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Safespaces schaffen

Eine Dissertation untersucht den Singunterricht auf Sekundarstufe I: Ist Vorsingen noch adäquat?

Von Michael Hunziker

Gabriel Imthurn, Leiter der Professur Musikpädagogik im Jugendalter an der PH FHNW, hat in seiner eben vorgelegten Dissertation den Singunterricht auf der Sekundarstufe I unter die Lupe genommen. Imthurn hat selbst mehr als 20 Jahre als Musiklehrer unterrichtet und dabei über 1500 Schüler*innen während ihrem Stimmwechsel begleitet – er kennt also sowohl die Motivationshürden, vor denen die Pubertierenden stehen, wie auch die Dilemmata der Musiklehrpersonen im Spannungsfeld zwischen Fördern und Bewerten aus erster Hand. Die frühe Adoleszenz ist für Jugendliche (Mädchen wie Jungs) ein psychisch delikates Moment: Identitätsentwürfe konstituieren sich gerade neu, das Selbstwertgefühl ist verletzlich. Guter Singunterricht könnte hierbei zu positiven, musikalischen Selbstkonzepten und einem starken Selbstbewusstsein beitragen. «Die eigene Stimme ist ein zentrales Persönlichkeitsmerkmal: singen, sprechen, sich ausdrücken. Das hängt zusammen. Der Singunterricht hat die Chance, den Menschen als performatives Wesen zu stärken. Die Jugendlichen zu ermächtigen, hinzustehen, etwas zu sagen und gehört zu werden», sagt Gabriel Imthurn. Doch wenn durch unzeitgemässe Unterrichts- und Bewertungsformen

Schüler*innen in dieser vulnerablen Phase exponiert werden, nehmen Singfreude und Selbstsicherheit ab.

Für seine Dissertation kartographierte Imthurn gewissermassen die Didaktik des Fachs Musik im Hinblick auf das Singen. Er wollte wissen, wie der Unterricht auf der Sekundarstufe I gestaltet ist: Welche Konzepte, welche Haltungen, welche Unterrichtsideen verfolgen die Lehrpersonen? Welchen Stellenwert hat dabei ein ganzheitliches Assessment, das Förderung und Beurteilung als Einheit sieht und auch reflexive Momente der Schüler*innen miteinbezieht? Im Rahmen einer Autoethnografie befragte er zuerst die Entwicklung seines eigenen Unterrichts, um anschliessend in einer qualitativen Interviewstudie das heterogene Feld der Musiklehrpersonen zu erschliessen.

Mädchen und Jungs trennen?

Der Stimmwechsel ist zwar in der deutschsprachigen Musikpädagogik ein Thema, beschränkt sich aber hauptsächlich auf die Phänomene bei Jungen. Bis jetzt nicht rezipiert wurden viele Studien und Entwicklungsmodelle aus dem anglophonen Sprachraum. Imthurn trägt die Positionen dieses Diskurses in der Breite zusammen. Es verwundert nicht, dass die Konzepte auch noch nicht in der Praxis des schweizerischen Musikunterrichts anzutreffen sind. Der Musikunterricht habe sich in den letzten dreissig Jahren weiterentwickelt, aber gewisse «Beliefs» hielten sich hartnäckig. Etwa die Annahme, Brummer könnten nicht behandelt werden oder während des Stimmbruchs sei Singförderung nicht möglich. Zudem hätte sich das Vorsingen als Bewertungsmethode auch hartnäckig gehalten. Dabei sei dies ein äusserst unauthentisches Setting, insofern das Vorsingen als Prüfungssituation nichts mit den formativen Einheiten des üblichen Musikunterrichts zu tun hätte. «Es sind Settings gefragt, in welchen Performance und vorbereitende Übungsphasen als Einheit erlebt werden können», folgert Imthurn. Für guten Musikunterricht sei es wichtig, die körperlichen und psychischen Veränderungen der Schüler*innen zu berücksichtigen: «Oft steht nur der gemeinsame Gesang im Fokus, dabei sollten wir uns vermehrt auch um die individuelle Entwicklung kümmern.»

Das kann auch bedeuten, in kleineren Gruppen zu arbeiten, die ähnliche Stimmlagen haben. – Buben und Mädchen trennen? «Ja, das kann sinnvoll sein», erwägt Imthurn und präzisiert: «Man sollte im Unterricht einen Safespace schaffen für alle Menschen, mit oder ohne Stimmbruch.» Der Zeitpunkt und die Dauer des Stimmwechsels sowie die notwendigen motorischen und sensorischen Anpassungsleistungen seien ohnehin hochindividuell. Somit sind Lehrpersonen gefordert: Lieder aus der Lebenswelt der Jugendlichen finden, sie in die aktuellen Stimmlagen transponieren (mit Internet keine Sache) und möglichst viel singen – dann greift das Feuer über.

DIE DISSERTATION «ASSESSMENT DES SINGENS AUF DER SEKUNDARSTUFE I. EINE QUALITATIVE INTERVIEWSTUDIE» (2023) ist im LIT-Verlag als Open-Access-Publikation in Vorbereitung. Interessierte melden sich bei gabriel.imthurn@fhnw.ch.

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