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Mit Trecker und Anhänger nach Serbien
Von Alexander Oprendek
Er unterschied sich deutlich von den anderen. Wir studierten beide an der Technischen Universität Temeswar. Er hob sich deutlich von seinen Kommilitonen ab, fiel nicht so sehr durch seine Leistungen auf, vielmehr durch sein Aussehen und sein Benehmen. Er hatte eine untersetzte Gestalt: Ein großer Oberkörper mit langen Armen und großen Händen wurde von zu kurz geratenen Beinen getragen. Und dazu kamen noch enorme Füße. Er war gewissermaßen ein Bigfoot. Er ging etwas nach vorne gebeugt, seine Arme reichten fast bis zu den Knien. Beim Gehen machte er lange, seiner Statur nicht gemäß große Schritte, setzte die ganze Sohle auf einmal auf und schob so seinen Körper mit raumgreifenden Schritten voran. Er war schon von weitem zu erkennen. Auch sein Gesicht hatte etwas Besonderes, eine fliehende, niedere Stirn, eine nach vorne geschobene Nase und ein hervorstehendes Kinn. Er sprach sehr leise, lispelte und spitzte dabei den Mund. Seine Sprache hörte sich geheimnisvoll, vertraulich, ja gar konspirativ an. Mit der Rasur hatte er so seine Probleme. Auch frisch rasiert, blieb hie und da ein Bartbüschel unbeachtet stehen. Gheorghe Zăgănescu war das, was man einen Sonderling nennt, den die Kommilitonen häufig aufzogen. Lästerzungen nannten ihn den lebenden Beweis für das Bindeglied, das Darwin zu seiner Theorie der Evolution der Hominiden noch fehlte. Gefrotzelt wegen seines Ganges, meinte er nur lapidar, diese Gangart würde den Schuhabsatz schonen. Gheorghe Zăgănescu, genannt Gigel oder Gicu, war ein Unikum und nicht mit den üblichen Maßstäben zu messen. Seine Eltern waren geschieden, und er blieb in der Obhut seines Onkels, der sich aber auch kaum um ihn kümmerte. So war Gicu, der sich gerne mit dem Namen Sergiu, dem Kampfnamen eines Agenten aus einem Kriegsfilm, ansprechen ließ, nicht nur schlecht bei Kasse, sondern auch schlecht angezogen. Er hatte kein Geld für das Essen in der Mensa und konnte auch nicht die Logiskosten für das Studentenheim bezahlen. Aber er schlug sich irgendwie durch. Der Pförtner des Studentenheims wurde sein persönlicher Feind, da dieser immer wieder zu verhindern versuchte, dass sich Gicu ins Studentenheim zur Übernachtung bei einem Kollegen einschlich. Und in der Studentenkantine fand er das Mitgefühl des Personals, so dass er seinen Heißhunger stillen konnte. Ich hatte zu Sergiu ein gutes Verhältnis; er war nicht unsympathisch und hob sich wohltuend von vielen anderen, blassen und uninteressanten Figuren des Institutes ab. Wenn auch seine Eigenbröteleien nicht zu übersehen waren, so machte ich mich nicht über ihn lustig, und er schätzte das, weil ich mich damit
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von vielen unserer Mitstudenten abhob. Er besuchte mich des öfteren in meiner Studentenbude, übernachtete da auch manchmal und erzählte mir von seinen geheimen Wünschen und Gedanken. Er beherrschte leidlich die französische Sprache, schätzte die französische Literatur, träumte von Paris und Kriegsspielzeug und verehrte das weibliche Geschlecht. Wir blieben auch nach dem Studium in Verbindung. Er besuchte mich, und wir tauschten wie schon auch früher Gedanken über die Unzulänglichkeiten unseres Daseins und der politischen Orientierung des Landes aus. Wir machten uns auch Gedanken, Rumänien zu verlassen, ich wollte nach Deutschland, er nach Frankreich. Aber außer einem riskanten Fluchtversuch, der möglicherweise unabsehbare Folgen haben konnte, zeichnete sich da nichts ab. Eines Tages kam er vorbei und berichtete, er sei jetzt Chef der Technik in einer Maschinen- und Traktorenstation in Fienenfeld an der jugoslawischen Grenze. Er meinte humorvoll: „Ein strategischer Ort und ein Schritt näher zu Frankreich.