9 minute read
ichtungslagerFluchtende im Vern
Fluchtende im Vernichtungslager
Von Anni Janzer-Kurzhals
Advertisement
Am 18. August 1944 war mein 16. Geburtstag. Mit bedrückter Stimmung vergingen fünf Tage. Man konnte förmlich spüren, dass sich etwas zusammenbraute, denn die Nachrichtensender berichteten vom Rückzug der deutschen Truppen an allen Fronten. Plötzlich läuteten die Glocken, wir stürzten auf die Straße. Aus den Häusern kamen erschrockene Menschen, die fragten: „Wo brennt es?“ Es war der 23. August, und das Läuten bedeutete die Kapitulation Rumäniens. Das war ein Schock für mich, denn ich hatte so sehr an den Sieg und an die Sache geglaubt. Verzweifelt nahm ich mein Fahrrad, fuhr in den Weingarten, setzte mich ins Gras und starrte vor mich hin. Einen klaren Gedanken konnte ich nicht fassen. Ständig musste ich an die durch deutsche Sender verbreiteten Gräueltaten der Russen denken. Was aber dann in Wirklichkeit auf uns zukam, übertraf meine schlimmsten Befürchtungen. Am Morgen hörten wir, die Gendarmen hätten Lehrer Bors in der Nacht abgeholt. Das war das Signal für die Männer, sich in den Maisfeldern zu verstecken. In der nächsten Nacht fragten die Gendarmen nach meinem Vater. Wir, zu Hause, schliefen in den Kleidern. Tagsüber verbrannten wir alle deutschen Zeitschriften im Backofen. Am Tag darauf kamen die Gendarmen erneut. Die Männer blieben im Versteck. Dann herrschte einige Tage Ruhe. Unerwartet tauchten deutsche Truppen auf; sie kamen aus Griechenland und befanden sich auf dem Rückzug. Man hörte Geschützdonner. Die deutschen Offiziere, rieten zur Flucht, da der Russe nicht aufzuhalten sei und alle arbeitsfähigen Männer in die UdSSR verschleppen würden. Im Dorf herrschte Ratlosigkeit. Die meisten Leute begannen zu packen; an wirkliches Weggehen, für immer, dachten sie dabei nicht. Schweren Herzens wurden die Wagen bepackt und gedeckt. Unsere Nachbarin bat meinen Vater, ihren Wagen doch an unseren Traktor anzuhängen. Sie hatten keine Pferde mehr, denn ihr Mann wurde vom rumänischen Militär gezwungen, mit Pferd und Wagen Munition zu transportieren. Während des Mittagläutens verließen wir das Dorf. Wir fuhren in Kolonne in Richtung Hatzfeld. Das erste Dorf auf jugoslawischem Gebiet war Zerne. Dort übernachteten wir. Es kamen Gerüchte auf, dass Partisanen die Flüchtlingskolonnen überfielen, ausraubten und die Männer ermordeten. Daraufhin kehrten einige Kleinjetschaer um. Als wir den Bruder meiner Mutter aus Gertjanosch trafen, beschlossen wir, beisammen zu bleiben, um notfalls einander zu helfen. Der Treck fuhr weiter; da brach die Achse an Onkels Traktor. Wir verloren Zeit,
fuhren aber bis Tschestereg weiter und übernachteten auf dem Hof des Cousins meines Engels-Großvaters. Am Morgen kamen Flüchtlinge aus allen Richtungen, und deutsche Truppen besetzten die Straßen. Es gab für die Flüchtlinge die widersprüchlichsten Befehle.
Wir kamen durch deutsche Orte des jugoslawischen Banats und dachten, auch diese würden evakuiert. Doch es war schon zu spät. In der Ferne hörte man Kanonendonner. Es regnete in Strömen. Die lange Flüchtlingskolonne kam nur schwer auf den aufgeweichten Straßen voran. Es war Sonntag. Unsere Familie beschloss, sich erst Montag in die Kolonne einzureihen. Am Montag nieselte es noch immer, trotzdem waren alle Wagen abfahrtbereit. Da ritt ein deutscher Soldat in entgegensetzter Richtung an uns vorbei. Mir fiel auf, dass er Opanken (Bundschuhe) anstatt Stiefel trug. Später wurde mir klar, dass es ein Späher, ein Partisan, war. Unser Fahrzeug war das dritte in der Kolonne. Plötzlich begann eine wilde Schießerei aus den Maisfeldern, die die Landstraße säumten. Gewehrschwenkende Gestalten stürzten hervor. Die Plünderer hielten alle Wagen und Traktoren an, rissen die Planen von den Wagen, nahmen und plünderten die Wagen aus oder stampften unsere Habseligkeiten in den Schlamm. Auf der Schmalspurbahn, die parallel zur Straße verlief, erschien eine Lokomotive mit Viehwaggons und hielt vor uns an. Wir wurden gezwungen, die von den Partisanen ausgesuchten Sachen in die Waggons zu tragen. Dann eine Schießerei! Wir ließen uns in den Bahngraben fallen, die Partisanen eilten dem Zug nach, der auch schon davonfuhr. Vorerst hatte uns deutsches Militär gerettet. Die Wagen wurden an die noch funktionsfähigen Traktoren angehängt, und weiter ging es - das Militär voraus, wir hinterher. Vor jedem serbischen Dorf mussten wir halten, da es immer Schießereien gab. Trotz des unaufhörlichen Regens fuhren wir den ganzen Tag hindurch und waren am Abend in Sankt Georgen an der Bega. Dort führte die Landstraße an einer von Partisanen besetzten Strecke vorbei. Also hieß es, über Feldwege weiterzufahren. Die Traktoren kamen nicht durch. Auch die Wagen versanken im Morast. Wir saßen auf dem Wagen eines Billeders, die Männer gingen zu Fuß. Regen, Dunkelheit und das Einschlagen der Geschosse waren unsere Wegbegleiter. Die Angst ließ keinen Schlaf zu. Als der Morgen graute, war unser Schreck groß: Wir hatten keine Beschützer mehr. Nur auf einem Wagen vor uns waren noch 7 Soldaten mit einem Verwundeten. Als wir uns dem nächsten Dorf näherten, banden sie ein weißes Tuch an einen Gewehrlauf und hoben diesen in die Höhe, als Zeichen, dass sie bereit waren, sich zu ergeben. Daraufhin kamen scharenweise, Gewehre schwenkende Partisanen auf uns zugelaufen, trieben uns zusammen, warfen alles von den Wagen herunter, und wir dachten, nun hätte das letzte Stündlein für uns geschlagen.
