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Über die Wichtigkeit fundierter Fachlichkeit

Die Naturwissenschaftsdidaktik steht vor der grossen Herausforderung, dass die grundsätzlich unterschiedlichen Konzepte dreier in sich komplexer Fächer mit dem Integrationsfach «Natur und Technik» kohärent vereint werden müssen.

Von Brigitte Hänger, Matthias von Arx und Tibor Gyalog

Noé* hatte sich perfekt auf diese Stunde vorbereitet. Als Biologielehrer ist er kein ausgewiesener Experte, wenn es um das Thema «Kraftwandler» geht, aber diese eine Physik-Stunde würde er auch noch meistern. Er hat sich mithilfe verschiedener Quellen und insbesondere mithilfe des Physik-Lehrmittels in die Thematik eingelesen. Die Schüler*innen würden zuerst mit einer einfachen Hebelstange und Gewichten das Hebelgesetz forschend-entdeckend erarbeiten und erkennen, dass man mit Hebeln Kräfte spart. Anschliessend würden die Schüler*innen möglichst viele Alltagsbeispiele zu Hebeln zusammentragen. Noé hatte zusätzlich eine Zange und einen Nussknacker mitgenommen. Er ist perfekt auf diese Stunde vorbereitet – und fragt seine Klasse: «Wo kommen Hebel im Alltag vor? Könnt ihr Beispiele nennen?»

Alessio* antwortet: «Ein Ruder bei einem Ruderboot? Der Kraftarm reicht weit ins Wasser hinaus und deshalb muss man nicht so stark ziehen, um vorwärtszukommen.» Ivana* reagiert und fragt: «Aber man zieht beim Rudern doch am kürzeren Ende. Ist es dann nicht umso anstrengender?»

Und nun stand Noé trotz seiner guten Vorbereitung ratlos vor der Klasse und dachte für sich: «Könnte man Lastarm und Kraftarm miteinander vertauschen, um die Konfusion zu lösen?» Aber die zu erwartende Frage «Macht das Ruder als Hebel überhaupt Sinn, wenn man damit gar keine Kräfte spart?» konnte er spontan beim besten Willen nicht beantworten.

Was braucht es, um abstrakte Konzepte weiterzugeben?

Viele junge Lehrperson fürchten sich vor solchen Situationen. Es ist möglich, Faktenwissen weiterzugeben, auch wenn man es selbst nicht ganz durchdrungen hat. Es ist grundsätzlich in Einzelfällen auch möglich, abstrakte Konzepte wie «Kraft» oder «Energie», die man vielleicht selbst nicht vollständig erfasst hat, weiterzugeben. Im Gegensatz zum Faktenwissen lassen sich abstrakte Konzepte aber nicht so leicht nochmals schnell nachlesen oder auffrischen. Denn ein konzeptuelles Verständnis geht über das korrekte Definieren von naturwissenschaftlichen Begriffen und Wiedergeben von auswendig gelernten Gesetzmässigkeiten hinaus. Es setzt voraus, dass die grundlegenden Prinzipien und Prozesse der Naturwissenschaften so verstanden werden, dass sie auf verschiedene Anwendungsbeispiele transferiert werden können.

Wenn die Schüler*innen mit der viel rezitierten Weisheit «Kraft mal Kraftarm ist Last mal Lastarm» zufrieden sind, so macht es keinen Unterschied, ob die Lehrperson solche Aussagen in ihren Tiefen erfasst hat. Es ist hingegen unmöglich, auf dieser Basis auf gute und wichtige Fragen der Schüler*innen adäquat einzugehen, geschweige denn den Unterricht so zu gestalten, dass die Schüler*innen ihre alltäglichen Vorstellungen in Richtung der wissenschaftlichen Sichtweise weiterentwickeln können. Um spontanen Gedankengängen der Lernenden zu folgen und die darunter möglicherweise verborgenen Überlegungsfehler aufzudecken, braucht die Lehrperson eine hohe Agilität und eine fundierte Fachlichkeit.

