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Die Prügelorgie dauert eine Nacht
Reinhold Herman, Erika und Wilhelm Lederer:
Drei Anläufe haben Erika und Wilhelm Lederer aus Hermannstadt gebraucht, um in die Freiheit zu entkommen. Den zweiten Fluchtversuch werden das Ehepaar und Erika Lederers Bruder Reinhold Herman nie vergessen. Sie treffen auf der ungarischen Seite, aber auch auf der rumänischen in den Grenzsoldaten alte Bekannte. Die ungarischen Grenzer laden sie zu Kaffee und zu einem Imbiss ein - die rumänischen Kollegen verprügeln sie. Wilhelm Lederer Erika und Wilhelm Lederer spricht von den Prügeln seines Lebens. Als die Ungarn die drei Flüchtlinge am Grenzübergang Borş abliefern, sind die Offiziere im Grenzerstützpunkt betrunken. Sie erteilen den Soldaten den Befehl, die drei Flüchtlinge zu schlagen. Mit einem Handschellenpaar machen sie Wilhelm Lederer (geboren 1960 in Schäßburg) und Reinhold Herman (geboren 1964 in Neumarkt am Mieresch) an einem Heizkörper fest und beginnen dreinzuschlagen: mit Fäusten, Gewehrkolben, Stühlen und Gummiknüppeln. Reinhold Herman erinnert sich: „Lediglich einer, ein Klausenburger, hat so getan, als ob er prügeln würde, aber die ganz Dummen haben aus Leibeskräften zugeschlagen“. Reinhold Herman setzt sich zur Wehr, greift einem Soldaten an die Gurgel und lässt nicht mehr los, bis seine Kameraden ihm zu Hilfe eilen. Die Grenzer lassen von den beiden erst am Morgen ab. Die Folge: Lederer platzen die Hosen, Herman hat Blut im Urin. In den nächsten Tagen können sie nicht stehen und nicht gehen. Die Grenzsoldaten misshandeln auch Erika Lederer (geboren in Neumarkt am Mieresch). Sie erteilen ihr den Befehl, die Position „Zwiebelernten“ einzunehmen. Als sie sich bückt, schlägt einer der Grenzer einen Besenstiel auf ihrem Rücken entzwei. Der Aufforderung, dem Schäferhund die Hand zu reichen, kommt Reinhold Herman nicht nach. Wahrscheinlich hätte der Hund zugebissen und nicht mehr losgelassen, bis er dazu aufgefordert worden wäre, vermutet Reinhold Herman. Während die Grenzer auf Erika Lederer einschlagen, hört sie, wie andere ihren Mann und ihren Bruder im Nebenraum verprügeln. Die Orgie hält so lange an, bis sie ihren Mann bewusstlos in einer Decke hinaustragen und mit Wasser wiederbeleben. Nach den Prügeln führt einer der Offiziere Erika Lederer in einen anderen Raum und fordert sie auf, sich auszuziehen, weil er angeblich versteckte Sachen
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suchen wolle. Was dann folgt, kommt einer Vergewaltigung gleich, sagt Erika Lederer. Selbst in den After greift ihr der Offizier. Das ganze hört auf, als ein zweiter Mann in den Raum tritt. Der Staatsanwalt, dem die drei am nächsten Tag vorgeführt werden, sagt Erika Lederer, sie hätte sich gegen die Leibesvisite wehren können und sollen. Der Staatsanwalt zeigt sich entsetzt über das, was die Grenzer den beiden Männern angetan hatten. Die Prügel sind erstaunlicherweise auch im Prozess zur Sprache gekommen. Erika und Wilhelm Lederer werden zu einem Jahr und Reinhold Herman zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Weil die Gefängnisse in Rumänien zu jener Zeit schon längst überfüllt sind, werden die drei nach sieben Wochen Untersuchungshaft auf freien Fuß gesetzt. Sie müssen sich an ihrem alten Arbeitsplatz melden, erhalten aber lediglich 30 Prozent ihres Lohnes. Während Erika Lederer in ihrer alten Dienststelle weiterarbeiten kann, wird ihrem Mann der Wiedereintritt von seiner alten Firma verwehrt. Der Geheimdienst sorgt sogar dafür, dass er auch in keinem anderen Betrieb unterkommt. Die Lederers wissen kaum noch, wovon sie in jenen Hungerjahren in Rumänien leben sollen. Erika Lederer gelingt es, die Vorgesetzten in ihrer Firma zu überzeugen, ihren Mann einzustellen. Die tun es nur auf das Versprechen hin, dass sie keinen weiteren Fluchtversuch unternehmen werden. Nach der ersten Flucht Ende September 1986, die Erika und Wilhelm Lederer allein gewagt haben, sind sie zu je sechs Monaten Arbeit am Arbeitsplatz verurteilt worden. Ungarn haben sie erreicht nach einer Fahrt mit der Eisenbahn von Hermannstadt nach Großwardein. Vom Stadtrand folgen