzt Margret Christina so schwer, dass diese einen Hörschaden erleidet. Die Polizei rückt an, Margret wird verhaftet und erhält die Auflage, sich während der nächsten drei Monate dem Haus der Mutter nicht zu nähern. Sie muss einen Abstand von mindestens 100 Metern einhalten – eine Grenze, die Marion mit einer Linie markiert, die sie mit blauer Farbe um das ganze Anwesen zieht.

Täglich hält sich die labile Margret an dieser Linie auf, sucht Vergebung – und die Nähe zu ihrer wenig empathischen Mutter, die ihr nie Liebe und Anerkennung zukommen ließ. Doch deren innere Barriere bleibt.

Schweiz 2023

Regie: Sabine Boss

Mit: Sarah Spale, Max Simonischek, Roeland Wiesnekker, Ursina Lardi

Verleih: Wild Bunch

Laufzeit: 88 Minuten

Start: 1. Juni 2023

Ungeahnte Aussichten

(ewei). Anna und Thomas sind schon lange ein Paar. Schon seit 20 Jahren leben sie in derselben Wohnung im selben Mietshaus – mehr neben- als miteinander. Und die Tatsache, dass sie sich allmählich voneinander entfernt haben, hat sie bisher nicht weiter gestört, war ihnen nicht einmal wirklich bewusst.

Das ändert sich, als im Stockwerk über ihnen neue Nachbarn einziehen –ein junges Paar, das ziemlich deutlich hörbar den sexuellen Gefallen aneinander noch nicht verloren hat. Die oft und lautstark ausgelebte Liebesfreude sorgt bei Thomas und Anna für schlaflose Nächte und unruhige Wochenenden –und trifft die beiden bis ins Mark: Ihnen wird bewusst, wie sehr sie in ihrer Ehe festgefahren sind – und dass sie auch einmal Zeiten kannten, da sie kaum voneinander lassen konnten.

Doch anstatt darüber zu reden, giften sie sich nur noch an. Bis Anna die Nachbarn auf einen Drink einlädt –und diese ihr und ihrem Mann ein überraschendes Angebot machen. Wortwitzige Komödie.

DIE LINIE
Foto: © eksystent Filmverleih Foto: © Pffl Medien
KINO
Foto: © Wild Bunch

Freiburg schlägt New York

DER VEREIN MEHRKLANG MACHT NEUE MUSIK POPULÄR

Stücke zeitgenössischer Komponist·innen stehen nicht im Ruf, hip zu sein. Oft werden sie als kompliziert, verwirrend oder elitär beschrieben. Solchen Klischees sagt der Freiburger Verein Mehrklang den Kampf an. Mit innovativen Konzepten will das Netzwerk möglichst viele Menschen mit Neuer Musik erreichen. Dieses Jahr etwa mit einem veganen Konzert in der Mensa

Neue Musik: Sind damit die Singles von Apache207 und Udo Lindenberg oder das neue Album von Taylor Swift gemeint? Weit gefehlt, Stücke aus Rock oder Pop fallen nicht in die Kategorie. Stattdessen geht es in der Regel um zeitgenössische Werke, die im Alltagsgebrauch der Kategorie „Klassik“ zugeordnet werden. In Freiburg gibt es dafür eine rege Szene. „Gemessen an der Größe der Stadt passiert hier mehr als in München, Tokio oder New York“, sagt Beate Rieker. Sie ist Geschäftsführerin von Mehrklang, dem Freiburger Netzwerk für Neue Musik. Nicht nur die vielen Ensembles und Institutionen wie die Musikhochschule oder das Experimentalstudio des SWR

machten die Breisgaumetropole zur Musikstadt. „Auch das Publikum ist sehr neugierig und kommt regelmäßig zu Veranstaltungen“, berichtet Rieker.

Seit der Gründung vor 15 Jahren ist es das Ziel von Mehrklang, nicht nur das eingefleischte Publikum zu erreichen. Rieker beobachtet, dass sich viele Menschen nicht auf Konzerte der Neuen Musik trauen, vielleicht, weil sie von den ungewohnten Klängen abgeschreckt seien. Hier setze Mehrklang als „Manufaktur für besondere und innovative Veranstaltungsformate“ an.

Bereits siebenmal hat der Verein den Klangparcours am Waldsee organisiert. Dort wird die Natur mit Klangstationen zum Konzersaal, Musiker·innen spielen etwa auf Tretbooten oder im Pavillon. Schon zur ersten Auflage kamen 2015 mehr als 1000 Gäste.