Die eigenen Kompetenzen reflektieren können Für das Integrationsfach «Natur und Technik» steht an den pädagogischen Hochschulen nur unwesentlich mehr Ausbildungszeit zur Verfügung als für andere, so genannte Einzelfächer. Die Zusammenführung der Unterrichtsfächer «Biologie», «Chemie» und «Physik» führte nicht zu einem Integrationsfach mit der dreifachen Lernzeit, sondern zu einer abgespeckten Variante mit weniger als der Hälfte davon. Die Überschneidung der Fächer ist hauptsächlich phänomenologisch, die zugrundeliegenden Konzepte sind sehr unterschiedlich und es geht in den Naturwissenschaften darum, ebendiese Konzepte zu verstehen. Fundierte Fachlichkeit bei Lehrpersonen zeichnet sich durch mehr Tiefe, nicht durch mehr Breite aus. Doch ein tiefergehendes Verständnis erlangen Studierende nur, wenn sie in ihrer fachwissenschaftlichen Ausbildung ihr konzeptionelles Verständnis weiterentwickeln müssen und dabei auch lernen, wie man (alleine oder kooperativ) sein eigenes Verständnis weiterentwickeln kann – auf diese Weise erhält das Fachwissen das nötige «Fundament».

Bei der Klassifizierung von Kraftwandlern mag das noch einigermassen leicht zu machen sein. Bei abstrakten Konzepten wie Molekülen oder dem Drehmoment hingegen dürfte das eine grosse Herausforderung darstellen. Zudem müssten bei einer konsequenten Priorisierung der Verständnistiefe zwangsläufig Konzepte weggelassen werden.

Oberflächliches Fachwissen allein reicht nicht aus, um die Relevanz korrekt zu verorten oder um affektive Bildungsziele formulieren zu können. Man kann methodisch-didaktische Entscheidungen kaum begründen und nur sehr schlecht beurteilen, wenn man ein abstraktes und stark vernetztes Gebiet unterrichtet, das man selbst nicht verstanden hat. Das kann dazu führen, dass man unreflektiert wiederholt, was man früher selbst gesagt bekam.

Erhebung des Konzeptverständnisses

Im Herbst 2017 hat die PH FHNW als letzte PH in der Deutschschweiz von den naturwissenschaftlichen Einzelfächern Physik, Chemie und Biologie auf das Integrationsfach «Natur und Technik» umgestellt. Damit einher ging eine Reduktion der fachwissenschaftlichen Ausbildung. An der Professur Naturwissenschaftsdidaktik am Institut Sekundarstufe I und II wird daher seit zwei Jahren systematisch das Konzeptverständnis der angehenden Lehrpersonen erhoben. Mit der Erhebung wird zu Studienbeginn, beim Bachelor- und beim Masterabschluss überprüft, inwiefern die Studierenden während ihrer Studienzeit ihr konzeptionelles Verständnis weiterentwickeln konnten. Neben dem Feedback, das die Studierenden erhalten, um gezielt Wissenslücken schliessen zu können, lässt sich daraus ableiten, inwieweit die Studierenden das fachliche Fundament erreichen, das sie später in der Praxis brauchen werden. Die Ergebnisse fliessen auch in die Weiterentwicklung des Fachs «Natur und Technik» im Studiengang Sekundarstufe I im Rahmen der Reakkreditierung 2024 ein. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Studierenden mit einer Wissens- oder Verständnisbasis ins Studium starten, die teilweise tiefer ist, als es aufgrund der abgeschlossenen Matura zu erwarten wäre. Kombiniert mit dem beschriebenen Ausbildungsvolumen im Integrationsfach «Natur und Technik» stellt dies eine grosse Herausforderung für die Ausbildung dar. Die systematischen Erhebungen mit den Studierenden leisten deshalb einen wichtigen Beitrag, um Defizite zu erkennen und die Ausbildung zielgerichtet zu optimieren.

Für eine erfolgreiche Entwicklung fundierter Fachlichkeit bei angehenden Lehrpersonen ist es umso wichtiger, dass fachwissenschaftliche und fachdidaktische Sichtweisen in der Ausbildung miteinander verzahnt werden, nicht zuletzt, weil die fachdidaktische Perspektive den Studierenden alternative Wege eröffnet, für sich selbst das Fachliche besser durchdringen zu können.

* fiktive Personen

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