sie einer Pipeline in Richtung Grenze. Vor Tagesanbruch sind sie in Ungarn. Ihr Ziel ist die serbische Grenze im Süden. Doch ein Mann, der sie am frühen Morgen sieht, verrät sie, um den Judaslohn zu kassieren. Die Grenzer servieren ihnen Kaffee und laden sie zum Imbiss ein. Sie machen ihnen deutlich, dass sie entsprechend dem Auslieferungsabkommen zwischen Ungarn und Rumänien abgeschoben werden. Dieses Mal begrüßen die rumänischen Grenzer sie auch unhöflich, doch sie schlagen sie wenigstens nicht. Nach sechs Wochen Untersuchungshaft, in der sie nicht arbeiten und kaum die Zelle verlassen dürfen, spricht ein Richter das Urteil: je sechs Monate auf dem alten Arbeitsplatz. Während der Untersuchungshaft gibt es trockenes Brot, morgens braunes Wasser statt Tee, mittags und abends Kürbissuppe, ab und an zwei Stückchen Keks. Den Männern ist freigestellt, ob sie arbeiten. Einen Tag geht Wilhelm Lederer arbeiten. Für die schwere Arbeit wird er mit ein paar zusätzlichen Bissen von dem Fraß entlohnt, den die Häftlinge täglich vorgesetzt bekommen. Im Gefängnis wird er belehrt, dass rumänische Häftlinge in jenen Jahren eine Lebenserwartung von durchschnittlich 15 Jahren haben. Die meisten erkranken an Magen- oder Darmkrebs. Während der Haft bricht im Frauentrakt die Krätze aus, im Männertrakt plagen Läuse die Häftlinge. In einem etwa 30 Quadratme-
ter großen Raum sind bis zu 40 Mann in drei übereinander angeordneten Bettreihen untergebracht. Wer unter der rund um die Uhr eingeschalteten Neonröhre liegt, muss aufpassen, dass er sich nicht versengt. Die zweite Flucht erfolgt auf demselben, jetzt schon bekannten Weg, allerdings zu dritt. Dieses Mal wartet ein Bekannter auf die Flüchtlinge. Er soll sie an die serbische Grenze bei Móráhalom fahren. Doch der alte Herr erleidet eine Herzattacke, das Auto landet im Graben. Um den Bekannten nicht zusätzlich in Schwierigkeiten zu bringen, marschieren die drei durch ein Moorgebiet in Sicht der Straße in Richtung serbische Grenze. Nach einem Marsch von etwa 30 Kilometern sind sie in Grenznähe. Doch sie haben Pech: Grenzer entdecken sie etwa 400 Meter vor der Grenze. Es geht zurück: Sie treffen auf beiden Seiten der rumänisch-ungarischen Grenze bei Borş altbekannte Gesichter. Auf der ungarischen Seite gibt es wieder Kaffee und etwas zu essen, auf der rumänischen die schon beschriebenen Prügel. Doch vor der Auslieferung wollten die Ungarn die drei auch noch verurteilen und ins Gefängnis stecken. Das können die Festgenommenen mit der Androhung eines Hungerstreiks abwenden. Im August 1988 folgt der dritte Fluchtversuch. Erika Lederer liegt im Krankenhaus und bekommt Besuch. Schwägerin Viorica, die Frau ihres Bruders, darf das Krankenhaus nicht betreten und gibt ihr von der Straße aus zu verstehen, dass sie und ihr Mann flüchten wollen. Erika Lederer setzt alles daran, dass sie das Krankenhaus verlassen darf. Diesmal machen sie sich zu viert auf den Weg nach Großwardein. Auf dem bekannten Weg geht es zur ungarischen Grenze. Trotzdem: Dieses Mal haben sie Schwierigkeiten, nach Ungarn zu kommen. Sie gehen die halbe Nacht im Kreis, denn die Rumänen haben die Maisreihen kreisförmig gesät, um Grenzgänger zu irritieren. Gegen 4 Uhr übernimmt schließlich Erikas Bruder das Kommando von ihrem Mann. Sie orientieren sich anhand eines Straßenschildes, erreichen die Grenze, durchschneiden den Stacheldraht und sind in Ungarn. Auch dieses Mal entdecken ungarische Grenzer sie. Doch es ist schon die Zeit des Tauwetters angebrochen, die Ungarn schicken keine Flüchtlinge mehr nach Rumänien zurück. Über ein Sammellager in Debreczin gelangen sie nach Budapest. Sie bekommen sogar Arbeit in einer Textilfabrik. Sie verfolgen die Riesendemonstrationen, die Exilrumänen in Budapest gegen das kommunistische Regime in Rumänien organisieren. Als sie endlich die provisorischen Pässe von der deutschen Botschaft in Händen halten, fehlt ihnen die Ausreisegenehmigung der Ungarn. Darauf werden sie noch zwei Monate lang warten. Anfang Dezember 1988 sind sie in Nürnberg. Erika und Wilhelm Lederer finden ein neues Zuhause in der Nähe von Heilbronn, Viorica und Reinhold Herman in Eppingen bei Stuttgart.