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Andrea Tompa über Rumäniens „Omertà“ Erich Klein im Gespräch mit Vladimir Sorokin 20–21

Das Schweigen der Rose

Mit „Omertà“ hat Andrea Tompa einen fe en und vielstimmigen Roman über das kommunistische Rumänien geschrieben

Die Rose hat es nicht leicht im Kommunismus, die rote Rose schon gar nicht: zu edel, zu luxuriös, zu feudal oder zu bürgerlich. Neue Zeiten fordern neue Blumen. Als offizielle Arbeiterbewegungsblume firmiert bekanntlich die rote Nelke, Emblem des Fortschritts und der proletarischen Schlichtheit. Ganz Rumänien verlange jetzt nach Nelken, seufzt Vilmos, der Rosenzüchter, weil die jetzt eine „progressive Blume“ sei. „Aber eine Nelke ist nicht ewig. Die Rose ist ewig, und die Nelke ist nur eine Blume. Das kann man nicht erklären.“ Jedenfalls keinem Parteifunktionär.

Eigentlich hat Vilmos Décsi, die Zentralfigur aus Andrea Tompas Roman „Omertà“, für die neuen rumänischen Verhältnisse einen unmöglichen Beruf. Er züchtet in der Nähe von Klausenburg (oder Cluj-Napoca) mit autodidaktischer Akribie Rosen, die landesweit und sogar im Ausland für Aufsehen sorgen.

Natürlich passen Tätigkeiten wie Rosenzüchtung oder gar -veredlung nicht in die neue politische Landscha , noch weniger die Mendel’sche Vererbungslehre, der Vilmos folgt. Nun soll die rumänische Landwirtscha auf Basis der „mitschurinschen Wissenscha “ sowjetisiert werden und Vilmos fügt sich widerwillig, aber anpassungsbereit den neuen Imperativen.

Tompas Roman öffnet die Tür in eine für die hiesige Leserscha zu wenig bekannte Welt. Klausenburg, Cluj oder Koloszvár, einst zu Ungarn gehörend, nach dem Vertrag von Trianon Rumänien zugeschlagen, im Nachkriegskommunismus dann zeitweise Hauptstadt der Ungarischen Autonomen Region, erlebt, wie das ganze Land, in der erzählten Zeit des Romans eine gewaltige Umwälzung. Man verfolgt es im Roman exemplarisch am Stadtrand von Cluj, wo die Lebenswelt der Hóstáter, einer ungarischreformierten Bevölkerungsgruppe, die sich in ihrer kleinteiligen, aber höchst ertragreichen Landwirtscha dem neuen Diktat nicht beugen will, systematisch von neuen Plattenvorstädten verdrängt wird.

Vier lange, aufeinander bezogene Erzählungen oder vielleicht eher Selbstgespräche von ebenso vielen Figuren versammelt Tompas fast tausendseitiger Roman. „Omertà“, der Titel, meint hier zunächst ein ganz spezifisches Schweigegelübde, nämlich das der franziskanischen Rosenkranzschwestern. Eleonora, Erzählerin im letzten Teil, und ihre Mitschwestern haben sich bei ihrer Entlassung aus langjähriger Ha zum Schweigen verpflichten müssen: „Dass wir über nichts reden, was im Gefängnis mit uns geschehen ist. Nichts. Omertà. Schweigebefehl.“

Aber nicht diese „Omertà“ allein meint der Roman, sondern ein gesamtgesellscha lich wirksames Schweige- oder Verschwei-

In der virtuosen Übersetzung Térezia Moras aus dem Ungarischen liegt ,Omertà‘ als ein deutschsprachiges Sprachkunstwerk eigenen Ranges vor

Andrea Tompa: Omertà. Roman. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp, 950 S., € 35,–

gegebot. Nicht was die Figuren zueinander sagen, teilt der Roman hauptsächlich mit (es wäre nicht sehr viel), sondern vor allem, was sie einander verschweigen. Es wird viel verschwiegen und dennoch viel geredet. Man muss nur vermeiden, sich im Reden zu offenbaren. Kali etwa, Erzählerin im Anfangsteil, die Dienstmagd und zeitweilige Geliebte des Rosenzüchters, versteht sich trefflich aufs Märchenerzählen, wie sie es daheim bei den ungarischen „Szeklern“ gelernt hat.

