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Vorwort
Es gibt keinen Friedhof am serbischen Donauufer, auf dem nicht rumänische Staatsbürger bestattet sind. Es sind Grenzgänger, die in der Zeit des Kommunismus auf der Flucht aus Rumänien ums Leben gekommen sind. Sie sind entweder ertrunken, oder aber haben rumänische Grenzer sie ertränkt, erschossen oder mit Schnellbooten absichtlich überfahren. Manch einer von ihnen hat im Winter das serbische Ufer schwimmend erreicht und ist erfroren. Ein serbischer Grenzer begrüßt eines Tages einen Siebenbürger Sachsen nach dem Durchschwimmen der Donau mit den Worten: „Ihr Rumänen seid verrückt. Geht und schaut euch einmal auf den Friedhöfen um, wie viele Tote dort begraben sind.“ Ein Beispiel ist der Friedhof von Novi Sip, ein Ort im Nationalpark Eisernes Tor, der nach dem Bau der Staumauer am Durchbruch der Donau durch die Karpaten in den 1970er Jahren neu angelegt worden ist. Bei einem Besuch Anfang 1990 habe ich an den Gräbern jener rund 35 Männer gestanden, deren Leichen im Laufe von 19 Jahren ans serbische Ufer bei Novi Sip geschwemmt worden sind. Sie hatten die Freiheit gesucht, doch sie sind ums Leben gekommen. Kein Pfarrer und kein Angehöriger hat am Grab dieser Unbekannten gestanden. Wie viele tote Grenzgänger auf dem Friedhof des in den Fluten des Stausees am Eisernen Tor untergegangenen alten Sip begraben sind, weiß keiner. Die Toten von Novi Sip sind Opfer der gestürzten kommunistischen Diktatur in Rumänien. Identifiziert werden sie wohl nie. Fotografiert wurden die Leichen nicht - und die Gräber schweigen. Auch auf der rumänischen Seite liegen tote Grenzgänger begraben, und zwar auf dem Orschowaer Friedhof auf der Sternwaldwiese. Die Kreuze mit der Aufschrift „Unbekannt“ sind inzwischen verschwunden, die kleine Schlucht, in der die Ermordeten liegen, ist mit Müll verfüllt worden. Für die geknechteten Rumänen war Jugoslawien das Tor zur Freiheit - oder zur Hölle. Wer serbischen Boden betreten hat, war noch lange nicht frei. Tausende haben die Sperranlagen überwunden, Tausende sind über die Donau geschwommen oder gerudert: Rumänen, Ungarn, Deutsche, Zigeuner oder Serben. Viele von ihnen leben längst als freie Menschen im Westen. Aber für einen Großteil wurde das Freiheitstor zur Todesfalle. Die Serben haben auch Tausende von Flüchtlingen entsprechend einer bilateralen Vereinbarung an Rumänien ausgeliefert. Für sie hat die Hölle an der Grenze mit Prügel und Folter begonnen. Die in den Orten an der Donau Bestatteten sind nur ein Teil der Opfer an der rumänischen Westgrenze. An der grünen Grenze haben ebenfalls viele ihr Leben verloren. Manch einer von ihnen soll direkt an der Grenze verscharrt worden sein.
