11 minute read

István-BasilikaBeichte in der Szent

Elfriede Kurusz:

Beichte in der Szent-István-Basilika

Advertisement

Von ihrer Flucht weiß lediglich die Schwester. Denn auch sie will weg. Als am 25. August 1987 für Elfriede Kurusz endgültig feststeht, dass sie flüchten wird, überlegt es sich die bis dahin gleichgesinnte Schwester doch anders. Eine Flucht erscheint der auf Insulin angewiesenen Diabetikerin zu riskant. Sie hat Angst, wenn sie ins Gefängnis kommen sollte, ohne das lebenserhaltende Medikament dazustehen, erzählt Elfriede Kurusz. Fluchtgedanken beschäftigen Elfriede schon seit langem. Sie hat drei Kinder, die Lage in Ceauşescus Rumänien wird immer schlechter. Das Entgelt ist kläglich, das sie als Mitglied der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) erhält. Von ihrem Mann hat sie sich schon einmal getrennt, ist aus der Stadt Arad weggezogen nach Altbeba zu ihren Eltern. Inzwischen hat sie sich wieder mit dem Mann versöhnt. Auch er will Rumänien verlassen, doch er ist unentschlossen, mal will er die Flucht wagen, das nächste Mal wieder nicht. Er hat Angst, erwischt zu werden. Elfriede Kurusz will aber nicht länger warten; sie will keinen weiteren Ausreiseantrag stellen, um vielleicht in einem Jahr erneut eine Absage zu bekommen. Sie weiß ganz genau, dass eine Flucht über die rumänische Grenze gefährlich ist. Die Soldaten schießen, wenn der Flüchtende nicht stehen bleibt. Erst vor wenigen Monaten, am 29. Mai um 19.30 Uhr, ist bei Altbeba der Student Gheorghe Leonte beim Fluchtversuch erschossen worden, obwohl er schon in Ungarn war. Der junge Mann hatte sich als Erntehelfer in der LPG einstellen lassen, um seinen Fluchtplan leichter verwirklichen zu können. Dieser Fall beschäftigt auch die Medien im Westen. Der berittene Grenzsoldat muss auf Befehl die Verfolgung über die Grenze aufnehmen. Weil sich der geflüchtete Student mit einer Heugabel wehrt, eröffnet der Soldat das Feuer. „Der arme Soldat war fix und fertig. Die eigentlich Schuldigen waren ein paar supergescheite Parteimitglieder, die ihn genötigt haben, dem Flüchtling nachzureiten und ihn zurückzubringen“, erinnert sich Elfriede Kurusz. Die Ungarn sind herbeigeeilt und waren fuchsteufelswild, aber geholfen hat das niemandem. Der Soldat wurde verurteilt, nicht weil er geschossen, sondern weil er fremdes Territorium betreten hat. Das ist einem Referat zu entnehmen, das die Temeswarer Journalistin Doina Magheţi auf einem Symposion zum Thema „Die Einsetzung des Kommunismus - zwischen Widerstand und Repression“ im Juni 1995 in Marmarosch-Siget gehalten hat. Doch zurück zum 25. August 1987. Es ist Mittag. Die Augustsonne brennt unerbittlich auf die Banater Ebene, als sich die am 13. Mai 1960 geborene junge Frau mit dem Fahrrad in Richtung ungarische Grenze aufmacht. Elfriede Ku-

