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Durch den Jauchegraben in die freie Welt
Stefan Engel:
Als Ingrid und Stefan Engel zusammen mit einem Bekannten am 25. Mai 1989 im Wagen eines Freundes von Triebswetter auf Feldwegen nach Albrechtsflor starten, ahnen sie nicht, dass sich schon vor der Ankunft in dem Grenzdorf Hürden aufbauen. In den Weingärten kommen sie an eine verschlossene Schranke, die sie aufbrechen müssen. An einer Brücke versperren ihnen zwei Pfosten Ingrid und Stefan Engel den Weg. Auch die müssen aus dem Weg geräumt werden. Kurz vor Albrechtsflor tauchen zwei Grenzsoldaten regelrecht aus dem schon ins Abenddunkel gehüllten Straßengraben auf und stoppen das Auto. Der zur Flucht entschlossene Bekannte legt sich quer auf die Hintersitze, damit ihn die Soldaten nicht sehen. Denn er ist der einzige im Wagen, der seinen Wohnsitz außerhalb der Grenzzone hat. Er würde sofort die Neugier und Aufmerksamkeit der Grenzer wecken. Die Soldaten sehen den Bekannten auf dem Rücksitz tatsächlich nicht. Ingrid und Stefan Engel sagen den Soldaten, sie wären auf dem Weg zu einer Feier bei einer bekannten Familie. Die Soldaten lassen den Wagen passieren. Ingrid (geboren 1955) und Stefan Engel (geboren 1952) steigen zusammen mit dem Bekannten in der Dorfmitte aus dem Auto und gehen in Richtung Grenze. Sie robben durch ein Zwiebelfeld. Plötzlich liegen sie im Scheinwerferlicht, dann fallen Schüsse. Die drei robben weiter und erreichen eine Stelle, an der kurz vorher noch Grenzsoldaten gelagert hatten. Vor einem Kanal bleibt Stefan Engel in Drähten hängen, es gelingt ihm aber, die Schelle zu fassen. Die drei steigen hinab in den Kanal und waten durch Jauche, die ihnen bis zum Hals reicht. In einem schier unüberwindbaren Zaun finden sie eine Lücke, die offenbar schon andere Grenzgänger genutzt haben. Dreckig, nass und frierend erreichen sie das serbische Dorf Mokrin. Es ist etwa 4 Uhr. Plötzlich nähert sich ihnen ein Trecker, auf dem ein Ehepaar sitzt, das ins Heu fährt. Die beiden können außer Serbisch auch Ungarisch. Der Bekannte der Engels, der Ungarisch spricht, bittet die beiden um Hilfe. Das Ehepaar ist bereit, den Flüchtlingen weiterzuhelfen, doch das Heu hat Vorrang. Sie müssen es einbringen. Die drei Flüchtlinge helfen im Heu. Am Abend nimmt das Ehepaar sie, versteckt unter Heu, mit nach Hause.
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Inzwischen wissen die Flüchtlinge, dass der jugoslawische Staat allen, die Flüchtlinge anzeigen, ein Jahr lang die Steuer erlässt. Das Ehepaar ist nicht scharf auf diese Prämie. Die Frau wechselt das rumänische Geld, das die Flüchtlinge bei sich haben, bringt sie nach Kikinda zum Bus, löst ihnen Fahrkarten nach Belgrad und rät den dreien, nicht zu sprechen. Ingrid und Stefan Engel und deren Bekannter erreichen Belgrad problemlos, stehen aber vor der verschlossenen deutschen Botschaft. Es ist Freitagnachmittag. Trotzdem öffnet ihnen eine Frau, die ihnen rät, sie sollten sich im UNO-Lager melden. Das wollen sie aber nicht, denn ein Bekannter sollte sie in Belgrad abholen.
Eine Frau, die aus einem Wagen mit deutschem Kennzeichen aussteigt, hilft ihnen. Sie ist Serbin und Gastarbeiterin in Deutschland. Die Frau schenkt ihnen Geld, damit sie telefonieren können. Die drei kaufen sich ein Kilogramm Orangen und je ein Baguette, um den Hunger zu stillen. Um Mitternacht verlassen sie den Wartesaal des Belgrader Bahnhofs, denn dann tritt die Putzkolonne an. Am Morgen teilt eine Mitarbeiterin der deutschen Botschaft ihnen mit, der Bekannte in Deutschland habe telefoniert, er könne sie nicht abholen. Die Frau rät ihnen, sich der jugoslawischen Polizei zu stellen. Ein Richter verurteilt sie zu je zwei Wochen Gefängnis wegen illegalen Grenzübertritts. Sie kommen nach Padinska Skela, wo auch das UNO-Lager untergebracht ist. Die Zustände im UNO-Lager sind schlimmer als jene im Gefängnis, sagt Ingrid Engel. Stefan Engel ist mit 17 Mann in einem Raum untergebracht, sie müssen sich zehn Betten teilen. Während die Männer von Bauern zur Feldarbeit abgeholt werden, müssen die Frauen im Lager bleiben, weil die Behörden fürchten, dass es dann zu Fluchtversuchen kommt. Nach einer Woche UNO-Lager geht es weiter in Richtung Westen. Familie Engel bekommt 3,4 Millionen Dinar von der deutschen Botschaft für Fahrkarten und Verpflegung. Es ist schon die Zeit der großen Inflation in Jugoslawien. Bei der Ankunft am 17. Juni 1989 in Nürnberg ist Stefan Engel in großer Sorge. Ärzte zweifeln, ob sein Bein noch zu retten ist. Zu große Gummistiefel haben im Gefängnis in Jugoslawien seinen Fuß aufgescheuert. Weil er nicht behandelt worden ist, hat sich die Entzündung bis zum Knie ausgebreitet. Doch er hat Glück, das Bein heilt. Die beiden Kinder der Familie Engel treffen am 2. Dezember 1989 in Deutschland ein, wenige Wochen vor dem Sturz Ceauşescus.
Familie Engel lässt sich in Sindelfingen nieder. Ingrid Engel findet Arbeit bei Bauknecht, wo sie bis zur Werkschließung arbeitet. Stefan Engel, der das Schreinerhandwerk erlernt hat, verliert seine Arbeit an Fronleichnam 2006, als eine Firma in Böblingen, die Edelholzteile für Autos gefertigt hat, die Produktion von heute auf morgen einstellt. Er ist arbeitslos.