Eines der Highlights des Vereins war vergangenen Herbst das Glockenkonzert im Herzen Freiburgs. Satte 765 Jahre hat die HosannaGlocke des Freiburger Münsters auf dem Buckel. Komponist Bernhard Wulff nutzte den Klang der Glocke als Grundakkord für ein Konzert mit 50 Musiker·innen. „Das war ein magischer Augenblick“, erinnert sich Rieker. „Der ganze Münsterplatz war voller Menschen, es kamen Tausende Zuhörer·innen.“ Die

Klänge, denen das Publikum damals andächtig lauschte, werden wohl nie wieder zu hören sein: Es gibt weder einen Mitschnitt noch werden Noten verkauft.

Im Jubiläumsjahr warten neue Highlights. Dazu zählen ein Sonnenaufgangskonzert auf der Dreisamwiese an der Kartäuserstraße (18. Juni), Gute-Nacht-Lieder am Siegesdenkmal auf dem Europaplatz (23. Juni) und Klangtouren durch die Keller der Brauerei Ganter (1. Juli).

Besonders spannend verspricht am 7. Oktober ein veganes Konzert in der Mensa Rempartstraße zu werden. „Es soll ein humorvolles Experiment mit überraschender Musik werden“, kündigt Rieker an. Unter Einbindung des Publikums soll erkundet werden, wie ein klassisches Konzert ohne tierische Produkte aussehen kann: Gibt es Alternativen zum Pferdehaar im Geigenbogen? Wie klingen Instrumente ohne Tierprodukte, zum Beispiel ein Kürbis? Um nicht nur die Ohren anzusprechen, wird dazu eine vegane Suppe gereicht. Vegane Konzerte, Musiker·innen im Tretboot – das ist eigentlich doch recht hip.

Manufaktur für Neue Musik: Bernhard Wulff, Beate Rieker und Akiko Okabe (v. l. n. r.) blicken als Vorstand von Mehrklang auf Highlights wie das Glockenkonzert auf dem Münsterplatz zurück.

Fast 800 Jahre alte Glocke als prominente Gastmusikerin
Fotos: © Mehrklang
MUSIK

Miss Zuverlässig

Wer in Freiburg tanzen geht, kommt an ihr kaum vorbei: DJ Ella Stracciatella ist auf vielen Bühnen präsent. Ihr Elektrosound mit feministischem Einschlag bringt die Menge in Bewegung. Dabei ist die Frau durch Zufall zum Auflegen gekommen.

Tagsüber ackert sie an der Uni, nachts wühlt sie sich durch Platten oder bringt die Partygäste zum Bouncen. DJ Ella Stracciatella war zuletzt in Hamburg, Marburg, München. Ihre Base ist aber Freiburg. Hier lebt die Künstlerin, die ihren bürgerlichen Namen und das Alter für sich behält. Im Sommer ist sie unter anderem beim ZMF und bei der AftershowParty des Sea You am Start. Ella ist Künstlerin und Aktivistin. Als Teil der Initiative „Locartista“ kämpft sie für mehr Vielfalt auf Freiburgs Bühnen. Was sie auflegt, ist zugleich auch eine Ansage. Den Mix beschreibt sie als „feinste BitchMukke & Indiedance Sound, glitzernden Disco-Träsh oder auch Acid & Tech House“. Bitch? „Das war lange ein gesellschaftliches Schimpfwort, jetzt ist es für mich feministisches Empower-

ment“, erklärt Ella. Negatives Feedback auf das Wort kennt sie gut, doch da kann sie drüberstehen.

Zwei bis drei Gigs spielt Ella im Monat. „Auflegen ist mehr Passion als Beruf, ein Nebenerwerb“, erzählt die Künstlerin. Wer ihr auf Social Media folgt, sieht schnell: Da steckt Arbeit drin. Wie sie das trotz einer vollen Stelle an der Uni schafft? „Wenig Schlaf ist aktuell die Lösung“, erzählt Ella und lacht.

Die Frau, die sich nach ihrem Spitznamen und ihrem Lieblingseis benannt hat, ist seit sieben Jahren aktiv. 2016 moderierte sie eine Musiksendung fürs PH-Radio. Dann kam die Anfrage, ob sie in zwei Tagen für einen DJ einspringen kann. „Ich wusste nicht, wie es geht, aber habe mir das Auflegen in zwei Nachtschichten draufgeschafft“, erinnert sich Ella. „Ich hatte nichts zu verlieren – und es lief nicht schlecht“, erzählt sie. Sie war angefixt.

