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Wiener Zeitung Österreichische Tageszeitung seit 1703 Wien, am 18.07.2020, 260x/Jahr, Seite: 16 Druckauflage: 43 000, Größe: 59,94%, easyAPQ: _ Auftr.: 8420, Clip: 13012943, SB: Ischgl

Steuerungsdefizite in der Covid-19-Politik In der Krise werden Stärken und Schwächen von Personen und Institutionen besser erkennbar. Eine Analyse der Erfolge, Risiken und Defizite des Handelns aus der Steuerungsperspektive. Gastkommentar von Helfried Bauer und Bruno Rossmann

Am 12. Jänner übermittelt China die Sequenz des Genoms des neuen Coronavirus an die Weltgesundheitsagentur (WHO). Es folgt ein fachlicher Austausch von Seuchenforschern, Medizinern und Gesundheitsbehörden. Es gibt Risikoabschätzungen der EU und die Warnung der WHO vor einer „internationalen Notlage“. Die EU-Kommission schlägt im Jänner eine gemeinsame Beschaffung von Schutzkleidung vor, da in China verstärkt Spitalspersonal infiziert wird. Klinikvorstände tauschen sich informell über Vorsorgen im Spitalsbereich aus. Derweil ist die Politik mit sich selbst beschäftigt. In der „Wiener Zeitung“ vom 23./24. Mai heißt es: „Es gibt keine vernetzte Diskussionsstrategie (...) Politik redet mit Politik, bestenfalls mit Behörden. Behörden reden aber auch nur mit Behörden.“ Der ungenügende Informationsaustausch bedeutet nicht nur fehlendes Sammeln von Fakten und deren Aufarbeitung. Es verhindert möglichst einvernehmliches Einschätzen der Problemlage, möglicher Risken und des Handlungsbedarfs zwischen Behörden und politisch Verantwortlichen. Mitte Februar registriert man in weiten Teilen Europas eine steigende Zahl von Infektionen. Aus Skandinavien und Deutschland liegen den österreichischen Behörden Nachrichten über infizierte Tirol-Urlauber vor. Ein Innsbrucker Hotel wird wegen eines Infektionsfalls am 25. Februar sofort gesperrt. In Ischgl und anderen Tourismuszentren dauert es dagegen mehr als zwei Wochen, bis notwendige Schließungen nach dem Epidemiegesetz verfügt und umgesetzt werden. Eine Weisung von Minister Rudolf Anschober an den Tiroler Landeshauptmann nach raschem Vollzug in den Skigebieten wäre angebracht gewesen. „Fachbeirat Corona“ und „Nationaler Krisenstab“ Im Gesundheitsministerium wird erst Ende Februar ein „Fachbeirat Corona“ eingerichtet, bestehend aus Virologinnen, Ärzten und anderen Experten; im Innenministerium setzt man einen „Nationalen Krisenstab“ ein, in dem mehrere Ministerien und Länder vertreten sind. Generell sind sich die Experten einig, dass die Ausbreitung des Virus verlangsamt werden muss und ältere Personen geschützt gehören. Altenheime sind ein spezielles Problemfeld. Mitte März kommt der Lockdown. Im Fachbeirat gibt es dazu verschiedene Sichtweisen und Ratschläge, die Bundesregierung entscheidet jedoch schnell und orientiert sich dabei am Beispiel anderer Staaten (etwa Israel, Schweiz). Die politische Steuerung funktioniert – nicht zuletzt mit Hilfe der „Angstbotschaft“ des Kanzlers über die besondere Gefährlichkeit des Virus. Der Beschluss des Lockdowns im Nationalrat erfolgt einstimmig; die Länder stellen sich geschlossen hinter die Bundesregierung. Nach Umfragen erhält diese Politik von der Bevölkerung viel Zustimmung. Die Steuerung der Bekämpfung des Virus im föderalen System zeigt Stärken und Schwächen, worauf der Verfassungsdienst des Landes Kärnten in der „Wiener Zeitung“ (22. Mai) hinweist: „Der Staat (kann) wirksame Abhilfe gegen Bedrohungen des Le-

bens schaffen (...), dabei müssen andere Grundrechte im notwendigen und zielführenden Maß zurückstehen. Eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit schließt die konsequente Suche nach gelinderen Mitteln ein (...). Ein bundesweites Vorgehen ist bei einer bloß regionalen Problemlage nicht erforderlich (...), eine Lockerung (wird) in Betracht kommen, soweit allgemeine Verbote im regionalen Kontext überschießend wären.“ Es hängt also von der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ab, ob bundesweit einheitliche Maßnahmen ergriffen werden müssen oder ob regional differenziert werden kann. Unterschiedliche Handlungsweisen Zur Eindämmung von regionalen Infektionshäufungen in Skigebieten durch Quarantäne können die Länder unterschiedlich handeln. Ob und nach welchen Kriterien solche strengen Prüfungen angestellt wurden, ist kaum bekannt. Lediglich einzelne Fakten weisen darauf hin, dass unterschiedlich streng geprüft worden ist, was zu unterschiedlichen Handlungsweisen führte: So wurde in Heiligenblut eine strenge Quarantäne verfügt, während aus Tiroler und Salzburger Gemeinden mit deutlich mehr Infizierten Touristen und Saisonkräfte vor der Quarantäne ausreisen durften. Aus demokratiepolitischer Sicht wäre es wünschenswert, regional unterschiedliches Vorgehen auf seine Berechtigung zu prüfen. Eine Kontroverse zwischen Politikern des Bundes und der Stadt Wien hat gezeigt, dass die verwendeten fachlichen Grundlagen zur Prüfung und die Art der laufenden Evaluierungen zu unterschiedlichen politischen Schlussfolgerungen und Maßnahmen führen können. Häufig verwendete Indikatoren wie die „effektive“ beziehungsweise. die „Basis-Reproduktionszahl“ ändern sich in Abhängigkeit von den Testungen und verlangen kundiges Interpretieren; andere Daten, etwa zur Auslastung der Intensivstationen, erscheinen zudem nicht immer verlässlich. Demokratiepolitisch bedenklich sind jedenfalls die übertrieben oder teils unrichtig kommunizierten Botschaften betreffend einzelner Einschränkungen von Menschen- und Freiheitsrechten sowie über die Hilfspakete und deren Nachbesserungen.

