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Emmanuel Carrère meditiert und macht „Yoga“
Meditieren heißt zu pinkeln und zu scheißen
Emmanuel Carrères aufwühlender Roman „Yoga“ scheitert am eigenen Wahrha igkeitsanspruch – aber auf grandiose Weise
Alles ist wahr.“ Dieser Satz lieferte den Titel zu Emmanuel Carrères Roman über den Tsunami in Thailand von 2004. Er ist Programm. Seit über 20 Jahren fühlt sich der französische Autor auch in seinem fiktionalen Schreiben der Wahrheit verpflichtet und nichts als der Wahrheit. Damit liegt er in einem Trend, in dem etwa auch Annie Ernaux, Karl Ove Knausgård oder Rachel Cusk ein großes Publikum erreichen. Und wer fragt sich nicht heimlich bei jedem Roman, was er damit über den Autor oder die Autorin erfahren hat? Bei dezidiert autobiografischer Literatur erübrigt sich diese Frage, zurück bleiben die Wonnen des Blicks durch das Schlüsselloch.
In seinem jüngsten Roman hat Carrère jedoch ein Problem. Er darf nicht alles erzählen, was er erzählen möchte, wie er bekennt: „Dieses Buch muss ich ,mit Falsch‘ schreiben, ich muss manches ein wenig verdrehen, umstellen oder aussparen“, kurz gesagt: „durch Auslassungen lügen“. Herausgekommen ist ein Buch, das zwar die gewohnte Wucht besitzt, dessen Erzählblöcke sich aber nicht zu einem Ganzen zusammenfügen. Das befremdet umso mehr, als es den knalligen Titel „Yoga“ trägt. Und Yoga bedeutet doch Einheit, oder?
Die Ursache für das Scheitern des erfolgreichsten Buchs der französischen Herbstsaison 2021 ist die Ex-Frau des Autors, die Journalistin Hélène Devynck. Die Trennung von ihr, so erzählte Autorenfreund Frédéric Beigbeder in einer Radiosendung, sei der Auslöser für den Zusammenbruch Carrères, gewesen, der auch in „Yoga“ geschildert wird. Devynck warf Carrère in der Vanity Fair vor, sich nicht an die Vereinbarung gehalten zu haben, ab sofort nichts mehr über sie zu schreiben. Und, was noch schwerer wiegt: zu lügen. So sei er auf der griechischen Insel Leros nicht alleine gewesen, sondern mit ihr zusammen, und zwar vor seinem Klinikaufenthalt. Im Roman gibt Carrère lediglich zu, die Figur der Federica, einer Liebeskranken mit Helfersyndrom,
Was ich schreibe, mag narzisstisch und eitel sein, aber ich lüge nicht
EMMANUEL CARRÈRE
Emmanuel Carrère: Yoga. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Ma hes & Seitz, 450 S., € 26,99
mit der er auf Leros Schreibkurse für geflüchtete Jugendliche gibt, nicht tatsachengerecht beschrieben, sondern fiktionalisiert zu haben.
Und was hat das alles mit Yoga zu tun? Wer das Wort Yoga hört, denkt an körperliche Verrenkungen, an Hatha-Yoga. Dieses betreibt Carrère ebenfalls, im Fokus seines Interesses aber steht die Meditation. Im ersten Teil des Buches, in dem der Autor in einem Vipassana-Retreat eincheckt, versucht er sich an mindestens 14 Definitionen. „Alles, was in der Zeit passiert, in der man reglos schweigend dasitzt, ist Meditation“, lautet eine davon. Konkret gehe es darum, eine Instanz in sich zu entwickeln, die den Strudel der eigenen Gedanken beobachtet, ohne ein Drama daraus zu machen.
Der Ich-Erzähler Carrère befindet sich in einer bereits zehn Jahre währenden Hochphase seines Lebens und glaubt, dass ein „despotisches Ego“ sein größtes Problem darstellt. Während er auf seinem Meditationskissen sitzt, macht er sich im Kopf Notizen für ein „heiteres und feinsinniges Büchlein“ über Yoga, das auf seiner über 20-jährigen Erfahrung basieren soll. Was er und die 120 anderen Teilnehmer nicht wissen: Zur gleichen Zeit erlebt Frankreich einen der furchtbarsten Terroranschläge seiner Geschichte, das Attentat auf die Satirezeitschri Charlie Hebdo im Januar 2015.
Unter den Toten befindet sich ein Freund Carrères, dessen Witwe ihn bittet, die Trauerrede zu halten. Zwei Jahre später, im zweiten Teil des Romans, findet sich der nun knapp 60-Jährige in einer Klinik wieder, in der bei ihm, der schon früher unter Depressionen gelitten hatte, erstmals eine bipolare Störung diagnostiziert wird. Elektroschocks und Psychopharmaka statt Ein- und Ausatmen. Selbstmordversuche statt Ruhe und Gelassenheit. „Yoga und Meditation steigern nicht nur das Wohlgefühl, sondern sie sind weit mehr als ein Hobby oder Übungen zur Gesundheitsförderung. Sie sind ein Bezug zur Welt, ein Weg der Erkenntnis, ein Zugang zur Wirklichkeit, der es wert ist, einen zentralen Platz in unserem Leben einzunehmen.“ Aber können sie sich angesichts von Terror, Tod und Trennungen bewähren? Carrère zweifelt, doch dann trifft ihn die Erkenntnis, dass seine psychiatrische Autobiografie und sein Essay über Yoga ein und dasselbe Buch sind, „weil das Krankheitsbild, mit dem ich zu tun habe, die entsetzliche, verkorkste Parodie des großen Gesetzes der Verwandlung ist, dessen Harmonie ich vor etwa dreißig Seiten noch so aufrichtig gefeiert habe“.
Ein laut Selbstdefinition „labiler Narzisst“, der vor den Trümmern seines Lebens steht, scheint „keine besonders gute Werbung“ für Yoga zu sein. „Aber da liege ich falsch: Yoga hat damit nichts zu tun. Das Problem bin ich.“ Für den Gebeutelten bleibt Yoga, wenn auch keine Lösung, so doch ein Weg. Es hil ihm zu überleben, indem er seine Yoga-Definitionen bei seinem Aufenthalt auf Leros noch einmal vereinfacht: „Meditation heißt, zu pinkeln und zu scheißen, wenn man pinkelt und scheißt, und nur das.“ Sein langjähriger Verleger, der dieses Buch nicht mehr lesen wird, weil er überraschend stirbt, hinterlässt ihm eine weitere Yoga-Aufgabe: zu lernen, nicht wie bisher nur mit einem, sondern mit zehn Fingern zu tippen.
Eine neue, junge Liebe gibt dem Buch einen optimistischen Ausblick und nimmt ihm gleichzeitig auch etwas von seiner Glaubwürdigkeit. Denn am authentischsten wirkt Carrères Zerknirschung darüber, sein Ehe- und Familienleben selbst zerstört zu haben. Sein Buch lässt einen unbefriedigt zurück. Womöglich ist es gerade an dem Festhalten an Literatur als purer Wahrheit gescheitert. Daraus ließe sich schließen, dass die gute alte literarische Praxis, seine Lebenserfahrungen in Fiktion zu transformieren, ebenfalls eine Überlebenskunst darstellt.