„Ich habe irgendwie ein Gespür für Musik, fühle es“, sagt Ella. Smoothe Übergänge zwischen den Songs seien wichtig, entscheidend findet sie als DJ aber die Trackauswahl. Durchgeplante Sets sind dabei selten: „Ich bin Improvisator, wechsle auch mal spontan das Thema.“ Lange legte sie so im Räng auf. Auch im Hans-Bunte oder beim CSD sorgt sie für Stimmung. Ihre mehr als 7000 Tracks im Reper-

toire sind „alle hier drin“, sagt sie und zeigt auf ihren Kopf. Am Ende ihrer Sets spielt sie als augenzwinkernde Selbstreferenz meist einen Remix von France Galls „Ella elle l’a“ oder von Rihannas „Umbrella“.

Weibliche Vorbilder hat sie lange vermisst: „Ich habe mich gefragt, wo die anderen Girls oder Finta-Personen sind.“ Als Frau musste sie sich beweisen: Kritische Veranstalter fragten ab, was ein Cinch-Kabel ist, „und der männliche Kollege bekommt einen Cuba Libre“. Beurteilt worden sei sie oft nach dem Äußeren. Heute sei das mit einem gewissen Standing leichter.

Einer ihrer Kollegen und Freunde ist Alex „Käptn“ Hässler. Der DJ ist unter anderem Organisator des Ahoii Clubs. Er schätzt Ella als super zuverlässig. „Sie macht den Job top professionell und mit Leidenschaft.“ Wie sie das alles nebenberuflich schaffe, gibt Hässler Rätsel auf. „Wahnsinn“, schwärmt der DJ.

Für Ella ist die Musik längst keine Nebensache mehr. Der Wunsch ist, auch international aufzutreten. Und das „Fusion“-Festival am Müritzsee wäre ein Traum. Ihren Künstlernamen hat sie bereits im Perso stehen.

von Till Neumann Legt auf und kämpft für mehr Vielfalt: DJ Ella Stracciatella aus Freiburg
Vorbilder hat sie lange vermisst MUSIK MAI 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 53
Foto: © Klaus Polkowski
Weibliche

„Bands eine Chance geben“

TAUSENDSASSA

CHAOS (EP)

3 FRAGEN AN RHINO RAINBOW

Konzerte, Jams und experimentelle Kunst: Der Unicorn Music Store in Freiburg hat zwei Veranstaltungsreihen gestartet: Robert Kirch (58) alias Rhino Rainbow erzählt im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann, was sich hinter den „Unicorn Sessions“ verbirgt – und wem das helfen soll.

Herr Kirch, was ist mit den Sessions geplant?

Jeden Dienstagabend steigen im Ruefetto Konzerte bei den Unicorn Sessions. Es gibt eine Opening Band, die so lange spielen kann, wie sie möchte. Danach ist eine Jam. Es gibt von allem ein bisschen: Jazz, Pop, Heavy Metal oder Singer-Songwriter. Außerdem gibt es jeden ersten Freitag im Raum der Kreativpioniere die crossmedialen „Unicorn Sessions – Experimental“.

Was verbirgt sich dahinter?

Das ist ein ähnliches Format wie im Ruefetto, aber offener. Auch da gibt’s ein Opening-Konzert: Zum Start hatten wir eine improvisierte Musik- und Tanz-Performance mit Videos. Alle Kunstrichtungen sind willkommen, vielleicht wird auch mal live gemalt. Wer Interesse hat mitzumachen, kann uns anschreiben.

Der Plan ist, ein neues Kulturangebot zu schaffen?

Ja. Wir hatten an unserem ehemaligen Standort an der Belfortstraße eineinhalb Jahre lang Konzerte, Ausstellungen und Tanz-Performances, wollten dort auch Proberäume einrichten. Aber die Stadt hat das dichtgemacht. Jetzt wollen wir lokalen Bands und Künstlern in Freiburg eine Chance geben, sich zu zeigen. Leuten, die noch nicht so bekannt sind, es aber draufhaben.