Anstelle eines politischen Diskurses setzt man auf „Message Control“. Eine weitere Schwäche der Regierenden betrifft das Abwägen und die Transparenz von Wirkungen der geplanten Maßnahmen auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche. Seit Jahren ist im Bundeshaushaltsrecht und bei einigen Ländern die Wirkungsorientierung als Grundprinzip staatlicher (Budget-)Planung festgeschrieben. Das Ziel des Handelns ist dann nicht etwa das Herunterfahren oder Absperren, sondern die konkret beabsichtigte Wirkung; diese gilt es offenzulegen und darüber Rechenschaft zu leisten. Das Verwechseln von Zielen und Mitteln hat unter anderem zur Folge, dass die Politik „Kollateralschäden“ ausklammert. So wäre etwa bei gesundheitspolitischer Abwägung das Eindämmen der Zahl der Infektionen bei der Risikogruppe der Alten den zu erwartenden Auswirkungen auf die Behandlung anderer schwerer Erkrankungen dieser Gruppe gegenüberzustellen gewesen. Es gälte also, Abwägungen zwischen den kurzfristig angestrebten Auswirkungen der Seuchenbekämpfung und den zu erwartenden mittelfristigen Konsequenzen in maßgeblichen gesellschaftlichen Bereichen und Wirtschaftssektoren anzustellen und öffentlich zu diskutieren. Vielfache Auswirkungen Heute zeigen sich die vielfachen Auswirkungen der bisherigen Politik. Zum einen sind unzweifelhafte Erfolge des restriktiven Kurses und eines Teils der gesetzten Maßnahmen zu betonen, etwa der bisher weniger gravierende Verlauf der Covid-19-Epidemie im Vergleich zu den Opfern der jährlichen Grippewelle sowie die sozialpartnerschaftlich abgesicherte Kurzarbeit. Dem stehen negative sozial- und gesellschaftspolitische Auswirkungen gegenüber, die durch besseres Abwägen und politische Weitsicht vermeidbar oder verringerbar erscheinen. Ein weiterer negativer Aspekt betrifft die Entschädigungspflicht des Epidemiegesetzes. Seit der Novelle 1974 hat jeder bei Verdienstentgang Anspruch auf Entschädigung. Diese Regelung wird im April dadurch ausgehebelt, dass ein neuer Absatz den Gesundheitsminister ermächtigt, durch Verordnung die Höhe der Ent-

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Verschiedene Gebiete gingen unterschiedlich mit der Pandemie um. Foto: apa/Groder

Das Verwechseln von Zielen und Mitteln hat unter anderem zur Folge, dass die Politik „Kollateralschäden“ ausklammert.

schädigung zu regeln. Durch das Covid-19-Gesetz wird auch festgelegt, dass im Falle einer Verordnung des Gesundheitsministers das Epidemiegesetz und damit auch die Entschädigungsregelungen nicht zur Anwendung gelangen. Vielmehr werden Förderungsmaßnahmen zur finanziellen Abfederung eingerichtet und Fonds (Kurzarbeit, Härtefallfonds, Hilfen für Kulturschaffende) dotiert, die aber – im Unterschied zum früheren Rechtsanspruch – den Förderwerbern nur die schwächere Rolle eines Bittstellers einräumen. Die nunmehr limitierten Unterstützungszahlungen verlangen das Erfüllen zahlreicher Voraussetzungen. Jedoch wird unterschiedlichen Problemlagen zu wenig Rechnung getragen, was zu Unklarheiten und Nachbesserungen führt. Die Abwicklung einiger Förderungen wird teils Nicht-Regierungsagenturen überlassen - was etwa im Fall der Wirtschaftskammer wegen der Bürokratie und des Einblicks in sensible wirtschaftliche Daten konkurrierender Unternehmen kritisiert wurde. Diese Agenturen stellen den Antragstellern keine Bescheide aus, sondern nur Zuoder Absagen, gegen die kein Rechtsmittel möglich ist. Insgesamt erscheint das Handeln der Politik auf die Pandemie teilweise stimmig und richtig, jedoch lassen sich erhebliche Steuerungsdefizite erkennen. Diese sind unter anderem ungenügendes rechtspolitisches Abwägen konfligierender Ziele und Interessen, anstelle demokratiepolitisch bedeutsamer Wirkungen das Abstellen auf bloße Maßnahmen sowie mangelnde Fairness bei der Entschädigung von Verdienstentgängen aufgrund behördlicher Schließungen.

Zu den Autoren Helfried Bauer leitete von 1973 bis 2008 das Zentrum für Verwaltungsforschung (KDZ) und arbeitet nun freiberuflich an Projekten zu Fragen von Public Governance und Management sowie zu Finanzausgleich und anderen finanzwissenschaftlichen Themen. Bruno Rossmann ist Ökonom. Er war Nationalratsabgeordneter der Grünen beziehungsweise der Listen Pilz und Jetzt.

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