Was sich tatsächlich über fast 20 Jahre hinweg zwischen den vier Figuren, also Kali, Vilmos, Annuska (einer jungen Halbwaisin, die dann Vilmos’ zweite Geliebte wird) und deren Schwester, der Nonne Eleonora, ereignet hat, erschließt sich am ehesten aus den Ungereimtheiten und Euphemismen der Figurenreden selbst. Ein wie großer Opportunist und Mitläufer ist etwa Vilmos, der Rosen-„Zauberer von Békás“ wirklich gewesen? Von den zwei Frauen, die ihm nahestanden, wird man es nicht erfahren, denn er hat ihnen den Einblick in sein politisches Dasein verwehrt.

Aus den gegebenen Perspektiven will einem Vilmos, diese vergrübelte, eher zartbesaitete Tü ler-Existenz, beinahe eher als ein Opfer der Umstände erscheinen. Seine Liebe zur Rosenzucht, ist man geneigt zu denken, lässt ihm keine andere Wahl als Zugeständnisse an die Staatsgewalt zu machen. Tatsächlich gelingt es Vilmos, seine Rosenfarm, nunmehr ausgebaut zu einer Versuchsstation der mitschurinschen Wissenscha , auf höherer Ebene fortzuführen.

Am Ende wird ihm sogar ein Golddiplom der internationalen Rosenschau in Paris zuteil. Die Umstände dieser ruhmreichen Auslandsreise eines verdienten rumänischen Rosenzüchters, bei der Vilmos von der „Securitate“ auf Schritt und Tritt überwacht und kujoniert wird, sind dann so beschaffen, dass wir uns Vilmos eher als armes Schwein vorstellen denn als Günstling des Systems. Wissen können wir es nicht, denn wir haben ja nur ihm zugehört in seinem zunehmend verzweifelten Monolog. Vielleicht will ja der Roman in seiner Konstruktion darauf hinaus, dass vier Mal „Omertà“ in ihren jeweiligen und komplementären Ein- und Auslassungen doch so etwas wie die Wahrheit über das Rumänien der Jahre 1948 bis 1968 offenbart, ohne dass diese regelrecht ausgesprochen würde, schon gar nicht von der Autorin selbst.

Falls der Roman also doch so etwas sein soll wie der gebrochene Spiegel einer objektiven Situation, dann muss man konstatieren: Wir sind nicht allzu überrascht. So ähnlich hat man sich, auch dank anderer Quellen, den rumänischen Kommunismus mit seiner brutalen Transformation eines spätfeudalen Agrarlandes in ein kommunistisches Musterkombinat (und eine Musterkolchose) vorgestellt. Tompa lenkt den Blick allerdings auf interessante Einzelheiten: etwa darauf, was es heißt, als Magd in einer Gesellscha zu dienen, die diese Existenzform eigentlich abgeschafft hat. Es könnte also sein, dass „Omertà“ auch heute noch einen wichtigen Beitrag zur politischen Selbstverständigung Rumäniens, besonders auch in seinem Verhältnis zur ungarischen Minderheit, leistet, dass der fast tausendseitige Roman außerhalb dieses lokalen Au lärungs- und Kommunikationsangebots aber sein ästhetisches Ziel verfehlt und seine Leser aus den Augen verliert.

Dass Tompas Roman gelegentlich zur zähen Lektüre gerät, hat zwei Gründe: Erstens ist er in seiner bestimmt gut recherchierten Faktografie o zu dicht. Vilmos’ tagtäglicher und minuziös erzählter Hader mit den Parteifunktionären etwa quälen auf die Länge nicht nur ihn, sondern auch die Leser. Und zweitens kommen Zweifel auf an dem heute ja sehr beliebten Formkonzept des „Romans in Stimmen“. Aus der Addition beschränkter Perspektiven ergibt sich nicht zwangsläufig eine finale unbeschränkte Perspektive. Man wünscht dem Roman manchmal doch eine „richtige“ Erzählerin, mit eigener Stimme und Imagination, statt einer, die von ihr erfundene Figuren mit erfundenen Stimmen ausstattet.

Terézia Mora hat „Omertà“ ins Deutsche übersetzt und dabei die komplexe Sprachlage im Ausgangstext (ungarisch, rumänisch, ländliche und städtische, nach Klassen geschichtete Sprechweisen) in einen deutschen Text verwandelt, der alle Register zieht, die möglich sind, wenn das Gleiten zwischen den Kontaktsprachen nicht infrage kommt.