Entspannt und lyrisch

(miwi). Chaos heißt die die neue EP von Tausendsassa. Dahinter verbirgt sich der Freiburger Rapper Ansgar Hufnagel. Acht Songs bieten den Hörer·innen eine Mischung aus positiven und nachdenklichen Songs. Es geht um Liebe, Selbsterkenntnis und die kleinen Widerstände des Alltags. Dabei sticht der Song „Plus eins“ klar hervor. Die Kombination aus dem groovigen Rap und der Samtstimme von Lisa Akuah erzeugt eine fast märchenhafte Atmosphäre.

Die positiven Vibes ziehen sich selbst durch die kritischeren Songs. Das garantiert gute Laune. Wie schon auf dem Soloalbum „abersowasvon“ zeigt sich Tausendsassa als selbstbewusster, starker Musiker. Entspannte Beats und lyrische Texte sind die Stärken der EP. Weitere Features mit Lisa Akuah wären wünschenswert. Obwohl die Platte „Chaos“ verspricht, ist der rote Faden da: beim Style und bei den Texten. Der Nachteil: Kontrastreiche und musikalisch mutige Tracks fehlen hier.

Tausendsassa ist auch Slammer, Poet, Moderator, Kabarettist und macht Improtheater. Das Multitalent hat sein Rap-Soloalbum „Abersowasvon“ im Frühjahr 2022 veröffentlicht. Der Sound erinnert an eine moderne und chillige Version des Deutschraps der 90er. Mit einer ordentlichen Portion Selbstironie.

Keine Schubladen

(pl). Sie haben sich Zeit gelassen. Rund zehn Monate nach dem ersten Vorboten ist die EP „Mess in Heaven“ des Freiburger Quintetts Raw Sienna jetzt komplett. Darauf sind sechs Songs mit verschiedenen Spielarten der Rockmusik zu hören.

Die Tracks haben Raw Sienna seit Juli peu à peu veröffentlicht. Als ein zentrales Thema ihrer meist interpretationsoffenen Texte bezeichnet Sänger Fabian Sommerhalter mentale Gesundheit. Deutlich wird das vor allem auf dem emotionalen „Kill the Noise“. Schon vor Release der Single erklärte die Band über Social Media, dass die im Lockdown entstandene Nummer von Depressionen und mentaler Gesundheit handelt.

Musikalisch lässt sich die Band kaum einordnen. „Firesky“ kommt düster und hymnisch daher, dagegen geht „Soak up some Lights“ direkt ins Ohr und in die Beine. „Game“ hat ein knallendes Riff und erinnert an klassischen und bluesinspirierten Rock der 1970er-Jahre, „Collapse“ wirft mit einem mehr als zweiminütigen Intro und dem breiten Soundgewand das Kopfkino an. Manchen dürfte der rote Faden der EP fehlen. Wer dagegen einfallsreiche Gitarrenmusik abseits des Schubladendenkens schätzt, dürfte sich mit „Mess in Heaven“ kaum langweilen.

MUSIK
Deutsch-Rap
Foto: © Privat
latte desMon a st 54 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2023
RAW SIENNA MESS IN HEAVEN (EP) Alternative-Rock P

Warm gegen kalt

(tln). Der Freiburger Singer-Songwriter Sebastian Hesselmann ist gerade durch die Republik getourt. Mit seiner neu gegründeten Band um Alisa Merker (Gitarre), Philipp Nosko (Drums) und Niclas Egerer (Bass) hatten die vier auch die Single „Am Ende jeder Tage“ im Gepäck.

Das Video zum neuen Song ist unter anderem in Berlin entstanden, doch der Track nimmt mit zum Eiffelturm. Hesselmann singt zu einem nervös-treibenden Riff von eisigen Momenten, Schatten und Trümmern. Und schon verlassen sie Paris am Morgen in aller Eile. Denn die Lichter sind ein Schatten ihrer selbst.

Poetisch ist das, ein Track zum Zuhören und Reinfühlen. Aber im Chorus auch zum Rumhüpfen und Mitsingen. „Ungleiche Gleichheit bleibt“ heißt es da. Düster kommt das daher. Doch da schwingt auch Hoffnung mit, wenn das Ganze in der Mitte aufbricht. Gezupfte Saiten versprühen Hoffnung, bis Hesselmann mit Gast-Sänger Danny McClelland von Redensart die Schatten bekämpft und aus den Trümmern etwas aufbaut.

