substanz FHS St.Gallen - Nr.2/2019

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Brennpunkt – Raum

Zeit für Raum:

über die Grenzen von ­Mauern Claudia Züger

W

ir reden so oft über Räume wie noch selten. Derzeit scheint alles Raum zu sein, zu brauchen und zu haben. Raum schafft Platz und grenzt gleichzeitig ab. Aber was genau meinen wir, wenn wir «Raum» sagen? Und wie hat sich unser Verständnis dessen über die Jahre verändert? Ein Gespräch mit ­Christian Reutlinger, Leiter des Instituts für Soziale Arbeit und Räume, über ein neues altes Phänomen. Herr Reutlinger, in welchen Räumen halten Sie sich am liebsten auf? Christian Reutlinger: In Räumen, in denen ich meine Bedürfnisse situa­ tiv leben kann: Möchte ich Menschen treffen, sollten die Räume anders be­ schaffen sein, als wenn ich in Ruhe ein gutes Buch lese oder einen Text schreibe. Generell fühle ich mich in gestaltbaren, individualisierbaren und flexiblen Räumen am wohlsten.

Also macht Gestaltbarkeit einen guten Raum aus? Reutlinger: An allgemeingültige Kri­ terien für die Bewertung eines Raums glaube ich nicht. Dafür sind die Sicht­

weisen und Bedürfnisse der Menschen zu vielfältig. Ausserdem müssten wir zuerst klären, was genau wir meinen, wenn wir «Raum» sagen.

Dann frage ich Sie: Wie definieren Sie «Raum»? Reutlinger: Meines Erachtens gibt es keine Definition mit Gültigkeits­ anspruch, sondern vielmehr unter­ schiedliche Antworten auf vielfältige raumrelevante Fragen. Derzeit wird so oft über Räume geredet wie noch sel­ ten. Entfaltungsräume, Möglichkeits­ räume, Beteiligungsräume, Integra­ tionsräume, Kinder- und Altersräume, Sozialräume, öffentliche Räume – Raumbegriffe sind allgegenwärtig. In der Alltagssprache scheinen soziale und politische Phänomene, die sich wandeln, mit «Räumen» beschreibbar zu werden. Um den Überblick nicht zu verlieren und alles zum Raum wer­ den zu lassen, ist es also wichtig, zu sa­ gen, was wir mit dem Begriff eigent­ lich meinen. Als Sozialgeograf finde ich dieses «Räumeln im Alltag», die

­mnipräsenz des Raumes, inso­ O fern hoch spannend, als dass ich das Thema längst überwunden glaubte.

Was meinen Sie konkret mit der Überwindung des Raums? Reutlinger: Der Abbau von Grenzen und die damit verbundene Abkehr eines Denkens in kleinen Einheiten erreichte mit dem Ende des Kalten Kriegs in den 1990er-Jahren seinen Höhepunkt. Technologische und so­ ziale Errungenschaften ermöglich­ ten den Menschen, sich im gleichen Raum zu bewegen, ohne am selben Ort zu sein, mit Menschen zu kom­ munizieren, ohne sich gegenüberzu­ stehen. Die vormals enge Verschrän­ kung von Räumen mit bestimmten, auf dem Globus durch geografische Länge und Breite festgelegten Orten, wurde aufgelöst oder «entankert», wie es in der Fachsprache heisst.

Leben wir also in einer «entankerten» Welt, in der sich die Räume aufgelöst haben?

«DIE KOMPLEXITÄT HEUTIGER SOZIALER HERAUSFORDERUNGEN LÄSST SICH KAUM MIT DEM RÜCKZUG INS LOKALE LÖSEN.»

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