Fazit 178

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Es ist Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass die Menschen im Land sich nicht zu fürchten brauchen.

Caspar Einem, 1948–2021, österreichischer Politiker

Europäische Kulturhauptstadt 2025

Chemnitz, mon Amour!

Ich geb’s zu. Ich hatte unlängst eine Affäre. Sie dauerte zwar nur einen Tag, aber es war intensiv. Mein Schatz hieß Chemnitz. Die sächsische Stadt ist auf dem Weg zur Kulturhauptstadt 2025 und will sich eine Zusatzidentität verschreiben. Das Etikett Kulturhauptstadt kann dabei wohl einiges bewirken. Wie gut, dass man daselbst erkannt hat, dass man früh losstarten muss, um zu wissen, wo man in vier Jahren hinwill. Von Michael Petrowitsch

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Fotos: Michael Thurm, Michael Petrowitsch, Chemnitz 2025

ie drittgrößte sächsische Stadt nach Dresden (Tatort: vorher Peter Sodann jetzt Martin Brambach!) und Leipzig (Tatort: früher Thomalla und Wuttke) hat im letzten Jahr zusammen mit dem slowenischen Nova Gorica den Zuschlag für die Kulturhauptstadt 2025 bekommen. Und erfreulicherweise startet das Projekt für langjährige Kulturhauptstadtbeobachter bereits Ende 2021 mit einer äußerst gelungenen Auftaktveranstaltung mit österreichischer Beteiligung.

Ossi-Ikonographie »Wir Sachsen reden wenig, aber wir handeln«, so der sozialdemokratische Chemnitzer Oberbürgermeister Sven Schulze in einem persönlichen Gespräch. Er schritt dann auch rustikal zur Tat und pflanzte einen Baum vor dem Terra Nova Campus. Zeitgleich mühte sich der FC Chemnitz gegen Meuselwitz im neuen Stadion ein paar hundert Meter weiter zu einem 1:1. Sport und Kultur im zeitlichen Gleichtakt. Das mit der hochgepimpten Nazihoolszene ist Part of the Ossi-NSU-Pegida-Ikonographie, die sich medial gut verkauft, aber mit der Realität nichts zu tun habe. Ein

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Minderheitenprogramm, versichert mir Jürgen in der Eckkneipe »Pub a la Pub« vor dem Stadion im gemütlichen Stadtteil Sonnenberg. Glaub ich ihm doch. Ein krampfhaftes Dagegenarbeiten à la »Wir sind nicht so« macht’s dann bekanntlich oft noch schlimmer, wie wir als gelernte Ösis wissen. Anyway, ich kehre hiermit von der Fussballkultur zurück zur Intervention im öffentlichen Raum. Apfelbaumparade In einem – von der Österreicherin Barbara Holub – kuratierten Projekt wurde vor wenigen Tagen mit der Pflanzung von vier Bäumen und der interventionistischen Bespitzhackung eines Asphaltparkplatzes eines der Kernprojekte der Kulturhauptstadt Europas 2025 in Chemnitz eingeläutet. Unter dem Titel »We Parapom!« plant man, eine Parade von bis zu 4.000 Apfelbäumen quer durch die Stadt entstehen zu lassen. Der designierte Geschäftsführer der Kulturhauptstadt, Stefan Schmidtke, sprach von einem richtungsweisenden Projekt, das exemplarisch für die Anliegen des Kulturhauptstadtprogramms stehen würde. Partizipation ist auch ein Schlüsselwort, das Oberbürgermeister Schulze gerne ins Treffen führt, wenn es darum

geht, die Pläne der nächsten Jahre zu konkretisieren. Weniger Neu- bzw. Umbauten, dafür Bürgerbeteiligung. Diese war auch ein bewusstes Signal an den Adressaten, nämlich sich selbst, die Bevölkerung. Die gut besuchte nachmittägliche Auftaktveranstaltung sollte wohl Lust auf Zukünftiges machen. Gemahnen mag das Konzept an die Josef Beuysschen 7.000 Eichen, die die siebente Documenta im Jahr 1982 in Kassel bespielten. Flächenversiegelung und Hochwassertrauma geben der Geschichte eine andere, alltagsrelevante realistische Note. Kunst soll ja auch manchmal zum Nachdenken und Mitmachen anregen können. Nebenbei erledigt man noch Themen wie Normierung, Heimat und Migration. Die 4.000 Bäume sollen quer über Grundstücksgrenzen durch die ganze Stadt gepflanzt werden. Diskussionen sind vorprogrammiert.


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