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Tragödie mit zwei Toten

Josef Lowitz:

Was sich in der Nacht zum 22. Mai 1987 an der Karasch nahe der serbischen Grenze ereignet hat, kommt einer Tragödie gleich. Von fünf Grenzgängern aus der Gemeinde Senlein bei Arad kommen zwei ums Leben, einem gelingt die Flucht, zwei werden angeklagt und kommen ins Gefängnis. Die Securitate verhaftet die Fluchthelfer, die schon einige Flüchtlingsgruppen bis kurz vor die Grenze gebracht haben. Die Grenzer haben einem 24jährigen Mann durch Schläge mit dem Gewehrkolben anscheinend das Genick gebrochen, weil er sich angeblich zur Wehr gesetzt hatte. Ein zweiter Mann, Josef Lowitz' Bruder, wurde nach einer Woche tot unter einem Strohhaufen, zugedeckt mit einer Plastikplane, gefunden. Die beiden Brüder waren wegen des Regens mit Plastikplanen unterwegs. Josef Lowitz, Jahrgang 1945, vermutet, dass sich sein 56 Jahre alter Bruder bei Tagesanbruch unter das Stroh verkrochen hat, um sich zu tarnen, zu wärmen und auszuruhen, um in der kommenden Nacht loszugehen. „Wahrscheinlich hatte er sich bei Helligkeit auch ein genaueres Bild gemacht, wie er über die Grenze gelangen kann. Ich vermute, dass er unter dem Stroh eingeschlafen und an Unterkühlung gestorben ist. Es könnte aber auch anders gewesen sein“, mutmaßt Josef Lowitz. Josef Lowitz mit Bruder, dessen Sohn und den beiden anderen Grenzgängern erreichen am 21. Mai 1987 zusammen mit zwei Fluchthelfern das Grenzgebiet in einem Geländewagen hinter dem Ort Mercina. Ihr Pech: Der Fluss führt Hochwasser. Einer der beiden Schlepper, der aus der Grenzgegend stammt, sagt, er habe schon am Morgen vor der Abfahrt aus Arad Fănică, den Kopf der Schleuser, darauf aufmerksam gemacht, dass die Flucht wegen des Hochwassers verschoben werden sollte. Doch der habe angeordnet, dass die Flucht plangemäß stattfinden müsse. Josef Lowitz: „Das Geld hatte er kassiert, wahrscheinlich hoffte er, wir würden bei dieser Wetterlage heimkehren. Er aber hätte die Ausrede parat gehabt, wir hätten die Fluchtchance nicht wahrgenommen, um den Schlepperlohn behalten zu können.“ Fănică kannte einige Schwachstellen im Grenzabschnitt bei Mercina. Er war nicht so gut gesichert und auch nicht so gut bewacht wie der Abschnitt bei Ostern beispielsweise. Zäune fehlten. Bei zwei vorbereitenden Gesprächen sagte Fănică nie, wo es über die Grenze gehen soll. „Er log sogar. Er sagte, die Donau wäre an einer Stelle nur 7 Meter breit. Doch wir gaben nicht viel darauf. Denn wir wussten, dass mit Fănică bisher alle gut über die Grenze gekommen sind. Das gab uns Mut“, so Josef Lowitz weiter. Vor Orawitz staunt einer der Schlepper im Geländewagen beim Queren eines

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Karasch-Nebenflusses, wie viel Wasser der sonst harmlose Bach führt. Er fügt hinzu, die Karasch werde noch reißender und das gesamte Gelände überflutet sein. Es sei ratsam, das Unternehmen abzubrechen. Er habe Fănică gewarnt. „Wir aber vermuteten, dass die Schlepper uns kein zweites Mal zur Grenze fahren werden, falls wir umkehren. Dann hätten wir das viele Geld in den Sand gesetzt“, so Josef Lowitz weiter. Am Rand von Orawitz warten sie den Einbruch der Dunkelheit ab: die beiden Jungen, der 24-Jährige und Lowitz' noch jüngerer Neffe, mit den beiden Schleppern gehen in eine Gaststätte. Josef Lowitz, dessen Bruder und der Vater des 24-Jährigen bleiben im Geländewagen. Vor Verlassen des Wagens macht der eine Schlepper die beiden jungen Männer darauf aufmerksam, in der Gaststätte ja kein Wort Deutsch zu sprechen. Mit Beginn der Dämmerung geht es mit dem Geländewagen weiter. Der Fahrer verlässt die Orawitzer Straße. Mit ausgeschalteten Schweinwerfern geht es bis zu einem Kanal. Dort gibt ihnen einer der Schlepper die letzen Anweisungen. Der Kanal führt geradewegs zur Karasch, die die Flüchtlinge überqueren müssen. Danach sind es noch 4 Kilometer bis zur Grenze. Serbien liegt hinter einem Berg.