Verängstigt und durchnässt, wie wir waren, wurden wir in eine Schule eingesperrt. Man beschimpfte und bedrohte uns. Das Argument, dass wir vor den Kriegsereignissen geflohen sind und selbst gar keine Waffen besaßen, ließen sie nicht gelten. Von den Kleidungsstücken, die sie nicht mochten und durcheinander von allen Wagen auf einen Haufen warfen, bekamen wir einige zugeteilt. Ob sie passten oder nicht, sie waren wenigstens trocken. Die Deutschen der Gemeinde Elemer versorgten uns mit Lebensmitteln. Inzwischen war auch die russische Armee eingetroffen. Dann hieß es: „Fertig zum Abtransport“. Deutsche Männer aus dem Dorf fuhren mit Pferdegespannen vor, Alte und Kinder durften aufsitzen, die anderen mussten zu Fuß gehen. Betrunkene Partisanen fuhren vorbei und schlugen mit der Peitsche auf die Vorübergehenden. Mir kam der Weg wie eine Ewigkeit vor. Die Nacht war schon angebrochen, als wir das Vernichtungslager Großbetschkerek erreichten: eine Mühle, umgeben mit Stacheldraht und tiefem Graben. Am Tor wurden die Familien getrennt, die Männer rechts, die Frauen links davon. Die Frauen hat man im Erdgeschoss, die Männer im Obergeschoss untergebracht. Überall waren Gitter und eisenbeschlagene Blechläden an Fenstern und Türen. Bretterpritschen wurden uns als Schlaflager zugewiesen, aber keine Decken, und es war schon Oktober und sehr kalt. Im Raum standen einige Eimer mit Wasser und Schöpflöffel zum Trinken. Andere Eimer, die im selben Raum standen, dienten als Abort. Diese liefen bald über und verbreiteten Gestank. Wir waren mehr als 200 Frauen und Kinder. Die Kinder weinten und schrieen, sie hatten Hunger und wollten nach Hause. Wir wollten nichts als schlafen, doch da brach draußen die Hölle los. Ein Lautsprecher plärrte mit voller Lautstärke, dazwischen dumpfe Hiebe, lautes Schreien äußerst gequälter Menschen, das immer leiser wurde, in Wimmern überging und erstarrte. So ging das Nacht für Nacht; immer wurde für neuen Nachschub an Todeskandidaten gesorgt. Ich hielt die Augen geschlossen, die Zähne schlugen mir wie im Fieber aufeinander, ich bohrte die Finger in die Ohren und meinte, wahnsinnig zu werden, nur weinen konnte ich nicht mehr. Ich betete in meiner Verzweiflung, aber es kam keine Hilfe, um die Todgeweihten zu befreien. Wir sahen bereits alle wie Gespenster aus. Morgens wurden wir in den Hof getrieben, dann brachten sie ein paar Männer, blutend, voll blauer Flecken, die sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Einer hatte den Verstand verloren. Er rief immerzu: „Anna, wo bist du?“ Diese Vorführung war Absicht der Sadisten. Morgens mussten die Männer zur Arbeit und bekamen abends eine Suppe ohne Brot. Frauen und Kinder erhielten täglich einen Gemüseeintopf und ein Stück Brot, man sagte, es sei vom serbischen Roten Kreuz. Ich hatte immer gedacht, Partisanen seien Vaterlandsverteidiger, Idealisten, die ihr Leben für ihr Volk einsetzten. Freiheitskämpfer sahen so nicht aus. Es war ein arbeitsscheues Raub- und Mordgesindel, das aus der Vergangenheit
keine Lehre gezogen hatte und weiter mordete - jetzt die eigenen Stammesbrüder. Wenn ich heute nach 47 Jahren die Augen schließe und in meiner Erinnerung zurückgehe, sehe ich nur zwei der Partisanen, die noch menschliche Regungen besaßen: ein Mann der wegsah, wenn eine der Frauen auf dem Weg, um Wasser zu holen, einem der Männer, die von der Arbeit kamen, ihr vom Mund abgespartes Brot zusteckte und eine Frau, die einem Säugling täglich Milch brachte. Der Lagerkommandant, der schmutzigste und zerlumpteste der Horde, kam plötzlich in deutscher Mannschaftsuniform mit roter Binde. Es war der Henker von Großbetschkerek, eine Bestie in Menschengestalt, und auf ihn trafen die Worte Friedrich Schillers zu:
