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Unbeschreibliche Freude

A.K. aus Kronstadt:

Nach der Niederwerfung Deutschlands begann sich das kommunistische Regime unter Anwendung von viel Gewalt einzurichten. Diese äußerten sich in der Verschleppung vieler Menschen aus allen Nationen. Wir Frauen mussten öffentliche Gebäude sauberhalten, und hier wurde auch vor 70-jährigen nicht haltgemacht. Nur mit viel Geld konnte man sich loskaufen. Von der Kanzel konnten wir dann, nach mehreren Monaten, die ersten Nachrichten von unserer verschleppten Jugend aus den russischen Lagern erfahren. Ein Alptraum löste sich auf, denn die unglaublichsten Gerüchte kursierten. Im Sommer 1945 kamen viele unserer technischen Spezialisten aus den Lagern zurück in die Heimat, um hier von der KP eingesetzt zu werden und lebenswichtige Betriebe wieder in Gang zu bringen. In meinem großen Bekanntenkreis unter den Ungarn ließ die anfängliche Begeisterung für das neue Regime sehr schnell wieder nach. Auch viele Rumänen machten keinen Hehl aus ihrem Glauben an die baldige Rückkehr der Westmächte zusammen mit den Deutschen. Die Bahnlinien um Kronstadt waren verstopft mit Güterzügen, voll beladen mit Beutegut, andere wieder mit deutschen Gefangenen. Von einem dieser Züge wurde eine persönliche Nachricht meiner Schwester, die mit ihrer Familie in den Westen geflohen war, für mich abgeworfen. Ein kleiner Zettel wurde mir gebracht; da beschloss ich, sie aufzusuchen. Still und heimlich erkundigte ich mich, wie und wo ich über die Grenzen gehen konnte. Reiseroute, Adressen lernte ich auswendig, um keine verdächtigen Papiere bei mir zu haben. Devisen konnte man sehr wenig und nur auf Umwegen erhalten. Es hieß, mit dem Erlös eines großen Stücks Speck gelange man durch Ungarn. Ein Vetter, der zu seiner Frau wollte, schloss sich mir an. Männer wurden verfolgt, es war ein Wagnis. Im August 1945 machten wir uns auf, fuhren trotz Verbot bis zur Grenze. Hier kehrten wir in eine Spelunke ein, um die Nacht abzuwarten. Ein junger Honvéd (Soldat) gesellte sich zu uns. Im Lokal spielte ein Zigeuner seine Weise, er entpuppte sich als Führer. Für viel Geld führte er uns auf Fußpfaden über die Grenze. Diesmal kam der schöne Mondschein ungelegen. Jeder von uns trug 40 Kilogramm Gepäck; der Zigeuner lief so rasch, dass wir ihm kaum folgen konnten. Der Morgen graute; er sagte, wir seien am Ziel. Müde waren wir, man ging sehr schwer im weichen sandigen Boden, Hügel auf und ab, durch Gestrüpp und Hecken. Ohne Angst vor den Grenzposten wäre es eine sehr romantische Tour gewesen. Als erstes ruhten wir uns aus im dichten Wald, holten uns Melonen vom Feld und erlabten uns daran. Hier erwarteten wir die Nacht. Gut

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ausgeruht, wanderten wir landeinwärts, nie auf Hauptstraßen und holten in Geschäften Erkundigungen ein. Unser kleiner Honvéd, glücklich, in seinem Land zu sein, schritt die Straße ab, als wir noch im Gebüsch ruhten. Eilig kam er zu uns zurück und flüsterte, es kämen Soldaten, er sei gesehen worden. Schnell nahmen wir unser Gepäck und huschten tiefer in den Wald. Bange Minuten vergingen, und wir hörten, wie die ungarischen Soldaten mit ihm verhandelten und nach einer Zeit mit ihm weiterfuhren. Obwohl ein Gepäckstück liegen geblieben war, hatte er uns nicht verraten. Wir eilten, so rasch es ging, um in Sicherheit zu kommen. Die Gehöfte, die wir streiften, waren menschenleer, Kinder, schlecht gekleidet, gaben uns Auskunft. In der Dämmerung schlichen wir uns an das kleine Bahnhofsgebäude, das einsam in der Gegend stand. Der Bahnwärter, mit dem wir uns rasch anfreundeten, meinte, wir seien außer Gefahr, hieß uns im Warteraum auf den Morgen warten, weil nur einmal am Tag ein Zug in die Stadt fuhr. Ich besaß etwas Geld. In der Nacht wurde ich aus dem Schlaf geweckt. Was sah ich: Zwei junge Soldaten, oh, Schreck. Er fragte nach meiner Herkunft. Verwirrt und schlaftrunken stammelte ich etwas; die Antwort kam aus der anderen Ecke; ich kannte ja nicht die benachbarte Ortschaft. Die Soldaten waren damit zufrieden und unterhielten sich noch lange mit dem Wärter. Im stillen überlegten wir, ob wir hier bleiben oder in den nahen Wald gehen sollten. Wir verhielten uns ganz ruhig. Das war unser Glück. In der Morgendämmerung patrouillierten die Soldaten und verschwanden. Die Eisenbahn hörte man schon von weitem herankommen. Inzwischen füllte sich der Warteraum mit Arbeitern. Froh, die Fahrkarte zu haben, drängten wir uns in den überfüllten Zug. Eine Gepäckkontrolle kam; ich war sehr ruhig und öffnete das Gepäck, ohne zu murren. Die Kontrolle winkte ab und sah viel gründlicher bei dem Nachbar nach. Gesucht wurde nach Schnaps und Lebensmitteln. Auf der ganzen Fahrt kam mir kein Wort über die Lippen, man hätte mich sofort als Flüchtling erkannt. In der großen Stadt angekommen, drängten wir uns mit den vielen anderen durch die Sperre und kamen gut durch. Die Beamten waren gutmütig, man fühlte direkt, dass sie wussten, wen sie vor sich hatten, man wurde förmlich zum Weitergehen geschoben. Wir verschwanden in einem großen Hof, wo ich meinen Begleiter beim Gepäck zurückließ. Ich musste nun zusehen, wie ich zu Geld kam, und hatte Pech. Vor einem Tag erfolgte die Währungsreform. Meine schönen Stoffe und Wollsachen gefielen sehr, nur Geld war überall knapp. Mit Müh und Not bekam ich den Betrag zusammen. Die Fahrt bis Budapest verlief reibungslos, wir stiegen in einem Vorortbahnhof ab, um der Sperre zu entgehen, und fuhren mit der Elektrischen (Straßenbahn) in das Stadtinnere. In der Straßenbahn wurde laut geflucht über die neuen Verhältnisse. Alle waren aufgeregt und unzufrieden. Durch Bekannte kam ich wieder zu Geld; selbst am Bankschalter, wo ich dieses eintauschte, musste ich