So lässt Mora immer wieder auch Originaltext stehen, erklärt manches in Fußnoten und schöp ansonsten aus dem Repertoire der deutschen Umgangssprache mit ihren sozialen und regionalen Differenzierungen. Der Roman der Dienstmagd Kali bekommt so sprachlich eine ganz andere Gestalt als jener des Rosenzüchters Vilmos oder der halbwüchsigen Annuska. In Moras virtuoser Übersetzung liegt damit ein deutschsprachiges Sprachkunstwerk eigenen Ranges vor. Die Kartoffeln heißen hier zwar manchmal österreichisch „Krumpirn“ und der Teufel niederdeutsch „Deiwel“, aber man ist geneigt anzunehmen, dass solche Ungereimtheiten beabsichtigt sind. So klingt dann Kali auf Deutsch, auf der ersten Seite „ihres“ Buchs: „In die ganzen Hügel hinein, da muss man gehen, das Auge sieht sie nicht, weil die Erde noch den Himmel berührt. Wie schön sie sich von weitem berühren.“

CHRISTOPH BARTMANN

„Wir sind alle Geiseln von Putins Kränkung“

Für Vladimir Sorokin, den Star der russischen Gegenwartsliteratur, ist die Sowjetunion als Zombie auferstanden. Ein Gespräch über die bösartige Strahlung der Macht und die Stärke der Literatur

Wnukowo, 30 Kilometer außerhalb von Moskau. Anfang Februar 2022. Auf dem Wegweiser steht tatsächlich „Datschensiedlung der Schri steller“. Tiefverschneiter Wald, schmucke Holzhäuser. Vladimir Sorokin (Jg. 1955), der einstige Bad Boy der russischen Literatur, lebt heute bürgerlich. „Ich bin in einem Moskauer Vorort aufgewachsen und halte diese Monsterstadt einfach nicht mehr aus.“

Sorokins Aufstieg zum Star der russischen Gegenwartsliteratur war nicht vorgezeichnet. Nach dem Studium der Chemie am Gubkin-Öl-Institut begann er Ende der 70er-Jahre als Buchdesigner zu arbeiten. Bald folgten eigene Texte, die direkt in den literarischen Underground führten. Anstatt sich offiziös den Problemen des spätsowjetischen Alltags zu widmen, wurde bei Sorokin gefurzt, gevögelt und vor allem geflucht. Sein erster Roman „Die Schlange“ (1983, dt. 1990) über die Absurdität, stundenlang vor einem Geschä anzustehen, kam der Realität ohnedies näher als jede politische Kritik. Autorenkollegen warfen Sorokin „Stillosigkeit“, „Konzeptualismus“ oder „Postmodernismus“ vor – in Zeiten von Perestrojka und Glasnost eine Auszeichnung. Sorokins Bücher wurden zu Beginn des neuen Jahrtausends von der Putin-Jugend öffentlich angeprangert, wenig später stand eine Oper nach seinem Libretto auf dem Spielplan des BolschoiTheaters. Nach einem Dutzend Romanen, ebenso vielen Theaterstücken, Drehbüchern und Verfilmungen gilt das einstige Enfant terrible heute als lebender Klassiker. Der soeben erschienene Band „Die rote Pyramide“ enthält eine vom Autor selbst getroffene Auswahl von Erzählungen aus den letzten 20 Jahren.

Die Fragen zum Krieg in der Ukraine wurden letzte Woche per Mail nachgereicht und beantwortet.

Falter: Sie haben einen Aufruf zur Beendigung des Krieges unterzeichnet, in dem alle des Russischen mächtige Menschen aufgefordert werden, die Wahrheit über diesen kundzutun. Was erhoffen Sie sich?

Vladimir Sorokin: Dass es jene, die von Putins Propaganda zu Zombies gemacht wurden, zum Denken bringt. Worte haben im Moment eine besonders große Bedeutung, sie können die Kanonen stoppen.

Angeblich gibt es eine breite Unterstützung des Krieges durch die Bevölkerung.

Sorokin: Das glaube ich nicht. Die Leute wurden durch die massive Unterdrückung aller Proteste in Angst und Schrecken versetzt. Sorokin: Ich halte das für einen Fehler, eine Folge des Krieges. Wenn ich nicht irre, hat während des Zweiten Weltkriegs niemand dazu aufgerufen, Thomas Mann zu boykottieren, nur weil er auf Deutsch schrieb.

Sie sind jetzt in Deutschland. Können Sie später wieder nach Russland zurückkehren? Haben Sie Angst vor Verha ung und Repression?

Sorokin: Ich denke heute nur an eines: wann wird dieser sinnlose und verbrecherische Krieg endlich beendet!

Warum tut Russland alles, um dem Bild des verrückt gewordenen Ostens zu entsprechen?