Was an der innerdeutschen Grenze geschehen ist, dürfte weitgehend geklärt sein. Wie die private Initiative „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ ermittelt hat, sind von 1946 bis 1989 an der Grenze 1008 Personen ums Leben gekommen. Dazu zählen auch Unfälle und Selbstmorde, ferner Todesfälle, wenn die Flucht über ein anderes Land wie beispielsweise Rumänien oder Bulgarien erfolgen sollte. 270 Personen sind durch Gewalteinwirkung an der Berliner Mauer getötet worden. Die innerdeutsche Grenze galt als die gefährlichste überhaupt, weil sie die am besten gesicherte im kommunistischen Lager war. Mehr als 1000 Tote - das ist eine hohe Zahl. Die rumänische Westgrenze war nach der innerdeutschen die wohl am besten bewachte im Ostblock: vor allem der Abschnitt im Südwesten zu Jugoslawien. Dort haben besonders viele die Flucht gewagt, weil sie ab Mitte der 1950er Jahre nicht mehr vermint war und Selbstschussanlagen fehlten. Wie viele Tote es dort gegeben hat, ist unbekannt, vielleicht sogar mehr als an der innerdeutschen Grenze. Über dieses dunkle Kapitel der kommunistischen Vergangenheit in Rumänien ist hingegen wenig veröffentlicht worden. Dazu gehört das viersprachige Buch „Die Grenze“ der Temeswarer Schriftstellerin und Journalistin Doina Magheţi, Mitherausgeberin dieses Buches, die sich mit dem Thema seit dem Fall des Kommunismus in Rumänien beschäftigt. Eigene Erlebnisse, einschließlich Foltermethoden, schildert der aus dem Banater Wiesenhaid stammende Journalist und Schriftsteller Siegfried Chambre in seinem autobiographischen Roman „Auf und davon oder Der Traum vom Roten Flugzeug“. Wie auch Unschuldige zu Grenzgängern gestempelt werden und was sie in Gefängnissen erwartet, beschreibt der aus Großkomlosch stammende Journalist und Schriftsteller William Totok in seinem Buch „Die Zwänge der Erinnerung. Aufzeichnungen aus Rumänien“. Über seine Flucht aus Rumänien berichtet Ludwig Höcher aus Dognatschka im Banater Bergland in dem Band „Seitenwechsel mit Schicksalskorrekturen. Die seltsamen und abenteuerlichen Erlebnisse in einer bewegten Zeit des 20. Jahrhunderts“. Der Kronstädter Karl-Rudolf Brandsch beschreibt seinen Fluchtversuch ebenfalls in einem Buch. Gegenwärtig verarbeitet der Temeswarer Schriftsteller Daniel Vighi seine Erfahrungen literarisch, die er binnen weniger Wochen während seiner Studentenzeit Mitte der 1970er Jahre an der grünen Grenze gesammelt hat. Es gibt bisher lediglich eine veröffentlichte Statistik über illegale Grenzübertritte in der Zeit des Kommunismus. Sie ist zu finden in einem Referat, das Doina Magheţi für die Gesellschaft für Bürgerrechte von Marmarosch-Siget verfasst hat. Die Statistik stützt sich auf Zahlen, die ihr offiziell zur Verfügung gestellt wurden. Den Angaben zufolge sollen binnen zehn Jahren, von 1980 bis 1989 rund 16000 rumänische Staatsbürger versucht haben, über die Westgrenze zu fliehen, davon sollen rund 12000 gefasst worden sein. Nach intensiven dokumentarischen Untersuchungen hat Dr. Stelian Mândruţ,
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Hauptmitarbeiter am Institut für Geschichte in Klausenburg, nur die Beiträge von Doina Magheţi in der historischen Bibliographie Rumäniens nach 1989 gefunden. Mândruţ hat in zweiwöchiger intensiver Recherche für dieses Buch eine Liste mit den Namen von mehr als hundert Geflüchteten zusammengestellt. Sie sind Sammelbuch-Enzyklopädien entnommen. Dazu gehört die Publikationsreihe „Wo sind die, die nicht mehr sind? Katalog der in kommunistischen Gefängnissen Ermordeten“, in der die Namen der Opfer alphabetisch genannt werden, ferner die inzwischen bis