rusz will zum Unterschied von den meisten Grenzgängern am hellen Tag türmen. Sie hat sich für die Flucht über Ungarn entschlossen. Sie weiß, dass die rumänisch-jugoslawische Grenze viel besser bewacht ist, denn sie ist in Altbeba aufgewachsen. Es ist das Dorf, das genau an der Ecke liegt, wo sich Rumänien, Serbien und Ungarn berühren. Außerdem spricht sie ganz gut Ungarisch. Elfriede Kurusz besitzt ein Maisfeld hart an der ungarischen Grenze. Es ist eine Parzelle, die die LPG ihr zur privaten Nutzung zugeteilt hat. Elfriede Kurusz tut so, als ob sie mit dem Fahrrad in der Parzelle junge Maiskolben ernten wollte. Die Maiskörner sind im August noch zart und schmecken gekocht vorzüglich. Es ist also kein Problem für sie, in Grenznähe zu kommen. Elfriede Kurusz isst zu Mittag, zieht mehrere Schichten Unterwäsche an, steigt aufs Fahrrad und radelt zur Grenze. Sie kommt im eigenen Maisfeld an, lässt das Fahrrad stehen und geht los. Sie weiß: Der Augenblick ist günstig. In einiger Entfernung zu ihrer Linken bewacht ein Soldat Bauern, die eben Heu wenden. Zur Rechten ist ein Soldat abgestellt, um diejenigen am Weglaufen zu hindern, die Stroh pressen und zum Abtransport verladen. Sie überblickt alles; die Soldaten achten auf das, was in ihrer unmittelbaren Nähe geschieht. Nur noch ein 50 Meter breites Stoppelfeld trennt sie von dem sorgfältig geharkten Grenzstreifen. Elfriede Kurusz beginnt zu laufen, gelangt unbemerkt nach Ungarn, sucht Schutz in Maisfeldern und umgeht das ungarische Dorf Kübekhausen, um nicht zufällig verraten oder von ungarischen Grenzposten aufgegriffen zu werden. Sie erreicht eine Bushaltestelle, braucht aber nicht auf den Bus zu warten, denn ein Fahrer hält und nimmt sie mit. Er fährt in einem staatseigenen Auto zusammen mit einer Frau durch die Dörfer, um die Bestellungen der Länden entgegenzunehmen. Elfriede Kurusz fährt mit den beiden von Dorf zu Dorf. Ist die Frau wieder einmal in einem Geschäft, beginnt der Fahrer sie auszufragen. Anfangs erzählt die Geflüchtete ihm die Geschichte vom bunten Hund. Doch schließlich sagt Elfriede Kurusz ihm die Wahrheit: Sie wolle nach Budapest. Der Fahrer rät ihr, unbedingt die Stadt Segedin zu meiden, weil sich dort viel Polizei und Grenzer umhertreiben. Der Fahrer hilft ihr weiter. Er hält einen Lastwagen an und bittet den Kollegen, die junge Frau mit nach Budapest zu nehmen. Um 20 Uhr erreicht Elfriede Kurusz die ungarische Hauptstadt und besucht die Schwiegermutter ihres Vetters. Der Cousin - er und sein Bruder haben Rumänien 1972 illegal verlassen - wollte eigentlich in Budapest auf sie warten. Doch die Flucht der Cousine hat sich um zwei Wochen verzögert wegen der Unentschlossenheit ihres Mannes. Der Vetter muss heim nach Deutschland, der Urlaub neigt sich dem Ende zu. Elfriede Kurusz ist deshalb auf sich allein gestellt. Mitarbeiter der deutschen Botschaft teilen der Geflüchteten mit, sie könnten ihr nicht weiterhelfen, sie sollte sich den rumänischen Behörden stellen. Elfriede Kurusz ist verzweifelt. Sie sucht Rat in der Kirche, geht beichten in Szent István, der dem heiligen Stephan, dem ersten König der Ungarn, geweihten Basilika in Buda-

pest. Sie beichtet dem Pfarrer ihre Fluchtgeschichte. Der rät ihr, nach Fünfkirchen zu fahren und dort mit einem Pfarrer Kontakt aufzunehmen. Der könne ihr weiterhelfen. Denn in dem Wallfahrtsort Mária Gyd habe sich ein Schlupfloch in der Grenze aufgetan. Dort fliehen Leute aus der DDR in Scharen nach Kroatien. In Fünfkirchen angekommen, erfährt sie, dass das Schlupfloch inzwischen gestopft ist: Ungarn lässt die Grenze besser bewachen. Nach einer Übernachtung in Fünfkirchen fährt Elfriede Kurusz zurück, ostwärts in Richtung Segedin. Sie ist jetzt einen Steinwurf weit von zu Hause entfernt. Sie übernachtet in einem Waldstreifen an der ungarisch-serbischen Grenze. Am Morgen robbt sie durch ein Sojabohnenfeld und kommt problemlos über die Grenze. Ihr Proviant bleibt auf der ungarischen Seite zurück. Weil der Durst sie plagt, trinkt sie Wasser aus einem Kanal und wird krank. Sie geht trotzdem weiter und sucht sich ein Quartier. Dabei kommt ihr zugute, dass in den 1970er und 1980er Jahren zwischen Rumänien und Serbien ein reger kleiner Grenzverkehr herrscht. Auserwählte Personen erhalten Pässe, die zu Tagesbesuchen im grenznahen Ausland berechtigen. Übernachtungen sind eigentlich verboten, doch viele setzen sich darüber hinweg. Elfriede Kurusz gibt sich als eine der Besucherinnen aus und übernachtet bei einer jungen Familie. Weil auch im serbischen Teil der Batschka, dem Landstrich zwischen Donau und Theiß, ebenso Ungarn leben wie im serbischen Teil des Banats, der sich nordwärts von Belgrad östlich der Theiß erstreckt, kann sich die 27 Jahre alte Flüchtende gut verständigen. Sie fragt den Busfahrer auf ungarisch, wie deutsche Botschaft auf serbisch heißt. Mit dem Bus geht es nach Belgrad. Dort kann sie dem Taxifahrer die beiden serbischen Wörter nemačka ambasada sagen, und der fährt sie zum angegebenen Ziel, der deutschen Botschaft. In der Botschaft erfährt sie, dass sie ins Gefängnis muss, erst dann geht es weiter in Richtung Westen. Vor ein paar Jahren war das noch ganz anders. Deutsche aus Rumänien, die die Botschaft erreicht hatten, ohne dass serbische Polizei oder Grenzer sie erwischt hatten, haben Pässe und Geld für die Fahrkarte nach Nürnberg erhalten und konnten sofort weiter. Inzwischen lassen sich die Serben das gute Geschäft mit den Flüchtlingen nicht mehr verderben. Denn für jeden Flüchtling, der wegen illegalen Grenzübertritts im Gefängnis sitzt, kassiert der jugoslawische Staat täglich 90 Dollar von der UNO. Deshalb stehen dauernd drei Polizisten vor dem nah zur deutschen Botschaft gelegenen Büro des UNO-Flüchtlingshilfswerks und fangen die Grenzgänger nach dem Besuch des Büros ab und bringen sie ins Gefängnis, wo sie wegen illegalen Grenzübertritts verurteilt werden. Elfriede Kurusz erzählt dem Mann im UNO-Büro ihre Fluchtgeschichte in gebrochenem Englisch, um anschließend zu erfahren, dass der eigentlich Rumänisch kann. Im Polizeirevier trifft sie einen Jungen, der sich nach dem Grenzübertritt bei Stamora-Morawitz bis nach Belgrad durchgeschlagen hat.

