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Die Presse Unabhängige Tageszeitung für Österreich Wien, am 19.03.2021, 312x/Jahr, Seite: 30 Druckauflage: 61 480, Größe: 87,09%, easyAPQ: _ Auftr.: 8420, Clip: 13452067, SB: Ischgl
Gastkommentar. Die Furcht vor den Mutanten führt zu Fehlleistungen auf allen Ebenen. Drei Beispiele aus der Region Tirol.
Die Mutation der Gesellschaft VON BARBARA DIRHOLD
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ars-CoV-2 begleitet uns seit mehr als einem Jahr. Nach initialer Schockstarre verfiel Europa in einen weitgehend unreflektierten Lockdown. In ausführender Rolle ist es besser alles, als zu wenig zu tun, die Sinnhaftigkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen wurde aber kaum offen diskutiert. Im März 2021 hat sich nichts geändert, die Welt befindet sich weiterhin im Vernunftpanikmodus – derzeit getriggert durch die Mutanten. Evolutionsbiologisch mutiert jedes Lebewesen einschließlich des Menschen. Ein Coronavirus unterliegt pro Monat zwei punktuellen Veränderungen seines Genoms. Entsprechend finden sich ausgehend des als Wuhan-Wild-Typ bezeichneten U-Coronavirus inzwischen weltweit mehr als 15.000 Genotypen, deren spezifische Eigenschaften wenig analysiert sind. Nach Charles Darwin werden sich jene durchsetzen, die sich am leichtesten verbreiten. Die Welt blickt konzentriert auf zwei Varianten, die britische und südafrikanische, quasi die VIPs unter den Mutanten. Dass sie tatsächlich gefährlicher sind als alle anderen, ist weniger gesichertes Wissen als sensationsheischende Spekulation. Die Furcht vor ihnen führt zu Fehlleistungen auf allen Ebenen, die Angst vor dem Unbekannten bedingt die Parallelmutation der Gesellschaft. Offener Diskurs bleibt aus Drei Beispiele aus der Europaregion Tirol: Am 4. 2. 2021 tritt eine führende Nordtiroler Virologin vor die Medienvertreter und fordert die Abschottung (Nord)-Tirols, da die südafrikanische Variante mehrfach nachgewiesen wurde. Und inszeniert diesmal nicht Ischgl, sondern ein grenzübergreifendes Galtürereignis menschlicher und ökonomischer Superlative. Stimmen anderer Experten werden nicht wahrgenommen, offener wissenschaftlicher Diskurs bleibt aus. Bayern, Österreich und Italien schließen wieder innereuropäische Gren-
zen, zerschlagen funktionierende Wirtschaftsräume und stürzen das Leben Tausender ins Chaos. Der infektiologische Sinn der Maßnahmen bleibt einen Monat nach ihrem Vollzug unsichtbar. In Südtirol werden bei geschlossenen Grenzen Sars-CoV-2 positiv getestete Lkw-Fahrer fernab der Heimat ohne Sprachkenntnisse oder rechtlichen Beistand in Begleitung eines Sanitäters zehn Tage zwangsinterniert. Oder: In Proben aus der Gemeinde Schlanders (ital. Silandro) wird die südafrikanische Mutante nachgewiesen. Abgesperrt wird die ca. 100 km östlich gelegene Gemeinde Villanders (ital. Villandro). Es handelt sich um einen Tippfehler, der aus Hast und Panik erst hinterfragt wird, als der Bürgermeister von Villanders nachrecherchiert. In Osttirol findet man sich in einem Konflikt zwischen medizinischer Realität und politischen Interessen wieder. Der lokal wie international medizinisch und wissenschaftlich praktizierende Virologe wird seitens der lokalen Entscheidungsträger, ohne fachlich Begründung, mitten in der Pandemie seines Amtes enthoben. Stimmen, die sich seiner einsetzen, werden mit Kündigung oder zivilrechtlicher Belangung sanktioniert. Unter den Coronatoten befindet inzwischen auch Voltaire: „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“ In Osttirol mit 50.000 Einwohnern zirkulieren auf 2000 Quadratkilometern und unter 200 Erkrankten elf Genotypen, darunter die britische und tschechische Variante sowie neun wahrscheinlich lokale Varianten und der ursprüngliche Wildtyp – ohne signifikanten Impact auf das Gesundheitssystem, aber mit signifikantem Social Health Impact durch die Maßnahmen. Das Virus passt sich evolutionsbiologisch an den Wirt an. Und wir? Barbara Dirhold (*1984) ist gebürtige Deutsche und seit Jahren als leitende Notärztin in der Europaregion Tirol tätig. E-Mails an: debatte@diepresse.com
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