mich nicht ausweisen. Gut ausgeruht und gesättigt machten wir uns mit guten Ratschlägen wieder auf den Weg. Wir benutzten Arbeiterzüge. Die Waggons hatten keine Fenster; ein Glück, dass es so warm war. Die Bevölkerung war sehr schlecht gekleidet. Der Schaffner war sehr höflich und verlangte nur die Fahrkarte. Am Bestimmungsort angekommen, fanden wir auch bald das Haus, wo wir weitere Verhaltungsmaßregeln bekommen sollten. Bepackt und zaghaft ging ich allein in den Hof. Entsetzt trat ich zurück. Was sah ich: Männer am Tisch sitzend und Karten spielend, darunter auch Gendarmen. Ein Bacsi (Onkelchen, älterer Herr) erhob sich, winkte, hieß mich freundlich grüßend nähertreten. Wir gingen in die Küche. Als er hörte, dass ich Peter, meinen Vetter, auf der Straße habe stehen lassen, holte er ihn herein. Eine warme Suppe wurde uns vorgesetzt, die wir dankend und mit Appetit aßen. Um Mitternacht wanderten wir nach seinen Angaben weiter; vorher tauschten wir Geld bei ihm, um drüben mit der Bahn bis nach Wien zu kommen. In strömendem Regen und ohne besondere Vorfälle gelang der Grenzübertritt. In Wien angekommen, suchte ich Verwandte auf. Mein Reisegefährte war hier am Ziel. Ich hielt mich drei Tage hier auf, machte mir die Reiseroute zurecht. Über die bewachten Brücken ging es nicht, ich musste sie umgehen. Diesmal ging ich am hellen Tag über die Demarkationslinie. Dann mit der Bahn bis nach Salzburg. Eine Frau, die ich um Auskunft bat, nahm mich mit in ihre Wohnung und versprach, mir nächsten Morgen weiterzuhelfen. Das tat sie in der Weise, dass sie mich vier Stunden lang zur Grenze begleitete und mein Gepäck tragen half. In einer kleinen Ortschaft trennten wir uns. Ich erkundigte mich immer nur bei arbeitenden Menschen, die auf dem Feld schafften, so auch hier. Ich blieb bis zum Abend bei ihnen und half fleißig mit. Abends fuhr ich mit ihnen in die Gemeinde, ein gutes Stück der Grenze näher. Nach ihren Angaben durfte ich auch hier nur um Mitternacht weitergehen. Dies war meine schwerste Nacht, auf schmalen Pfaden durch Dickicht, Moor und Bäche, oft ganz unheimlich, erschöpfend. Zucker, den ich zu mir nahm, gab mir wieder Kraft. Ich stand oft vor Übermüdung still, man hörte auf der Autobahn das regelmäßige Marschieren der Grenzwache, die fürchtete ich, ihre deutsche Genauigkeit. Am Morgen kam mir ein junges Mädchen entgegen, das zur Kirche eilte; es half mir sofort, nahm mir Gepäck ab, brachte mich zur Bahn und löste mir die Fahrkarte. Und so dachten die umstehenden Grenzer, ich sei aus dieser Gegend. Beglückt und erschöpft vor Seligkeit saß ich im überfüllten Zug. Meine Angehörigen fühlten, dass ich eines Tages erscheinen würde, aber dass es so rasch ging, hatten sie nicht erwertet. Diese Freude muss man erleben, sie ist unbeschreiblich.

Der Bericht ist in redigierter Form dem Band „Dokumentation der Vertreibung aus Ost-Mitteleuropa III. Das Schicksal der Deutschen in Rumänien“ entnommen.

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