Beim Verlassen des Polizeireviers rät ein Polizist ihr, eine Nacht in einem Hotel zu verbringen, ehe sie ins Gefängnis gehe. Doch das ist ausgeschlossen, weil sie keinen Pass vorweisen kann. Elfriede Kurusz ist mit den Nerven am Ende; Durchfall plagt sie, seit sie das Wasser aus dem Kanal getrunken hat. Elfriede Kurusz geht in eine Gaststätte, kann dem Kellner nicht klar machen, dass sie Suppe essen möchte. Der bringt ihr Schnaps und Cevapčić. Sie isst trotz der Erkrankung. Sie kauft Brot, Käse und Butter und stellt sich der Polizei, die sie ins Präsidium fährt. Dort trifft sie ein aus dem Städtchen Lugosch stammendes Ehepaar. Elli und ihr Mann sind 20 Kilometer vor der Grenze in Ungarn in die Donau gegangen. Mit dem Strom haben sie sich über die Grenze treiben lassen. Weil sie ihre in einen Plastiksack gesteckten Kleider dabei hatten, konnten sie sich nach dem Verlassen der Donau ankleiden und per Anhalter nach Belgrad gelangen. Den zweiten Plastikbeutel mit dem Proviant hat die Donau mitgenommen. Elfriede Kurusz teilt anfangs die Gefängniszelle mit Elli; später werden Prostituierte und eine Zigeunerin zu ihnen in den Raum gesteckt. Die beiden Banater Frauen helfen einander. Elli hat Antibiotika und stopft die kranke Elfriede Kurusz damit voll. Die von Durchfall Geplagte hat Lebensmittel, die sich Elli jetzt munden lässt. Am nächsten Tag steckt der Gefängnisdirektor die beiden Banater Frauen in Quarantäne, weil er eben gehört hat, dass in Rumänien angeblich Cholerafälle in der Nähe des Schwarzen Meeres aufgetreten seien. Eine Richterin verurteilt Elfriede Kurusz und die Lugoscher Eheleute zu je 15 Tagen Gefängnis wegen illegalen Grenzübertritts. Alle unterschreiben das Urteil, obwohl sie es nicht lesen und verstehen können. Sie kommen nach Padinska Skela ins Gefängnis und wieder in Quarantäne. Doch am nächsten Tag stellt ein Arzt auf Anhieb fest: kein Choleraverdacht. Die Gefängniszeit ist arbeitsreich. Morgens müssen sie den Frauentrakt des Gefängnisses reinigen. Danach schälen sie bis in den späten Abend hinein Zwiebeln für eine Konservenfabrik. Elfriede Kurusz ist in einem Raum mit etwa 20 Frauen untergebracht. Er ist überfüllt und wird in der Nacht verriegelt. Einziger Trost: Das Essen, vor allem das Brot, ist gut. Bei der Entlassung bekommen sie sogar ein wenig Geld für die geleistete Arbeit. Im UNO-Lager erfährt Elfriede Kurusz, dass die verschiedenen Nationalitäten aus Rumänien unterschiedlich behandelt werden. Die Deutschen werden nach Absitzen der Strafe nach Deutschland weitergeleitet. Rumänen aber werden zurückgeschickt, wenn sie nicht die richtigen Antworten geben. Wer seine Flucht nicht politisch motiviert, sondern wirtschaftliche Gründe angibt, wird den Rumänen überstellt. Das bedeutet, dass er verurteilt wird, aber zu den politischen Gefangenen kommt. Von Baptisten ist wohl kaum einer ausgeliefert worden, denn sie gehörten zu den wegen ihres Glaubens in Rumänien Verfolgten und hatten eine starke Lobby in Amerika. Sie sind die einzigen, die in jenen Jahren problemlos in die USA