Fast fünf Minuten sind lang für einen Song. Aber „Am Ende jener Tage“ ist feinsinnig getextet und abwechslungsreich arrangiert. Das Feature gibt dem rockigen Ende extra Drive. Die Band setzt hier kreative Wärme gegen kalte Zeiten. Chapeau.

Beißend ironisch

(pl). Punk und Politik – die Verbindung hat zu vielen Krachern beigetragen: Die Ärzte haben mit „Schrei nach Liebe“ eine Hymne gegen Nazis geschaffen, Green Day die Ära Bush mit „American Idiot“ angeprangert. Auch die Freiburger von Das Aus der Jugend halten mit ihrer politischen Einstellung nicht hinterm Berg – und widmen Finanzminister Christian Lindner eine beißend ironische Single.

Das Aus der Jugend hat sich 2022 im Freiburger Haus der Jugend gegründet. Mit ihrem Debüt „Porsche fahrn mit Christian“ formuliert das Trio Kritik an Lindner. Textlich kommt das mal zynisch-humoristisch („Dein bester Freund er ist, wenn du bist ein Lobbyist“), mal gekonnt plakativ („Porsche fahrn mit Christian, ohne Tempolimit, ohne Verstand“) daher. Natürlich webt das Trio Lindner-Zitate der Marke „Probleme sind nur dornige Chancen“ ein.

Mit Schlagzeug, Gitarre, Bass und Gesang – inklusive Mitgrölpart –peitscht die Nummer im Refrain ordentlich nach vorne. Musikalisch bleibt zwar nicht viel hängen, trotzdem macht das Debüt Lust auf die nächste Single. Die kommt im Juli, ihr Titel ist schon bekannt und nicht weniger konfrontativ als der Vorgänger: „Stehblues im Wasserwerferregen“. Ebenfalls im Juli spielt die Band auf dem ZMF.

... zum Mai

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Wonnemonat Mai – dass wir nicht lachen. Rain in May? Wenn’s unbedingt sein muss, okay, Herr und Frau Mai-er, handelsüblicher Mai-s oder der Mai-n – kann man alles irgendwie noch durchwinken, aber bei Vanessa Mai, da müssen wir dann doch einschreiten.

Schlagerstampf mit hohem Fremdschämfaktor, eigentlich nichts Besonderes, gerade deswegen aber wohl besonders beunruhigend und besorgniserregend. Um diese Alliteration gebührend fortzusetzen, setzen wir mit Backnang noch eins obendrauf. Dort nämlich ist die Dame einst als Vanessa MandekiĆ geboren und hat sich dann später ihren Geburtsmonat einfach als Künstlernamen zu eigen gemacht, klingt auf jeden Fall besser als Februar oder November, führt aber völlig in die Irre.

Frau Mai ist schwer beizukommen, obwohl die Beweislast hoch ist, von fragwürdigen Bühnen-Outfits mal ganz abgesehen. Textauszüge dürfen wir aus ermittlungstaktischen Gründen nicht preisgeben, aber komm, was soll’s:

Und wenn ich sterb', ich sterb' für dich oh ich sterb' für dich heut' Nacht, und wenn ich wein, ich wein um dich, oh ich wein' um dich heut Nacht, und wenn ich denk, ich denk an dich, oh ich denk' an dich heut Nacht, es tut so weh ganz ohne dich!

Totstellen wird wohl nicht helfen. In diesem Sinne, unsterblich grüßt für die Geschmackspolizei

Ralf Welteroth

KOLUMNE HESSELMANN
ENDE
Indie-Pop
AM
JEDER TAGE
DAS AUS DER JUGEND PORSCHE FAHRN MIT CHRISTIAN Punk

Feuerrede vom Rektor

NEUERSCHEINUNG: HEIKO WEGMANN ÜBER DIE BÜCHERVERBRENNUNGEN IN FREIBURG

Am Abend des 10. Mai 1933 brannten auf den öffentlichen Plätzen vieler deutscher Städte Scheiterhaufen: In einer von oberster Propagandastelle konzertierten Aktion „wider den undeutschen Geist“ verbrannten Studenten und andere Angestachelte in theatralischen Inszenierungen Bücher, Zeitungen und andere Schriften, die die neuen Machthaber als schädlich erachteten.

Zuvor hatten sie Büchereien und Buchhandlungen gestürmt, um sie „von Schmutz und Schund zu säubern“. Dabei hatten sie sämtliche Literatur beschlagnahmt, die dem Weltbild des gerade drei Monate vorher errichteten NS-Regimes nicht entsprach. Auch in Freiburg gab es solche Beschlagnahmungen – aber an diesem Abend wohl kein Feuer.