Sorokin: Das ist die Folge eines mittlerweile schon 20 Jahre andauernden Kurses, mit dem Westen zu brechen und in die sowjetische Vergangenheit zurückzukehren. Als die Sowjetunion zerfallen ist, hätte man den Leichnam des Imperiums verscharren müssen, wie das Deutschland seinerzeit getan hat. Jelzin und seine Demokraten meinten aber, dass das gar nicht nötig sei, weil er von selbst verrotten würde. Allerdings ist diese Leiche mittlerweile als Zombie auferstanden, hat eigentlich keine Kra mehr, aber noch immer die alte Impertinenz und den Wunsch, der Welt Schrecken einzujagen.

Aber wozu? Moskau ist heute eine moderne Stadt, die Leute sind freundlicher als früher. Sorokin: Die letzten 30 Jahre mit freiem Markt und offenen Grenzen, das erzieht. Viele meinen sogar, dass das Service in russischen Restaurants, Hotels und Geschäften o besser ist als in Europa. Aber leider gibt es in Russland ein ernstha es Problem.

Nämlich welches?

Sorokin: Davon handelt mein neues Buch „Die Rote Pyramide“. Gemeint ist die Pyramide der Macht, die seit dem 16. Jahrhundert nicht mehr modernisiert wurde, als Iwan der Schreckliche seine „Opritschniki“ [Angehörige der Leibgarde, Red.] schuf. Diese Konstruktion hat sich bis heute nicht geändert: An der Spitze der Pyramide steht eine Person, und von der hängt alles ab. Das war zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen so, von Nikolai I., Nikolai II., Stalin, Breschnew und Andropow bis zu Putin. Eine Person, die alle Rechte hat, entscheidet alles.

Von der Pyramide gehen mysteriöse Strahlen aus …

Sorokin: Es ist wie im „Herr der Ringe“: Einer steckt sich den magischen Ring an und mutiert in die übelste Richtung. Genau das ist mit Putin passiert. Schauen Sie sich sein Gesicht an, wie es vor 20 Jahren ausgesehen hat und wie es heute aussieht. Das ist ein völlig anderer Mensch – die Folge der Strahlung dieser Pyramide.

INTERVIEW: ERICH KLEIN

ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

Im Grunde genommen ist Russland noch immer eine Monarchie: Es gibt einen Zaren mit seiner Garde, und der Rest sind Untergebene. Und jeder dieser Untergebenen kann verha et, ins Gefängnis geworfen, erniedrigt und vernichtet werden

VLADIMIR

SOROKIN

Vladimir Sorokin

wurde 1955 in Bykowo bei Moskau geboren. Mit seinen Erzählungen, Theaterstücken und Romanen wie „Die Schlange“, „Der himmelblaue Speck“ oder „Der Tag des Opritschniks“ zählt er zu den Hauptvertretern der russischen Postmoderne, aber auch zu den dezidiertesten Regimekritikern

Worin besteht eigentlich Russlands Problem mit der Ukraine?

Sorokin: Putin sieht es als persönliche Beleidigung durch die Ukraine an, dass sie einen anderen Weg eingeschlagen hat. Das kam für ihn unerwartet. Was noch unangenehmer war: es geschah während der Olympiade 2014 in Sotschi. Und das kann er der Ukraine nicht verzeihen. Wir alle sind Geiseln seiner Kränkung.

Der Protagonist der Titelerzählung steht für die Abrechnung mit den russischen „Sechzigern“, die einst für Reformen standen. Jetzt hat er massive Herzprobleme.

Sorokin: Es ist ein gewöhnlicher Sowjetmensch aus den Jahren 1961/1962. Er war zuerst Student einer angesehenen Hochschule, dann Journalist und schließlich Chefredakteur einer bekannten Zeitung. Knapp vor seinem Tod sieht er diese rote Pyramide, die den Sowjetmenschen bis auf die biologische Ebene deformiert hat.

Sie nehmen sich selbst davon aus?

Sorokin: Mir hat geholfen, dass ich im Alter von 20 Jahren in den Kreis des Moskauer Undergrounds geraten bin. Diese Szene war ein Schutzschild gegen diese Vibrationen, durch die meine ehemaligen Studienkollegen deformiert wurden. Sie hatten diesen Schutzschild nicht. Darum geht es in dieser Erzählung.