„... jedoch das schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.“
Meine Großmutter, eine resolute Frau, hatte ein Knäuel Hanfbindegarn in ihrer Tasche. Nach der ersten schrecklichen Nacht schnitt sie jedem ein Stück davon ab, lang genug, um sich damit das Leben nehmen zu können und sagte: „Das ist das Letzte, was ich euch geben kann.“ Wieder brach eine Nacht voller Schrecken an. Partisanen stürzten fluchend in den Raum und schrieen: „Alles Mädli raus!“. Weinen, Schreie, Gezerre und Schlägerei setzten ein und endeten mit dem Abführen einiger jungen Frauen. An Schlafen war nicht zu denken. Langsam verrann die Zeit, alle lagen wie gelähmt da. Am Morgen, welch ein Wunder, sie kamen zurück, sie wurden nicht vergewaltigt, mussten aber das Gebäude saubermachen und alles sei voller Blut gewesen. Das Wasser mussten sie aus einem Brunnen der nächsten Straße herbeischaffen. Am Weg dorthin lagen mit Draht gefesselte Männerleichen. In jener Nacht hatten sie die deutschen Männer aus dem Dorf erschossen. Tag und Nacht brannte das Licht. Meine Großmutter musste nachts die Toilette, d.h. den Eimer, aufsuchen, da schaute der Posten gerade durchs Guckloch. Er kam herein, schrie: „Du, Spion!“ und schlug ihr den Revolver ins Gesicht. Als das Tor aufging, brachten zwei Männer einen dritten, der halbtot zwischen ihnen hing, sie ließen ihn fallen, traten mit den Stiefeln auf seine Finger und trampelten auf ihm herum. Zuletzt mussten 70 Männer ihr eigenes Grab schaufeln. Wir erfuhren von einem, dem die Flucht gelang, dass keine Hoffnung bestehen würde, unsere Angehörigen je wiederzusehen. Man brachte uns, die Frauen und die Kinder, nach all diesen Erlebnissen zum Bahnhof in einen Zug einer Schmalspurbahn. Der Zug hielt in jedem Ort. Mit wüsten Beschimpfungen durchstreifte das Gesindel die Waggons, doch enttäuscht, dass nichts mehr zu holen war, sprangen sie ab. Am 17. Oktober 1944 erreichten wir die rumänische Grenze. Seelisch und körperlich am Ende, taumelten wir dahin.
Im Grenzstädtchen Hatzfeld brachte man uns ins einstige Bauernheim. Ein Grenzsoldat ließ uns Stroh vom Nachbarhof holen. Endlich hätten wir schlafen können, doch grauenhafte Träume ließen uns immer wieder aufschrecken. Die Nachricht, dass Flüchtlinge eingetroffen waren, verbreitete sich rasch im Ort. Ich will hier die Hilfsbereitschaft der Hatzfelder erwähnen, denn ganze Nachbarschaften kochten für uns und brachten uns zu essen. Später, als wir uns etwas erholt hatten, kochte jeweils eine Gruppe von Flüchtlingsfrauen. Die Hatzfelder lieferten uns dazu die Lebensmittel. Die Wachposten wurden bestochen und ließen dies zu. Sie schützten uns sogar vor betrunkenen russischen Soldaten. Die Wachposten, junge Männer aus dem rumänischen Altreich, die zwar kaum lesen und schreiben konnten, hassten uns aber nicht. Die Tage vergingen nur langsam, und es änderte sich nichts. Wir saßen wie die Maus in der Falle. Die Menschen wurden immer gleichgültiger, stumpfsinniger und mutloser, die Zustände immer haarsträubender, die Durchfallerkrankungen mehrten sich, und um das Ausbrechen einer Seuche zu verhindern, wurde nach zwei Monaten das Lager in Hatzfeld aufgelöst. Inzwischen war Weihnachten geworden - die traurigsten Weihnachten meines Lebens. Das war noch nicht alles. Unsere Familie war sowohl von den Verschleppungen nach Russland als auch in den Baragan betroffen, was aber zu einem anderen Kapitel gehört. Ich weiß nicht, ob mein nur noch kurz bemessenes Leben dazu ausreichen wird, das Leid, das ich in 40 Jahren dulden musste, zu vergessen.
Leicht gekürzt übernommen aus „Heimatbuch Kleinjetscha“ mit freundlicher Genehmigung von Georg Schmidt.