Dunkle Wolken über Freiburg von Heiko Wegmann

Nationalsozialistische Bücherverbrennungen, „Säuberungen“ und Enteignungen

Verlag: Regionalkultur, 2023

200 Seiten, broschiert

Preis: 12,90 Euro

Präsentation & Lesung:

10. Mai, 19 Uhr, Stadtbibliothek

Stadtrundgang:

12. Mai & 14. Juni, 17 Uhr, Treffpunkt: Rathausplatz

Zumindest kein größeres, wie der Freiburger Historiker Heiko Wegmann in seiner soeben erschienenen, gründlich recherchierten Forschungsarbeit „Dunkle Wolken über Freiburg – Nationalsozialistische Bücherverbrennungen, ‚Säuberungen‘ und Enteignungen“ schreibt. Zwar sei am 8. Mai in den Lokalzeitungen eine Verbrennung angekündigt worden – auf dem Platz vor der damaligen Universitätsbibliothek. Aufgerufen hatten die Ortsgruppen der Deutschen Studentenschaft und des Kampfbunds für deutsche Kultur, die damit „den geistigen Kampf gegen die marxistisch-jüdische Zersetzung des deutschen Volkes bis zur Vernichtung“ propagierten und die Bevölkerung aufforderten, ihren Beitrag zu dieser „deutschen Sitte“ zu leisten.

Doch Berichte über den Vollzug der geplanten Aktion fand Wegmann an keiner Stelle. Und die darauf beruhende Annahme, dass zumindest nichts erwähnenswert Spektakuläres geschehen sei, habe „zu einer Legende geführt“, die sich „bis heute hält“: nämlich, dass es im Unterschied zu anderen Universitätsstädten in Freiburg zu keiner Zeit verbrannte Bücher gegeben habe.

Die Begründungen reichten vom Regenwetter über die angebliche Schwäche der NSDAP und ihrer Anhängsel bis zu der „steilen These“, dass der seinerzeitige Uni-Rektor Martin Heidegger die Verbrennung verboten habe. Das hatte der Philosoph, der am 1. Mai 1933 Parteimitglied wurde, 1966 in einem Interview mit dem „Spiegel“ behauptet. Allerdings konnte er dafür keine Beweise vorlegen.

Wegmann hat nun herausgefunden, dass es sehr wohl Buchverbrennungen gab und dass die beteiligten Akteure, darunter die Städtische Kommission gegen Schmutz und Schund sowie die Hitlerjugend, bei der Verfolgung ihrer Ziele „einen starken Willen und ungeheure Hartnäckigkeit zeigten“ und verfemte Schriften sogar mehrmals öffentlichkeitswirksam ins Feuer warfen. Nachweisen kann er mindestens zwei lange übersehene Bücher-Feuer: am 17. Juni auf dem nicht weit vom jüdischen Friedhof entfernten, auf dem heutigen Messegelände gelegenen damaligen Exerzierplatz – in Anwesenheit von OB Franz Kerber. Eine weitere Verbrennung gab es beim Sonnwendfeuer am 24. Juni im Universitätsstadion an der Dreisam, wo Heidegger eine pathetische Rede auf die Flamme hielt, die „uns den Weg weise, von dem es kein Zurück mehr gibt“.

von Erika Weisser Foto: © Ingo Schneider
56 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2023
Hat gründlich recherchiert und räumt auf mit Legenden: der Freiburger Historiker Heiko Wegmann
LITERATUR

DIE NETANJAHUS

DAS RECHT DER ERDE

DER LETZTE SOMMERTAG

Ingo Herzke

Verlag: Schöffling & Co., 2. Aufl. 2023

288 Seiten, gebunden

Preis: 25 Euro

Wie eine biblische Plage

(ewei). Ende der 1950er-Jahre gehört Ruben Blum als Experte für Steuergeschichte zum Lehrkörper der fiktiven Corbin-University im Staat New York. Er stammt aus einer schon längst vor der Flucht in die USA assimilierten jüdischen Familie – und tut alles dafür, mit Ehefrau Edith und Tochter Judith als „ganz normale amerikanische Kleinfamilie“ zu gelten.