einreisen können. Einfach ist es auch für junge Leute, die einen gesuchten Beruf haben. Sie können leicht nach Australien, Südafrika oder Kanada einwandern. Nach 15 Tagen Haft durchlaufen Elfriede Kurusz und das Ehepaar aus Lugosch die gleiche Prozedur wie viele andere Flüchtlinge. Passfotos anfertigen lassen und in der deutschen Botschaft abgeben, dann Fahrkarten kaufen für die Reise nach Nürnberg. Die drei fragen auf dem Belgrader Bahnhof, ob ihr Geld auch für Liegewagen ausreicht. Die Antwort heißt ja, und sie entscheiden sich für die bequemere Art zu reisen. Denn von den Dinar, die sie in der deutschen Botschaft erhalten haben, dürfen sie keine ausführen. Elfriede Kurusz fährt nach Ulm statt nach Nürnberg, weil ihre Verwandten, die beiden Kurusz-Vettern, dort wohnen. Im Zug kommt sie mit zwei deutschen Frauen ins Gespräch, die aus dem serbischen Teil des Banats stammen. Sie schenken ihr 20 Pfennig für ein Telefongespräch. Als der Zug am 9. September 1987 in Neu-Ulm vor einem auf Rot geschalteten Signal hält, springt Elfriede Kurusz aus dem Zug. Sie geht zu einer Telefonzelle, ruft bei einem ihrer Vettern an. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Doris, die Tochter des Vetters. Weil die Neuangekommene weiß, dass sie vor dem Polizeigebäude in der Telefonzelle ist, kann Doris sie abholen. Die Verwandten kümmern sich um sie, kleiden sie ein, besorgen ihr eine Wohnung. Sie arbeitet anfangs als Putzfrau; sie hat keinen Beruf. Weil ihr einiges, was sie in Jugoslawien erlebt hat, keine Ruhe lässt, wendet sie sich an den damals noch in München beheimateten Radiosender „Freies Europa“. Elfriede Kurusz hat Erfolg, der Sender strahlt ihre Geschichte aus. Sie möchte, dass rumänische Flüchtlinge wissen, was sie bei der Ankunft in Jugoslawien zu sagen haben, damit sie nicht an Rumänien ausgeliefert werden. Sie möchte auch die Missstände im UNO-Lager anprangern. Der Kontakt zum Radiosender lohnt sich: Elfriede Kurusz wird ständige freie Mitarbeiterin. Die Redaktion setzt sie in erster Linie als Übersetzerin ein. Weil der Sender sie nach zwei Jahren nicht fest einstellen will, muss sie aussetzen, sechs Monate lang, wie ihr mitgeteilt wird. Inzwischen studiert sie längst Religionspädagogik. Doch weil jetzt, nach zwei Jahren, ihre drei Kinder und der Mann ausreisen dürfen, ändert sich die Lage. Fürs Studium bleibt kaum Zeit übrig. In einem Lebensmittelmarkt findet sie eine Anstellung als Kassiererin. Eines Abends - wir schreiben das Jahr 1990 - steht ein Mann mit seiner hochschwangeren Frau an der Kasse und fragt, ob sie nicht in einer Bank als Kassiererin beginnen wolle. Sie will, gibt dem Mann ihre Telefonnummer, und der ruft sie auch bald an. Er ist der Leiter der Hypo-Bank München-Nord. Die Filiale hat mit den vielen nahegelegenen Hotels zu tun, und ausgebildete Bankkaufleute wollen in jenen Jahren nichts mit Kassemachen zu tun haben. Das ist die Chance für Elfriede Kurusz. Nach ein paar Jahren bewirbt sie sich um eine intern ausgeschriebene Stelle und wird zuständig für den Auslandszahlungsverkehr der Bank.

This article is from: