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Die Furche Die österreichische Wochenzeitung Wien, am 06.05.2021, Nr: 18, 51x/Jahr, Seite: 7 Druckauflage: 14 425, Größe: 63,34%, easyAPQ: _ Auftr.: 8420, Clip: 13554424, SB: Ischgl
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s waren nur wenige Minuten, aber Bernhard Tilgs Name blieb fortan mit ihnen verbunden: Der Tiroler Gesundheits-Landesrat (ÖVP) war am 16. März 2020 in der „ZIB 2“ zu Gast, um über die politische Verantwortung für das Krisenmanagement im Tourismus-Hotspot Ischgl zu sprechen. Ein positiv getesteter Kellner im Après-SkiLokal „Kitzloch“ , gefolgt von Abreise-Chaos hatten Ischgl zum Dreh- und Angelpunkt des Virus gemacht. Hatten die Verantwortlichen versagt? „Die Behörden haben alles richtig gemacht“, erklärte Tilg wieder und wieder. Heute, 14 Monate später, hat die Ischgl-Expert(inn)enkommission die Lage längst eingeordnet. Zwar sei es seitens des Landes damals zu keinem „Versagen“ gekommen, wohl aber zu „gravierenden Fehleinschätzungen“. Doch Tilg blieb im Amt. Bis Dienstag, als er nur kurz nach dem Rücktritt von Wirtschaftslandesrätin Patrizia Zoller-Frischauf (ebenfalls ÖVP) den Hut nahm. Der 53-Jährige erklärte, nicht weiter in der Politik bleiben zu wollen. Über einen Zusammenhang mit einer bekannt gewordenen Affäre um fehlerhafte PCR-Tests wird spekuliert. Wer trägt die Verantwortung? Diese Frage wurde zentral im vergangenen annus horribilis der Pandemie – und der Fall Tilg wurde zu einem Anschauungsbeispiel dafür, wie man sie eher nicht beantworten sollte. Politikerinnen und Politiker sind nicht an allem schuld, aber „alles richtig
machen“ kann niemand – nicht in „normalen“ Zeiten und schon gar nicht in einer Phase des globalen Ausnahmezustands. Verantwortungsbewusstsein und Selbstkritik sind hilfreich in schwierigen Tagen, in denen es um die kostbare Ressource Vertrauen geht. Umso interessanter, wie der Rückblick auf die politischen Verantwortlichkeiten des Jahres 2020 ausfällt, der im jüngst erschienenen „Jahrbuch für Politik“ der Politischen Akademie der ÖVP nachzulesen ist. „Ischgl hat sich und Tirol verändert“, meint etwa Peter Nindler von der Tiroler Tageszeitung in seiner Analyse – und wirft nicht nur einen Blick auf die Wechselwirkungen zwischen Landes-Politik und Touristikern „zwischen Vision und Maßlosigkeit“, sondern auch auf das Selbstverständnis der Einheimischen. Neun von zehn hätten die Berichterstattung als „nicht ausgewogen“ empfunden. Alles eine Frage der Perspektive. Wie ausgewogen und verantwortungsvoll die Bundespolitik in der Krise agierte, wird im Jahrbuch höchst unterschiedlich eingeschätzt. FURCHE-Kolumnist Wolfgang Mazal etwa kritisiert, dass das Kriseninstrument der Kurzarbeit zwar die ökonomischen Folgen der Pandemie für hunderttausende Menschen gemildert habe, es aber nicht nur verfassungsrechtliche Probleme gebe, sondern auch eine Ungleichbehandlung zwischen Kurzarbeitenden und Arbeitslosen. Politikberater Thomas Hofer sieht sich generell in einem „Land der Hemmer“ und ortet eine Debatte, „die ohne den Faktor Angst“ nicht auskommt.
„Die Behörden haben alles richtig gemacht“, meinte Bernhard Tilg zum Fall Ischgl. Nun ist er zurückgetreten. Wie ganz Österreich in diesem annus horribilis agierte, lässt das „Jahrbuch für Politik“ Revue passieren. Eine kritische Lektüre.
Ischgl, Ibiza und zurück An einer „Komunikation auf Augenhöhe mit den Bürgerinnen und Bürgern“ seien die politischen Kommunikatoren in der Covid-Krise „allesamt“ gescheitert. „Es gab zu viel PR und zu wenig Substanz“, konkretisierte Andreas Koller von den Salzburger Nachrichten – und fordert für die Zeit nach der Pandemie einen „Österreichkonvent, dem die klügsten Köpfe angehören.“
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Foto: Rainer Messerklinger
Von Doris Helmberger
Deutlich schärfer fallen die Widersprüche beim Thema „ein Jahr Türkis-Grün“ aus. Während Politische-Akademie-Präsidentin Bettina Rausch von „Regierungsarbeit in echter Partnerschaft, mit gegenseitiger Wertschätzung“ spricht, ortet die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures ein „Zweckbündnis ohne Zweck“ sowie „wenig Animo für parlamentarischen Diskurs und Kontrolle“ – womit sie auch den „Ibiza“-Untersuchungsausschuss meint. Diesen kritisiert wiederum Andreas Khol, ehemals Nationalratspräsident und wie Rausch Mitherausgeber des Jahrbuchs, heftig. Der Ausschuss gehe einen „abschüssigen Weg zur Selbstbeschädigung des Parlaments“. Einmütiger sind die Meinungen zu Österreich als Mitglied der „Frugalen Vier“. Die Regierung habe hier, wenn schon nicht alles, dann doch viel richtig gemacht, so der Tenor. Kritik an mangelnder europäischer Solidarität fehlt. Dafür formuliert Paul M. Zulehner ein „Plädoyer für ein ,politisches Christentum‘“. Und Alexander Purger dekliniert das unschöne Jahr ganz am Ende in einem „ABC“ durch. Unter „V“ kommt er auf „Verschwörungstheorie“. „Vertrauen“ kommt dann hoffentlich 2021.
Lesen Sie dazu auf furche.at auch „Corona: Die Kitzloch-Dämmerung“ (16.4.2020) von Stefan Schocher sowie „Ein Jahr Corona: Ischgl in der Einsamkeit“ (27.1.2021) von Valentina Dirmaier.
Jahrbuch für Politik 2020 von Andreas Khol, Stefan Karner, Wolfgang Sobotka, Bettina Rausch, Günther Ofner (Hg.) Böhlau Verlag 2021 596 S., TB, € 47,–
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