Doch er kommt aus der Ambivalenz „zwischen dem amerikanischen Zustand des Wählenkönnens und dem jüdischen Zustand des Erwähltseins“ nicht heraus: Seine noch lebenden, überlebenden Vorfahren pochen auf das eine, die ihn umgebende Gesellschaft und die Kollegen lassen das andere nicht zu.

Als sich der Historiker Ben-Zion Netanjahu auf einen freien Lehrstuhl bewirbt, muss er ihn betreuen – der einzige Jude auf dem Campus soll sich um „seinesgleichen“ kümmern. Zwar sieht Blum das ganz anders: Mit dem „obskuren Zionisten, der jüdische Traumata in israelische Propaganda verwandelt“, verbindet ihn nichts.

Doch er fügt sich. Und bereut es bald. Denn zum Antrittsgespräch bringt Netanjahu „die ganze Mischpoche“ mit: drei ungehobelte Söhne, die gleich einer biblischen Plage lärmend und marodierend ins Haus einfallen und eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Mittemang dabei: der damals zehnjährige Benjamin.

von Étienne Davodeau

Verlag: Carlsen, 2023

216 Seiten, Hardcover Preis: 27 Euro

Der Erde so nah

(jp). Die Tropfsteinhöhle Pech Merle im Südwesten Frankreichs ist für ihre Höhlenmalereien berühmt, die Sapiens vor Tausenden von Jahren angefertigt haben. Im Norden Frankreichs, im Örtchen Bure, planen andere Sapiens, Atommüll unter der Erde zu begraben, der mehr als 100.000 Jahre für Mensch und Umwelt gefährlich bleiben wird.

Étienne Davodeau sieht einen Zusammenhang zwischen beiden Orten – und wandert kurzerhand von Süd nach Nord. Er will der Frage nach-gehen, wie es um die Beziehung des Menschen zum Planeten und seiner Erde bestellt ist.

Vier Wochen – vom 11. Juni bis 11. Juli 2019 – ist der Autor und Illustrator unterwegs. In Form einer Comicreportage hat er die Tour quer durchs malerische Frankreich festgehalten. Einen Teil der Strecke geht er allein, teils wandert er in Begleitung: Experten aus der Agrarökonomie, der Energiewirtschaft und gar ein Sprachwissenschaftler unterstützen ihn in der Beantwortung der Frage, wie das Verhältnis des Menschen zu seinem Planeten und dem Boden, auf dem wir alle stehen, eigentlich aussieht.

Gespräche mit Menschen vor Ort und Umweltschützern sind ebenfalls festgehalten und lassen eine bilderreiche, multiperspektivische Erzählung entstehen, in der die Themen Kultur, Umwelt und Wissenschaft miteinander verzahnt sind.

von Marc Hofmann Verlag: Kirschbuch, 2023

220 Seiten, Hardcover

Preis: 16.50 Euro

Welt in Scherben

(ewei). Die Sommernachtsparty, die alles veränderte, liegt 30 Jahre zurück. Niels war damals 19, hatte gerade sein Abi in der Tasche – und das Gefühl, dass ihm die Welt offenstünde. Doch dann lag sie innerhalb von Sekunden in Scherben.

Kurz darauf verließ er das Dorf, in dem er aufgewachsen war. Er wollte nur noch weg – so weit wie möglich. Und nie wieder heimkommen. Diesen Vorsatz hat Niels, der sich später als Autor und Musiker in Berlin einen wenn auch nicht allzu berühmten Namen machte, in all den Jahren nie gebrochen. Selbst seinen Vater hat er nach dem überstürzen Aufbruch nur noch einmal getroffen, auf neutralem Terrain. Jedoch vergeblich: zu einer klärenden Aussprache über die damaligen Ereignisse kam es nicht.

Doch nun ist der Vater gestorben; Niels kehrt zurück ins Markgräflerland, kümmert sich um die Beerdigung – und trifft seine alten Freunde. Auch sie scheinen noch in jener Nacht festzustecken, in der sie sich zum letzten Mal sahen. Nach jahrelangem Verdrängen lassen sie sich widerwillig auf Gespräche über die Party ein – und über ihre eigenen Verstrickungen in deren tragische Wende, die der Freiburger Autor Marc Hofmann erst am Ende des Romans benennt.

Lesung: 12. Mai, 19.30 Uhr, Buchladen Rainhofscheune Kirchzarten

FREZI von Joshua Cohen Übersetzung: REZI
MAI 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 57
REZI

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.