zum Buchstaben R gewachsene Reihe „Die Opfer des kommunistischen Terrors“ von Cicerone Ioniţoiu. Es ist fast nichts über Mord und Totschlag an der rumänischen Westgrenze dokumentiert: Grenzsoldaten und ihre Vorgesetzen führten den Schussbefehl gnadenlos aus; sie prügelten die gestellten Grenzgänger mit Gewehrkolben und Gummiknüppeln, manchmal auch bis zum Tod. Es war Methode, nicht die klügsten unter den Soldaten einzusetzen an der 994 Kilometer langen Westgrenze - 448 Kilometer zu Ungarn und 546 zu Serbien, davon 290 Kilometer Donauverlauf. Diese Gräueltaten der Grenztruppen, die dem Geheimdienst Securitate unterstellt waren, sind auch deshalb weitgehend unbekannt, weil Rumänien zum Unterschied von der DDR ausschließlich von kommunistischen Staaten umgeben war. Selbst im etwas liberaleren Jugoslawien hatte die Presse unter Tito Rücksicht auf die Nachbarn und ihre Befindlichkeiten zu nehmen. Über Mord und Totschlag an dieser Grenze konnte kaum einer berichten. Heute, 17 Jahre nach dem Sturz Ceauşescus, sind die Archive in Rumänien noch immer für Recherchen dieser Art unzugänglich. Das hat im Sommer 2007 die Societatea Timişoara (Gesellschaft Timişoara) erfahren, die sich vorgenommen hat, die Schandtaten des Kommunismus aufzudecken und die dafür Verantwortlichen anzuzeigen und anzuklagen. Im Frühjahr 2007 hat sie begonnen, in den Archiven des Geheimdienstes Securitate und der Militärstaatsanwaltschaft Beweise zu suchen für diese Verbrechen, die bis zum Sturz Ceauşescus im Jahr 1989 im Grenzabschnitt Hatzfeld begangen worden sind. Bis zum Herbst 2007 sollten Ergebnisse vorliegen. Das Vorhaben ist gescheitert. „Die Ergebnisse unserer Nachforschungen sind regelrecht entmutigend“, schreibt der Vizepräsident der Societatea Timişoara, Doru Botoiu. Er nennt die Gründe: Die Archive sind verstreut, ein guter Teil der Unterlagen wurde zerstört, sogar legal, und zwar wegen angeblichen Raummangels in den Archiven. Die Taten sind nach 15 Jahren verjährt. Die Informationsquellen sind uneinsehbar; Behörden verhindern Nachforschungen auf verschiedene Weise. Doch das Überraschende ist, dass fast keines der Opfer über sein Schicksal sprechen will. Die Ursachen sind vielfältig und komplex, aber die Hauptursache ist ihr Überdruss. Die meisten wollen ganz einfach vergessen. Ich selbst habe ähnliche Erfahrungen gemacht. Doch ich hatte es anscheinend leichter mit mei-
nen Recherchen, weil meine Gesprächspartner in Deutschland leben. Weil über Flucht, Schießbefehl, Folter, Totschlag und Mord an der rumänischen Grenze sehr wenig erschienen ist, stellt dieses Buch den Versuch dar, ein wenig Licht in all das zu bringen, was an der gutbewachten Westgrenze Rumäniens in der Zeit des Kommunismus geschehen ist. Es kommen Leute zu Wort, denen die Flucht gelungen ist, aber auch Geschlagene, Gefolterte und Erniedrigte. Inzwischen muss bezweifelt werden, dass jemals annähernd aufgeklärt werden kann, was an Grausamkeiten an der Grenze und danach in den Gefängnissen geschehen ist. Manche, die sich in diesem Buch zu Wort melden, haben ihre Erlebnisse selbst verfasst, andere haben lieber erzählt und das Niederschreiben mir oder anderen überlassen. Aus Rumänien stammende oder dort lebende Journalisten haben einige Beiträge zur Veröffentlichung bereitgestellt und mir mit Rat zur Seite gestanden. Den Kollegen Luzian Geier, Hans Fink, Cristian Ştefănescu, Franz Remmel und Michael Vastag sei Dank gesagt. Danken möchte ich auch den Historikern Stelian Mândruţ und Josef Wolf für ihre Unterstützung, ferner Georg Schmidt für seinen selbstlosen Einsatz bei der Gestaltung des Buches.
Johann Steiner Juni 2008