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Andrea Roedig: „Man kann Mü ern nicht trauen“

Alles war Scham

Andrea Roedigs „Man kann Mü ern nicht trauen“ ist eines der beeindruckendsten Erzähldebüts des Frühjahrs

Es ist ein Buch, das man erst wieder aus der Hand legt, nachdem man es wie gebannt in einem einzigen Zug von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen hat. Ein solcher Lektüre-Rush ist ein durchaus nicht alltäglicher Glücksfall und sagt schon einiges über die erstaunliche Sogkra aus, die von Andrea Roedigs Erzähldebüt „Man kann Müttern nicht trauen“ ausgeht. In puncto Genre hat sich die Autorin damit zielsicher an einem Zwischenort eingefunden, der irgendwo zwischen literarischem Erzählen und autobiografischem Sachbuch angesiedelt ist. Dort geht es erfahrungsgemäß besonders o besonders interessant zu; auch wenn sich der traditionelle Buchmarkt noch immer schwertut mit vielgestalten Bücher-Mischwesen, die sich nicht so einfach in Regalfachkategorien einordnen lassen und zu denen auch Roedigs Buch gehört.

Andrea Roedig, Jahrgang 1962, deutsche Philosophin und Essayistin, freie Publizistin und Mitherausgeberin der Zeitschri Wespennest, lebt seit 2007 in Wien und schreibt für Rundfunk und Printmedien. In „Man kann Müttern nicht trauen“ erzählt sie die Geschichte ihrer Mutter Lilo, die die Familie verließ, als Roedig zwölf Jahre alt war, und die fast drei Jahre lang verschwunden blieb. Sie erzählt von ihrer eigenen brüchigen Kindheit in einer ursprünglich wohlhabenden Düsseldorfer Metzgerfamilie; von Konkurs und plötzlicher Armut, von Entwurzelung und pubertärer Vereinsamung und davon, wie sie unversehens von einem wohlbehüteten Kind zu einem herum- und abgeschobenen Teenager, zum gleichsam entrechteten Unterpfand der implodierten Ehe der Eltern wurde.

Der Vater, ein „Draufgänger und gnadenloser Egoist“, erweist sich für seine Tochter Andrea und ihren drei Jahre jüngeren Bruder als ebenso unverlässliche Größe wie die Mutter. Bereits bevor es zum endgültigen Bruch und Sturz in die Armutsfalle kommt, werden die Kinder zwischen den elterlichen Fronten aufgerieben. Sie werden nachts aus dem Bett geholt und vorm Elterntribunal mit der Frage „Wen hast du lieber?“ drangsaliert, zu Besorgungsgängen nach immer mehr Alkohol und Tabletten vergattert oder zum Anschreibenlassen beim Kaufmann geschickt. „Im Grunde war alles Scham“, bringt es die Autorin auf den Punkt.

Die Mutter bleibt Roedig immer fremd, auch nachdem diese wieder au aucht und sie einander fortan selten und später dann als Erwachsene gegenübertreten. Mutter Lilo ist Täterin und Opfer in Personalunion, eine gekränkte Frau, die ihre Kinder vorwurfsvoll auf Distanz hält und als typische Vertreterin ihrer Frauengeneration ein ums andere Mal vergeblich Glück und Befreiung nur in Bezug auf einen Mann zu finden meint.

Andrea Roedig: Man kann Mü ern nicht trauen. Dtv, 240 S., € 20,60

Langsam entrollt Andrea Roedig den Lebensweg ihrer Mutter, rekapituliert die raren Treffen mit ihr, berichtet von ihren eigenen Wünschen, Hoffnungen und Erwartungen im Lichte der ebenso mächtigen wie zwiespältigen und weit entfernten Symbolfigur. Man folgt mit zunehmender Verblüffung Roedigs kluger, zurückhaltender Erzählung, bewundert die spezifische Rhythmik ihrer nüchternen, glasklaren Sätze und die Disziplin, mit der sich ihr ebenso unsentimentales wie empathisches Doppel-Frauenporträt nach und nach aus Einzelszenen, Erinnerungsbildern und Selbstbefragungen entfaltet. Vorangetrieben wird die Geschichte von einer mitreißenden narrativen Dringlichkeit, die Roedig kunstvoll durch stetige Introspektion ausbalanciert. Es ist eine dunkle Geschichte, die sich Eindeutigkeiten verbittet. Nicht die literarische Abrechnung mit einer an allen Fronten scheiternden Mutter ist ihr Ziel, sondern die Annäherung an eine klaffende, folgenreiche Leerstelle im eigenen Leben sowie die Nachzeichnung eines Nachkriegsfrauenlebens.

Am Ende weiß man nicht, was man mehr bewundern soll: den Mut, den es gebraucht hat, um ein derart intimes Buch zu schreiben, oder die wie selbstverständlich wirkende poetisch-literarische Form, die Andrea Roedig für diesen Hochseilakt gefunden hat. Ein wirklich großer Wurf.

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