Als die fünf die Karasch erreichen, können sie das andere Ufer nicht sehen, so sehr ist der Fluss angeschwollen. Der 24jährige, ein sportlicher Typ, versucht vergebens, den Fluss an einer ausgesuchten Stelle mit einem aufgeblasenen Fahrzeugschlauch zu überqueren. Er kehrt um, testet eine andere Stelle und gelangt ans rechte Ufer. Wieder zurück, fragt er, wer zuerst mit will. Als erster meldet sich Josef Lowitz und danach sein Bruder. Mit Glück setzen sie über, und der 24-Jährige paddelt zurück, um seinen Vater und Josef Lowitz' Neffen abzuholen. Die Zeit wird Josef Lowitz und seinem Bruder schließlich zu lange; sie sind sehr besorgt und ungeduldig. Sie sind sich nicht mehr sicher, ob die drei anderen es noch schaffen werden, den Fluss zu überqueren. „Mein Bruder sagte mir, geh mal links am Fluss entlang und sehe nach, ob die an einer anderen Stelle ankommen“, so Josef Lowitz, „ich hingegen meinte, eher müsste ich in die andere Richtung gehen, weil das Wasser dorthin fließt und sie nur dahin abgetrieben werden können. Trotzdem ging ich flussaufwärts, also in die Richtung, die mir mein Bruder bedeutet hatte. Nach einem guten Stück Weges bin ich unverrichteter Dinge umgekehrt. Meinem Bruder, der in die andere Richtung gegangen war, ist es nicht anders ergangen. Die Moral meines Bruders verschlechterte sich schlagartig, weil sein Sohn fehlte. Wir entschieden. loszugehen.“ Doch die beiden Brüder sind sich über die einzuschlagende Richtung nicht einig. Josef Lowitz' Bruder sieht in der Ferne elektrische Beleuchtung und meint, das sei die richtige Richtung, denn die serbischen Ortschaften seien zum Unterschied von den rumänischen beleuchtet. Josef erinnert den Bruder an das,

was die Schlepper ihnen eingeschärft haben: Sie sollten geradezu auf den Berg zugehen, denn auf dessen Höhe verlaufe die Grenze. Josef Lowitz weiter: „Es ist nicht zu fassen, aber wir trennten uns gleich am Fluss, und keiner wusste, ob er den richtigen Weg nimmt.“ Josef Lowitz stampft barfuß durch den morastigen Boden. Um die Richtung geradeaus halten zu können, muss er die beleuchtete Ortschaft stets zu seiner Linken haben. Doch nach einem Marsch von etwa einer Stunde sieht Josef Lowitz nur noch unendlich scheinendes Wasser zur Linken. In diesem Augenblick „dachte ich, da kann mein Bruder bestimmt nicht weiter“, sagt Josef Lowitz. Und heute ist er sich sicher, der Bruder habe die Marschrichtung ändern müssen, denn er sei rechts von der von ihm eingeschlagenen Richtung auf rumänischer Seite gefunden worden. Josef Lowitz geht und geht, tappt aber plötzlich in einen Kanal. Das Wasser reicht ihm zum Glück lediglich bis zum Bauch. Er durchwatet ihn und setzt den Weg durch Morast fort. In einiger Entfernung macht er etwas Baumhohes aus, was noch dunkler ist als die Nacht. Er vermutet ein unbeleuchtetes rumänisches Dorf vor sich. Er nähert sich dem Unbekannten allmählich und wundert sich, dass keine Hunde bellen, denn das gehört schließlich zu einem Dorf. Dann klärt sich alles auf: Josef Lowitz steht vor einem etwa 5 Meter breiten Busch- und Baumgürtel. Er durchschreitet ihn und steht vor einem Gewässer, in das er hineinrutscht. Das Wasser reicht ihm bis zum Nabel, und weil er feststellt, es wir noch tiefer, kehrt er um und wartet bis zum Morgengrauen, um festzustellen, wo er sich befindet. Als es hell ist, steht fest, er ist an einem Kanal, dessen Ufer von Gebüsch und Bäumen bewachsen sind. Beim Blick zurück in die Richtung, aus der er gekommen ist, fällt im in etwa 400 Metern Entfernung ein hoher metallischer Beobachtungsturm auf. „Ich war überglücklich, ich dachte schon, ich wäre schon über der Grenze“, so Josef Lowitz, „doch der Kanal war die Grenze, ich war auf der rumänischen Seite, wusste es nur noch nicht. Erst in Werschetz sagte mir ein junger Rumäne, der Grenzer war und geflüchtet ist, dass die Beobachtungstürme ein Stück vor der Grenze stehen.“ Josef Lowitz kann als Nichtschwimmer den Kanal schließlich an einer Stelle überqueren, wo sich Geäst angesammelt hat und der Ast eines Baumes knapp über dem Wasser bis zum andern Ufer reicht. Am anderen Kanalufer entdeckt er einen Grenzmarkierungspfahl mit blau-weiß-roten Streifen und rotem Stern im weißen Feld. „Jetzt war ich mir sicher, und ich bin rasch landeinwärts gegangen. Rechts vor mir war der Hügel, den ich hätte überschreiten sollen, ich vermute, dass ich ein wenig von der vorgegeben Route abgekommen bin. Ich ging und ging, hatte aber etwas Sorgen, ich wollte keineswegs auf rumänisches Territorium gelangen.“ Sein erstes Ziel ist die Ortschaft Jablanka. Doch kein Ort, nichts ist zu sehen, außer einem Feldhaus, an dem er vorbeikommt. Er erreicht eine Telefonleitung,