Sorokin: Im Grunde genommen leben wir immer noch in einer Monarchie: Es gibt einen Zaren mit seiner Garde, und der Rest sind Untergebene. Und jeder dieser Untergebenen kann verha et, ins Gefängnis geworfen, erniedrigt und vernichtet werden. Wenn im Westen ein Polizist Helfer oder Beschützer sein kann, ist er in Russland im besten Fall ein Aufseher und im schlimmsten Fall ein Bandit, der dich bestiehlt und auch noch ins Gefängnis bringen kann.

In Ihren Erzählungen geht es o um Sex und Gewalt, was in der russischen Literatur offenbar noch immer irritiert.

Sorokin: Mich irritiert es nicht, aber ich bin natürlich ein verdorbener Leser. (Lacht.) Wenn wir über zeitgenössische Literatur in Russland sprechen, so ist ein Faktor besonders wichtig: Das Fernsehen ist ziemlich heruntergekommen und dient nur noch der Propaganda. Viele haben überhaupt aufgehört fernzusehen, vor allem die jungen Leute, die ihre Informationen aus dem Internet beziehen. Sie schauen Serien und lesen viel. Meine alten Romane wurden jetzt wieder aufgelegt und die Auflagen steigen. In diesen wirren Zeiten steigt der Bedarf an ernstha er Literatur. Das freut mich natürlich.

Haben Sie für Serien geschrieben?

Sorokin: Es wurde mir mehrfach angeboten, und ich habe abgelehnt.

Ihre bisherige Karriere war ziemlich ungewöhnlich. Wundert Sie all das manchmal?

Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide. Erzählungen. Aus dem Russischen von Andreas Tretner und Dorothea Tro enberg. Kiepenheuer & Witsch, 192 S., € 22,95

Sorokin: Als mein noch im Underground geschriebener Roman „Die Schlange“ 1985 in Paris erschien, wurde er gleich in mehrere Sprachen übersetzt. Dann kam die Perestroika und plötzlich gab es keinen Untergrund mehr. Der Topf, in dem wir uns befanden, explodierte und alles flog durch die Gegend. Nach 1991 habe ich acht Jahre lang keinen einzigen Roman geschrieben. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Es war damals die Zeit des Fernsehens. Das Fernsehen war hervorragend. In unserem neuen Jahrhundert, in dem sich die Pyramide wieder gefestigt hat, ist es wieder einfacher zu schreiben.

Gedichte haben Sie nie geschrieben?

Sorokin: Klar, wie üblich – so mit achtzehn.

Für die Mädchen?

Sorokin: Ja, die Mädchen haben sie gelesen, aber es war wohl nicht für sie geschrieben, sondern für die Ewigkeit. Ich habe diese Gedichte dann in „Norma“ verwendet. Ich mache das gelegentlich im Rahmen eines Romans: Wenn mein Protagonist Lyrik schreibt, dann verfasse ich die selbst, ganz ehrlich mit der Hand und auf Papier. Aber Poesie und Prosa sind natürlich ganz verschiedene Tiere. Die Poeten sind arabische Hengste, wir hingegen sind Kaltblutpferde, die langsam schwere Metaphysik hinter sich herziehen. Sorokin: Wir haben diese große Tradition, die eigentlich auch das ist, womit Russland Eingang in die Weltliteratur gefunden hat: die Literatur, die russische Avantgarde in der bildenden Kunst und die Musik. Ich stand in Asien einmal auf einem kleinen Flughafen vor einem Zeitungskiosk, und was sehe ich zwischen den verschiedenen Zeitungen und einem Regal mit Krimis? Tolstojs „Anna Karenina“ und Dostojewskijs „Die Brüder Karamasow“! Eine russische Marke wie Wodka. Wer Prosa auf Russisch schreibt, verfügt über den Bonus unserer bärtigen Klassiker. In meinem Arbeitszimmer stehen sie hinter dem Schreibtisch und manchmal lehne ich mich zu ihnen zurück und spüre ihre Kra . Russland ist nach wie vor ein Land der Leser. Es wird noch immer viel gelesen.

Sie leben teilweise in Deutschland, teilweise in Russland. Finden Sie auch, dass der Westen für einen Schri steller zu langweilig ist?

Sorokin: Wenn du über das Leben in Russland schreibst, ist es wichtig, eine gewisse Distanz zu haben. Ich lebe seit 1988 abwechselnd in Europa und in Russland, das hil . Es sind zwei verschiedene Welten, eine Welt der Vorhersagbarkeit und Ordnung und eine Welt der Unordnung. Einmal ermüdet einen die Ordnung, dann wiederum die Abwesenheit aller Ordnung. Ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat: Die Welt wird von zwei Gefahren bedroht: von der Ordnung und der Unordnung. F

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