“ Meine Mutter lebte 1961 noch in meinem Geburtsort Tschakowa und besuchte mich gelegentlich in Temeswar, wo ich arbeitete. Unangemeldet, außerplanmäßig und etwas irritiert erschien sie eines Tages und berichtete, dass Gicu in der vergangenen Nacht bei ihr mit einem Traktor nebst beladenem Anhänger erschienen sei und gebeten habe, die Ladung, bestehend aus viel Papier in Form von Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Heften und Notizen, auf dem Dachboden ihres Hauses lagern zu dürfen. Wir konnten uns nicht vorstellen, was das zu bedeuten hat und hofften auf eine baldige Klärung durch Gigel. Noch unklarer wurde die Lage jedoch, als nach einigen Wochen zwei Offiziere in der Uniform des Grenzschutzes in meiner Wohnung in Temeswar erschienen, um mich über Zăgănescu und meinen Umgang mit ihm zu befragen. Der Grund des Besuches wurde mir nicht mitgeteilt, und Sergiu tauchte auch nicht auf. Er war auch nicht zu erreichen; gemeinsame Bekannte wussten ebenfall nichts. Man munkelte von einem Fluchtversuch. Etwa nach einem Jahr klärte sich alles auf. Heidi, die Cousine meiner Schwägerin in Hamburg, hatte Post aus Frankreich erhalten. Ein gewisser Sergiu aus Paris lässt grüßen. Jetzt wussten wir es: Sergiu war 1961 die Flucht geglückt; er war in Paris, am Ort seiner heimlichen Wünsche, angelangt. Nach mehreren Jahren, als ich schon nach Deutschland übersiedelt war, schilderte er mir sein Abenteuer in Paris. An seinem Arbeitsplatz in Fienenfeld war er nach kurzer Zeit allen bekannt. Er pflegte seine Treckerfahrer auf den Feldern bei der Arbeit zu inspizieren; dorthin fuhr er mit seinem Traktor samt Anhänger. Alle hatten sich daran gewöhnt, dass Sergiu seine Pflicht erfüllte und täglich entlang der Grenze auf und ab fuhr. Dann kam der Tag der Flucht. Auf einer seiner Inspektionsfahrten mitten am Tag bog Gicu zwischen zwei Wachtürmen vom Fahrweg ab und überfuhr die
Grenze. Nach 50 Metern wendete er, nahm seinen Rucksack und sprang vom Trecker und ließ ihn im ersten Gang führerlos geradeaus zurück nach Rumänien tuckern. Gicu verschwand im Gehölz. Das alles war so verblüffend schnell und unerwartet abgelaufen, dass der bestürzte Grenzschutz erst allmählich begriff, was geschehen war und vor Verwirrung nicht rechtzeitig eingriff. Die jugoslawischen Grenzschützer bemerkten erst einmal gar nichts. Später griffen Soldaten ihn doch noch auf. Eine Zeitlang wurde er auf der Polizeistation festgehalten, um später in den jugoslawischen Teil von Triest überführt zu werden. Es sah so aus, als wüssten die Serben nicht recht, was sie mit dem ausweislosen Flüchtling anfangen sollten; oder sie hatten viel Verständnis für ihn, jedenfalls deutete man ihm an, dass die Türen der Anstalt nicht immer verschlossen und bewacht seien. Weil Gicu tatenlos blieb, sagte man ihm offen, er habe wohl nicht ganz verstanden, weswegen er in die offene internationale Stadt Triest gebracht worden sei. Wenn er nicht schleunigst verschwinde, werde man ihn an Rumänien ausliefern. Jetzt wurde er hellwach und verschwand sofort aus der Anstalt. Und so erfüllte sich schließlich sein Traum, und er ging nach Paris. Er wohnte im 15. Arrondissement, 3. Rue Henry Duchéne, in einem Patrizierhaus im oberen Stockwerk. Weil er bei meinem Besuch nicht zu Hause war, gab ich der Concierge, der Pförtnerin und Betreuerin des Hauses, meine Visitenkarte mit der Rufnummer meines Hotels. Gicu rief mich an, und ich lud ihn ein in das Vier-SterneRestaurant Sergent Rekruteur auf der Seine-Insel Ile de la Cité. Ich war gespannt auf das Aussehen von Gicu. Wir trafen uns in der Nähe des Restaurants und umarmten uns herzlich. Er hatte sich nicht wesentlich verändert, das Haar nun schütterer, ausgedehnte Weisheitsecken, war frisch rasiert mit Büschelinseln und elegant armselig gekleidet. Wir schlenderten den Seinequai entlang in Richtung Restaurant, und Gicu erzählte mir die Geschichte seiner Flucht. Er arbeitete in einer französisch-rumänischen Kultureinrichtung und frönte noch immer dem alten Hobby: Er sammelte Zeitschriften und alles, was Papier ist. Er habe in seiner Wohnung eine gewaltige Sammlung seiner Zeitschriften gehortet. An den meisten Stellen sind diese bis zur Decke gestapelt. Deswegen gebe es keine Bewegungsfreiheit mehr in der Wohnung; er übernachtete daher im Büro. Er erkundigte sich, ob sein Archiv auf dem Dachboden bei meiner Mutter noch existiere. Ich beruhigte ihn, dass ihm nach wie vor alles zur Verfügung gehalten werde, was ihn sichtlich erleichterte. Ich fragte nach Zukunftsplänen. „Pläne“, meinte er nachdenklich, „die sind doch nutzlos.“ Jeder habe doch einen gemäß seinen Fähigkeiten vorgezeichneten Weg. Die Eigenschaften und Befähigungen, die jemand besitze oder sich aneigne, bestimmten dessen zukünftigen Weg. „Du musst dich da gar nicht viel bemühen. Das Leben schiebt dich dahin, wo es dich braucht.“