folgt ihr bis zu einer Asphaltstraße. Ein Autofahrer stoppt, der Rumänisch und ein wenig Deutsch spricht - er war Gastarbeiter in Österreich. Er fragt, wie Lowitz bei solch einem Wetter durchgekommen sei, nimmt ihn mit und liefert ihn der Werschetzer Polizei aus, die ihm einen Elektrostrahler zur Verfügung stellt, damit er sich wärmen und trocknen kann. Im Verhör wollen die Polizisten wissen, wo er über die Grenze gekommen ist, sie legen ihm deshalb eine Landkarte vor. Ein Richter verurteilt ihn zu zwei Wochen Gefängnis wegen illegalen Grenzübertritts. Josef Lowitz kommt ins Gefängnis nach Werschetz. Ein serbischer Arbeiter schmuggelt ihm einen Brief aus dem Gefängnis, den Lowitz an seinen Schwager in Deutschland gerichtet hat. Den Brief bewahrt er noch heute als Andenken auf. Im UNO-Lager von Padinska Skela, wo er eine Woche lang bleibt, erlebt er, dass viele geflüchtete Rumänen nach Orawitz zurückgeschickt werden, die wenigsten dürfen bleiben und in andere Staaten auswandern. Beim UNO-Sitz in Belgrad und in der deutschen Botschaft erfährt er, dass Verwandte aus Deutschland schon wiederholt nach ihm gefragt hätten. Josef Lowitz kommt am 11. Juni 1987 in Nürnberg an, wo er „einerseits glücklich war, es geschafft zu haben, andererseits aber sehr betrübt, weil den anderen die Flucht misslungen ist und ich außer Gratulationen verschiedene Vorwürfe einstecken musste. So wie ich hätten alle Beteiligten durchkommen können.“ Die drei anderen hatten Pech. Josef Lowitz weiter: „Es war schon hell, der 24Jährige ließ seinen Vater und meinen Neffen zurück. Er wollte vorausgehen, um zu sehen, wie sie zur Grenze gelangen können. Doch er lief geradezu auf den Grenzerstützpunkt zu. Weil er sich angeblich zur Wehr gesetzt hat, ist ein Grenzer auf ihn losgegangen und hat ihm mit dem Gewehrkolben das Genick gebrochen. Ein Schäfer hat die beiden anderen entdeckt und verraten. Sie sind verurteilt worden. Passiert ist viel bei unseren Landsleuten, dass mein Fall so ausgegangen ist, macht mich oft fertig.“ Nach der Registrierung lässt sich Josef Lowitz in Lenting bei Ingolstadt nieder, wo er heute mit seiner Familie lebt, die Rumänien am 5. September 1989 verlassen durfte. Die Familie seines Bruders hat Rumänien ebenfalls im Sommer 1989 verlassen.

Zu denen, die vor Josef Lowitz bei Mercina mit Hilfe derselben Schlepper über die Grenze gegangen sind, gehören auch Franz Biringer und seine vier Kameraden. Ihre Geschichte steht vor der Lowitz-Story in diesem Buch.

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